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BayObLG Beschluss vom 25.10.1994 - 1 ObOWi 446/94 - Richterablehnung im Bußgeldverfahren - Glaubhaftmachung

BayObLG v. 25.10.1994: Richterablehnung im Bußgeldverfahren - Druckausübung gegen schweigenden Betroffenen als Befangenheitsgrund


Das BayObLG (Beschluss vom 25.10.1994 - 1 ObOWi 446/94) hat entschieden:
  1. Teilt ein Rechtsanwalt als Verteidiger die den Ablehnungsantrag begründenden Tatsachen als eigene Wahrnehmung mit, bedarf es für die Zulässigkeit des Antrags grundsätzlich nicht der ausdrücklichen Angabe des Mittels der Glaubhaftmachung.

  2. Ein Richter kann wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn er bei dem zur Sache schweigenden Betroffenen den Eindruck entstehen lässt, er werde wegen seiner bloßen Ähnlichkeit mit der auf dem Radarfoto erkennbaren Person verurteilt, falls er nicht "Ross und Reiter" (dh den Fahrer zur Tatzeit) nenne.

Siehe auch Befangenheitsantrag - Richterablehnung und Stichwörter zum Thema Verkehrsstraf- und OWi-Recht


Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat gegen die Betroffene mit dem in ihrer Abwesenheit verkündeten Urteil vom 21.3.1994 wegen fahrlässigen Überschreitens der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 54 km/h eine Geldbuße von 300 DM festgesetzt und ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Das Urteil ist der Betroffenen am 21.4.1994 zugestellt worden. Da ihre am 25.4.1994 eingelegte Rechtsbeschwerde nicht bis 30.5.1994 begründet worden war, hat das Amtsgericht die Rechtsbeschwerde mit Beschluss vom 28.6.1994 als unzulässig verworfen. Gegen diesen am 1.7.1994 zugestellten Beschluss hat die Betroffene am 8.7.1994 Antrag auf Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts gestellt, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Rechtsbeschwerdebegründungsfrist beantragt und zugleich die Rechtsbeschwerde mit der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründet.

Mit Beschluss vom 28.7.1994 hat das Amtsgericht der Betroffenen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.


II.

1. Das nach § 79 Abs.1 Nr.1 und 2 OWiG statthafte Rechtsmittel ist auch im übrigen zulässig. Zwar durfte das Amtsgericht über das Wiedereinsetzungsgesuch nicht entscheiden (§ 46 Abs.1 StPO, § 46 Abs.1 OWiG). Gleichwohl ist das Rechtsbeschwerdegericht an den die Wiedereinsetzung gewährenden Beschluss des Amtsgerichts für das weitere Verfahren gebunden (BayObLGSt 1980, 36). Demnach ist der Beschluss des Amtsgerichts vom 28.6.1994, durch das die Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen worden war, gegenstandslos geworden.

2. Die Rechtsbeschwerde der Betroffenen rügt, dass bei dem Urteil ein Richter mitgewirkt habe, der wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt worden sei; das Ablehnungsgesuch sei zu Unrecht verworfen worden. Diese ordnungsgemäß erhobene Verfahrensrüge der Verletzung des § 338 Nr.3 StPO, § 79 Abs.3 OWiG hat Erfolg.

Der Begründetheit der auf § 338 Nr.3 StPO gestützten Verfahrensbeschwerde steht nicht entgegen, dass das Ablehnungsgesuch nicht in der Hauptverhandlung vom 21.3.1994, die mit dem Urteil geendet hat, sondern in der früheren - ausgesetzten Hauptverhandlung vom 13.12.1993 gestellt worden ist (BGHSt 31, 15; BayObLG StV 1988, 97).

Der Verteidiger der Betroffenen hat den erkennenden Richter in der Hauptverhandlung vom 13.12.1993 wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt und dies zu Protokoll - nach der Rechtsbeschwerdebegründung - im wesentlichen damit begründet, der abgelehnte Richter habe, obwohl die Betroffene von ihrem Recht, nicht zur Sache auszusagen, Gebrauch gemacht habe, in der Hauptverhandlung geäußert, beim Amtsgericht Ingolstadt bestehe die Gepflogenheit, dass dann, wenn der Betroffene keine Angaben zur Sache macht, das Beweislichtbild aber dem Betroffenen ähnlich ist, der Betroffene nur dann nicht verurteilt wird, wenn er Ross und Reiter nenne.

In der Hauptverhandlung vom 15.12.1993 hat der abgelehnte Richter den Ablehnungsantrag durch Beschluss als unzulässig verworfen mit der Begründung, die im Antrag behaupteten Tatsachen seien nicht glaubhaft gemacht worden (§ 26a Abs.1 Nr.2, § 26 Abs.2 StPO i.V.m. § 46 Abs.1 OWiG). a) Das Ablehnungsgesuch ist zu Unrecht als unzulässig verworfen worden, weil es im vorliegenden Fall keiner ausdrücklichen Glaubhaftmachung bedurfte.

Teilt ein Rechtsanwalt als Verteidiger die den Ablehnungsantrag begründenden Tatsachen als eigene Wahrnehmung mit, bedarf es zur Zulassung des Antrags grundsätzlich nicht der ausdrücklichen Angabe eines Mittels zur Glaubhaftmachung; dies gilt erst recht, wenn sich diese Tatsachen vor den Augen und Ohren des erkennenden Richters ereignet oder dessen Verhalten in der Hauptverhandlung zum Gegenstand haben (vgl. OLG Neustadt MDR 1956, 312; OLG Schleswig- Holstein MDR 1972, 165).

Die von dem Verteidiger der Betroffenen vorgebrachten Ablehnungsgründe beruhten im vorliegenden Fall ersichtlich auf seiner eigenen Wahrnehmung bei der Berufsausübung als Rechtsanwalt. Sie stellten keine bloße Parteibehauptung der Betroffenen dar, sondern sind als Zeugnis eines bei seiner Berufsausübung zur Wahrheit verpflichteten Rechtsanwalts zu werten. Es entspricht zwar der Übung, die Richtigkeit der vorgebrachten Tatsachen "anwaltschaftlich zu versichern"; in dem Unterlassen einer solchen Erklärung kann insbesondere dann keine fehlende Glaubhaftmachung erblickt werden, wenn der Tatrichter - wie im vorliegenden Fall - aufgrund seines eigenen Verhaltens in der Hauptverhandlung abgelehnt wird.

Sonach hätte der abgelehnte Richter nicht selbst über das Ablehnungsgesuch nach § 26 Abs.1 Nr.2 StPO, § 46 Abs.1 OWiG entscheiden dürfen.

Auf den Fall, dass ein Ablehnungsgesuch wie hier zu Unrecht als unzulässig verworfen worden ist, ist jedoch die Vorschrift des § 338 Nr.3 StPO (i.V.m. § 79 Abs.3 OWiG) nicht anwendbar. Insoweit kommt es nur darauf an, ob das Ablehnungsgesuch sachlich begründet war, denn nur dann ist es im Sinne des § 338 Nr.3 StPO zu Unrecht verworfen (vgl. BGH NStZ 1984, 230). Der aufgezeigte Verfahrensfehler führt nicht schlechthin zur Aufhebung des Urteils, weil insoweit nur ein bedingter Revisionsgrund gegeben ist.

b) Liegen die tatsächlichen Beurteilungsgrundlagen vor, kann das Rechtsbeschwerdegericht über das Ablehnungsgesuch nach den Grundsätzen des Beschwerdeverfahrens ohne Bindung an die vom Tatrichter getroffenen Feststellungen und ohne Rücksicht darauf, ob der Tatrichter das Ablehnungsgesuch als unzulässig oder unbegründet verworfen hat, selbst sachlich entscheiden (BGHSt 23, 200/203; 265/267; LR-​Wendisch StPO 24.Aufl. § 28 Rn.35; LR-​Harnack aaO § 338 Rn.64, 65).

Die sachliche Überprüfung durch den Senat ergibt, dass das Ablehnungsgesuch begründet ist, weshalb der unbedingte Revisionsgrund nach § 338 Nr.3 StPO gegeben ist. Die Akten ergeben folgenden Sachverhalt:

Die Betroffene hat sich im Vorverfahren gegenüber dem ermittelnden Polizeibeamten dahin eingelassen, sie könne sich auf dem vorgelegten Radarfoto nicht erkennen. Sie sei sich sicher, zur Tatzeit nicht mit dem Pkw gefahren zu sein, vielmehr hätte sie das Fahrzeug damals an verschiedene Bekannte verliehen, könne jedoch die betreffende Person auf dem Foto nicht identifizieren.

Im Hauptverhandlungstermin vom 13.12.1993 erklärte sie, nicht zur Sache auszusagen. In der sich anschließenden Beweisaufnahme wurden die Lichtbilder in Augenschein genommen und mit der Betroffenen verglichen. In diesem Zusammenhang kam es zwischen dem Verteidiger und dem Richter zu einer Diskussion, die damit endete, dass der Verteidiger den Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnte und dies laut Protokoll wie folgt begründete:
"Es besteht der Eindruck bei der Betroffenen, das Gericht könnte ihr gegenüber befangen sein, denn das Gericht hat zum Ausdruck gebracht, obwohl die Beklagte von ihrem Recht, keine Angaben zur Sache zu machen, Gebrauch macht, 'Ross und Reiter', also Täter zu nennen, da sie andernfalls wegen Ähnlichkeiten mit der auf den Beweislichtbildern erkennbaren Person verurteilt wird. Darüber hinaus hat das Gericht gegenüber dem aus M. stammenden Verteidiger zum Ausdruck gebracht, dass es in I. andere Gepflogenheiten gibt und es sich nicht Gepflogenheiten von aus Norden stammenden Anwälten angewöhnen lassen will."
Der abgelehnte Richter hat in seiner dienstlichen Äußerung vom 25.8.1994 angegeben, das Gericht habe anhand des Lichtbilds die Betroffene als Fahrerin identifiziert und dies bekanntgegeben mit dem vorsorglichen Hinweis, dass seine Überzeugung nur dadurch erschüttert werden könnte, wenn die Betroffene tatsächlich eine andere ihr auf dem Foto ähnlich sehende Person als mögliche Fahrerin benennen könnte. Aufgrund dieses Hinweises sei es zu einer Diskussion zwischen dem Gericht und dem Verteidiger über die Zulässigkeit des Hinweises gekommen, bei der seitens des Gerichts der Begriff "Ross und Reiter" gefallen sei. Zu weiteren in der Ablehnungsbegründung enthaltenen Äußerungen des Gerichts im Rahmen der Diskussion äußert sich die dienstliche Erklärung - wohl angesichts der inzwischen verstrichenen Zeit - nicht.

Das Ablehnungsgesuch ist sachlich begründet.

Nach § 24 Abs.2 StPO, § 46 Abs.1 OWiG ist die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit begründet, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Es kommt also weder darauf an, ob der Richter tatsächlich parteiisch ist oder sich für befangen hält, noch darauf, ob der Ablehnende subjektiv diesen Eindruck hat. Maßgeblich ist allein, ob ein vernünftiger Betroffener nach dem ihm bekannten Sachverhalt bei verständiger Würdigung Grund zu der Annahme hat, der Abgelehnte nehme ihm gegenüber eine innere Haltung ein, die dessen Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen könne (BGHSt 21, 341; OLG Bremen StV 1989, 145; LR-​Wendisch aaO § 24 Rn.4 ff.; Kleinknecht/Meyer-​Goßner StPO 41.Aufl. § 24 Rn.8 ff. m.w.Nachw.).

Der Richter hat im vorliegenden Fall auf die Betroffene möglicherweise Druck dahin ausgeübt, auf ihr Recht, keine Angaben zu machen, zu verzichten.

Die Aussagefreiheit ist ein fundamentaler Grundsatz des geltenden Strafverfahrensrechts (§ 136 Abs.1 Satz 2, § 243 Abs.4 Satz 1 StPO); sie wird auch in Art.14 des internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 (BGBl.1973 II, 1533) ausdrücklich gewährleistet (vgl. BVerfGE 56, 37 = NJW 1981, 1431; BGHSt 5, 332/334; 34, 39/46; BGH StV 1985, 2; Kleinknecht/Meyer- Goßner aaO § 136 Rn.7 m.w.Nachw.). Dieser Grundsatz gilt auch uneingeschränkt im Bußgeldverfahren. Aus ihm ergibt sich auch, dass für einen Betroffenen keine nachteiligen Schlüsse hinsichtlich der Schuldfeststellungen gezogen werden dürfen, wenn er von seinem Recht, sich nicht zur Sache zu äußern, vollständig Gebrauch macht (BGHSt 25, 365/368; BayObLG VRS 59, 349). Massive Verstöße gegen den Grundsatz der Aussagefreiheit können bei einem Betroffenen berechtigte Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters entstehen lassen (BGH StV 1985, 2/3).

Nicht jede Einwirkung des Richters auf das Verteidigungsverhalten eines Betroffenen ist ein Verstoß gegen dessen geschützte Aussagefreiheit. Ein Betroffener, der schweigt, verzichtet auf das Recht, sich unmittelbar zu verteidigen; er muss damit rechnen, dass der Tatrichter die erhobenen Beweise anders würdigt und bei der Urteilsfindung die nur dem Betroffenen bekannten entlastenden Umstände außer acht lässt. Es ist dem Tatrichter dabei nicht versagt, dem Betroffenen die gerichtliche Bewertung eines erhobenen Beweises bekanntzugeben und ihm im Rahmen seiner Fürsorgepflicht Gelegenheit zu geben, sein Verteidigungsverhalten zu überdenken. In diesem Sinn kann im vorliegenden Fall der sich aus der dienstlichen Äußerung des abgelehnten Richters ergebende ursprüngliche Hinweis aufgefasst werden.

In der sich anschließenden Diskussion über die rechtliche Zulässigkeit des Hinweises konnte aber auch bei einer verständigen Betroffenen auf Grund der in der Ablehnungsbegründung angegebenen Äußerungen des Richters der Eindruck entstehen, beim Amtsgericht Ingolstadt gebe es die Gepflogenheit, dass ein Betroffener wegen einer bloßen Ähnlichkeit mit der auf dem Beweislichtbild erkennbaren Person verurteilt wird, falls er nicht Ross und Reiter nenne, und das Gericht sei nicht gewillt, sich die Verfahrensgrundsätze von den aus Norden stammenden Anwälten angewöhnen zu lassen. Die Betroffene konnte sich demnach dadurch unter Druck gesetzt fühlen, dass das Gericht die Grenzen seiner freien Beweiswürdigung zu ihrem Nachteil überschreitet, falls sie weiterhin schweige. Eine so zu verstehende Einflussnahme auf das Verteidigungsverhalten der Betroffenen stellt einen massiven Verstoß gegen den Grundsatz der Aussagefreiheit dar, der in der Betroffenen berechtigte Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters entstehen lassen konnte.

Da das Ablehnungsgesuch sonach im Ergebnis zu Unrecht verworfen worden ist, liegt ein absoluter Revisionsgrund vor (§ 338 Nr.3 StPO, § 79 Abs.3 OWiG).


III.

Das Urteil muss daher mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben werden (§ 353 StPO, § 79 Abs.3 OWiG). Die Sache wird zur neuen Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an einen anderen Richter des Amtsgerichts Ingolstadt zurückverwiesen (§ 79 Abs.5 Satz 1, Abs.6 OWiG)