Das Verkehrslexikon

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VGH Mannheim Beschluss vom 19.08.2013 - 10 S 1266/13 - Bindungswirkung des Strafverfahrens bei Entziehung der Fahrerlaubnis

VGH Mannheim v. 19.08.2013: Zur Bindungswirkung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens bei Entziehung der Fahrerlaubnis


Der VGH Mannheim (Beschluss vom 19.08.2013 - 10 S 1266/13) hat entschieden:
  1. Die Regelung des § 3 Abs. 3 StVG steht auch vorbereitenden Aufklärungsmaßnahmen wie der Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens entgegen.

  2. Eine auf § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV gestützte Entziehung der Fahrerlaubnis ist rechtswidrig, wenn die Gutachtensanordnung zu einem Zeitpunkt erfolgte, zu dem noch ein Berücksichtigungsverbot nach § 3 Abs. 3 StVG bestand.

  3. Die Bindungswirkung des § 3 Abs. 3 StVG besteht ab der Einleitung des Strafverfahrens bis zu dessen förmlichem Abschluss und bezieht sich auf strafrechtliche Untersuchungen zu den Straftaten, die ihrer Art nach die Entziehung der Fahrerlaubnis zu rechtfertigen vermögen. Es ist der Fahrerlaubnisbehörde verwehrt, die konkrete Wahrscheinlichkeit einer Fahrerlaubnisentziehung im Strafverfahren zu bewerten.

Siehe auch Stichwörter zum Thema Fahrerlaubnis und Führerschein und Die Bindungswirkung des Strafurteils bzw. der Entscheidung im Ordnungswidrigkeitenverfahren gegenüber der Verwaltungsbehörde bei der Beurteilung der Fahreignung und bei Probezeitmaßnahmen


Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis.

Der Antragsteller ist seit 1993 mehrfach durch Trunkenheitsfahrten auffällig geworden. Nach einem alkoholbedingten Verkehrsunfall wurde ihm mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 07.05.2007 die Fahrerlaubnis entzogen. Am 05.12.2008 wurde ihm eine slowakische Fahrerlaubnis der Klassen B, B1 und AM erteilt. Am 03.01.2013 wurde er in alkoholisiertem Zustand (Atemalkoholkonzentration 0,95 mg/l) gegenüber seiner Lebensgefährtin gewalttätig. Gegen den Antragsteller wurde unter anderem ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Trunkenheit im Straßenverkehr eingeleitet. Am 14.01.2013 hob die Staatsanwaltschaft Freiburg die Beschlagnahme des Führerscheins auf, weil die Lebensgefährtin des Antragstellers ihn am Tag des Vorfalls nicht fahrend gesehen habe. Am 15.01.2013 teilte die Staatsanwaltschaft der Fahrerlaubnisbehörde auf Nachfrage telefonisch mit, das Verfahren nach § 316 StGB werde nach derzeitiger Aktenlage eingestellt. Die Einstellung erfolgte mit Entscheidung der Staatsanwaltschaft Freiburg vom 11.04.2013.

Bereits mit Schreiben vom 22.01.2013, zugestellt am 23.01.2013, forderte die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller unter Bezugnahme auf den Vorfall vom 03.01.2013 und die vorangegangenen Trunkenheitsfahrten zur Beibringung eines medizinisch-​psychologischen Gutachtens bis zum 22.03.2013 auf zu der Frage, ob er trotz der Hinweise auf Alkoholmissbrauch ein Kraftfahrzeug der Gruppe 1 sicher führen könne und nicht zu erwarten sei, dass er ein Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss führen werde. Auf Nachfrage teilte die Fahrerlaubnisbehörde dem Antragsteller mit, ein längeres Zuwarten sei im Hinblick auf die Verkehrssicherheit nicht geboten. Werde die Fahrerlaubnis im Ermittlungsverfahren wider Erwarten noch entzogen, werde die Anordnung hinfällig. Der Antragsteller brachte das Gutachten nicht bei. Mit Entscheidung vom 11.04.2013 entzog das Landratsamt dem Antragsteller die Fahrerlaubnis auf der Grundlage von § 11 Abs. 8 FeV und forderte ihn zur Vorlage des slowakischen Führerscheins zum Zwecke der Eintragung eines Ungültigkeitsvermerks auf. Die sofortige Vollziehbarkeit wurde angeordnet. Der Antragsteller legte Widerspruch ein und beantragte beim Verwaltungsgericht die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung. Mit Beschluss vom 31.05.2013 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag ab. Hiergegen hat der Antragsteller Beschwerde eingelegt, die er im Wesentlichen damit begründete, der Anforderung des Gutachtens habe das Berücksichtigungsverbot des § 3 Abs. 3 StVG entgegengestanden. Ferner vermöge er zwischen Alkoholkonsum und Fahren zu trennen.


II.

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 31.05.2013 ist zulässig (vgl. §§ 146, 147 VwGO) und begründet.

Aus den von dem Antragsteller in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründen, auf deren Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, ergibt sich, dass der Beschluss des Verwaltungsgerichts abzuändern ist. Das Verwaltungsgericht hat es zu Unrecht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Verfügung des Antragsgegners gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO wiederherzustellen. Die Verfügung des Landratsamt vom 11.04.2013 erweist sich bei summarischer Prüfung als rechtswidrig.

Nach § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich jemand als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 vorliegen. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken an der Eignung des Fahrerlaubnisinhabers zum Führen eines Kraftfahrzeugs begründen, hat die Fahrerlaubnisbehörde unter den in §§ 11 bis 14 FeV genannten Voraussetzungen durch die Anordnung der Vorlage von ärztlichen oder medizinisch-​psychologischen Gutachten die Eignungszweifel aufzuklären (§ 3 Abs. 1 Satz 3 StVG, § 46 Abs. 3 FeV). Wenn sich der Betroffene weigert, sich untersuchen zu lassen, oder das von der Fahrerlaubnisbehörde geforderte Gutachten nicht fristgerecht beibringt, darf die Fahrerlaubnisbehörde bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung schließen (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV). Der Schluss auf die Nichteignung ist aber nur zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 05.07.2001 - 3 C 13.01 - DAR 2001, 522; und vom 09.06.2005 - 3 C 21.04 - DAR 2005, 578; Senatsbeschluss vom 24.06.2002 - 10 S 985/02 - VBlBW 2002, 441, m.w.N.).

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts findet die Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-​psychologischen Gutachtens allerdings eine Rechtsgrundlage in § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a 2. Alternative FeV. Nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a FeV ist die Beibringung eines medizinisch-​psychologischen Gutachtens anzuordnen, wenn nach dem ärztlichen Gutachten (§ 11 Abs. 2 Satz 3 FeV) zwar keine Alkoholabhängigkeit, jedoch Anzeichen für Alkoholmissbrauch vorliegen (1. Alternative) oder sonst Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen (2. Alternative). Die zweite Alternative setzt nicht voraus, dass ein ärztliches Gutachten mit Hinweisen auf Alkoholmissbrauch vorliegt. Nach ihrem Wortlaut und nach ihrem Sinn und Zweck als Auffangtatbestand werden von dieser Alternative vielmehr diejenigen Fälle erfasst, in denen kein ärztliches Gutachten vorliegt und sich der Hinweis auf Alkoholmissbrauch aus sonstigen Umständen ergibt. Nach Nr. 8.1. der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-​Verordnung liegt Alkoholmissbrauch vor, wenn das Führen von Kraftfahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden können (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.05.2008 - 3 C 32.07 - NJW 2008, 2601). In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass die Vorschrift entsprechend ihrer Auffangfunktion nicht nur ein alkoholkonsumbedingtes Fehlverhalten im Straßenverkehr, sondern unter besonderen Umständen auch die Berücksichtigung nicht straßenverkehrsbezogener Alkoholauffälligkeiten gestattet (vgl. Senatsurteil vom 18.06.2012 - 10 S 452/10 - VBlBW 2013, 19; Senatsbeschlüsse vom 01.04.2010 - 10 S 2074/09 -; vom 10.11.2011 - 10 S 2779/11 -; vom 29.07.2002 - 10 S 1164/02 - VBlBW 2002, 493; vom 24.06.2002 - a.a.O.; ähnlich OVG Magdeburg, Beschluss vom 12.11.2008 - 3 M 503/08 - NJW 2009, 1829; a.A. OVG des Saarlandes, Beschluss vom 18.09.2000 - 9 W 5/00 - juris; HessVGH, Beschluss vom 09.11.2000 - 2 TG 3571/00 - juris). Der Vorschrift des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a 2. Alt. FeV kommt eine Auffangfunktion zu, da mit ihr sichergestellt werden soll, dass die Fahrerlaubnisbehörde bei Fehlen eines greifbaren Gefahrenverdachts nicht „sehenden Auges“ untätig bleiben und abwarten muss, bis Verdachtsmomente hinzutreten, welche einen unmittelbaren Bezug zum Straßenverkehr aufweisen. Es entspricht auch der staatlichen Pflicht zum Schutz von Leib und Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) anderer Verkehrsteilnehmer, der erkannten Alkoholproblematik eines Fahrerlaubnisinhabers nachzugehen. Maßnahmen nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a 2. Alt. FeV sind daher bereits dann geboten, wenn deutliche Indizien für eine weit überdurchschnittliche Alkoholgewöhnung des Betroffenen vorliegen und außerdem weitere tatsächliche Umstände festzustellen sind, die in einer Gesamtschau mit der vermuteten Alkoholproblematik die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen.

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Dass der Antragsteller regelmäßig Alkohol konsumiert und bei ihm eine weit überdurchschnittliche Alkoholgewöhnung vorliegt, ergibt sich mit einer den Anforderungen des vorliegenden Eilverfahrens genügenden Gewissheit bereits aus den bei ihm wiederholt ermittelten Alkoholkonzentrationen (1993: BAK 1,24 Promille, 1998: 1,38 Promille, 2007: BAK 2,15 Promille, 2013: AAK 0,95 mg/l = ca. 1,90 Promille). Nach wissenschaftlich belegter Einschätzung ist es der durchschnittlich alkoholgewöhnten Bevölkerung nicht möglich, durch eigenes Handeln Blutalkoholkonzentrationen von 1,6 Promille oder eine entsprechende Atemalkoholkonzentration (d.h. von etwa 0,8 mg/l) und mehr zu erreichen (vgl. Schubert/Schneider/Eisenmenger/ Stephan, Begutachtungs-​Leitlinien zur Kraftfahrereignung, Kommentar, 2. Aufl., Rn. 3.11.1, S. 132 m.w.N.). Entgegen der Beschwerdebegründung liegen im Falle des Antragstellers auch weitere tatsächliche Indizien dafür vor, dass er den Konsum von Alkohol und die Teilnahme am Straßenverkehr nicht zuverlässig zu trennen vermag. Konkrete Anhaltspunkte für ein fehlendes Trennungsvermögen ergeben sich nicht nur aus den drei Trunkenheitsfahrten in der Vergangenheit. Hinzu kommt der Umstand, dass der Antragsteller Berufskraftfahrer ist und daher ein ständiger Konflikt zwischen dem voraussichtlich gewohnheitsmäßigen hohen Alkoholkonsum und der Berufsausübung zu besorgen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 29.07.2002 a.a.O.). In der Rechtsprechung des Senats ist ferner anerkannt, dass auch ein alkoholbedingtes aggressives Verhalten außerhalb des Straßenverkehrs eine „sonstige Tatsache“ im Sinne des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a 2. Alt FeV darstellen kann, welche den Verdacht von Alkoholmissbrauch begründet und Anlass zur weiteren Sachaufklärung durch die Fahrerlaubnisbehörde bietet (vgl. etwa Senatsbeschluss vom 24.06.2002 - a.a.O.; vgl. auch BayVGH, Beschluss vom 06.12.2012 - 11 CS 12.2173 - juris). Danach kommt auch dem Vorfall vom 03.01.2013, bei dem der Antragsteller nach derzeitiger Erkenntnislage stark betrunken häusliche Gewalt verübt hat, eine Indizwirkung dafür zu, dass bei ihm in alkoholisiertem Zustand ein Kontrollverlust eintritt.

Die Frage, ob die Anordnung auch auf § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. e FeV hätte gestützt werden können, wie das Verwaltungsgericht annimmt, bedarf daher keiner Vertiefung.

Die Anordnung vom 22.01.2013, ein medizinisch-​psychologisches Gutachten beizubringen, dürfte aber rechtswidrig gewesen sein, weil ihr § 3 Abs. 3 StVG entgegenstand. Danach darf die Fahrerlaubnisbehörde einen Sachverhalt, der Gegenstand eines Strafverfahrens ist, in einem Entziehungsverfahren nicht berücksichtigen, solange gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis ein Strafverfahren anhängig ist, in dem die Entziehung der Fahrerlaubnis in Betracht kommt. Die Vorschrift des § 3 Abs. 3 StVG steht in engem Zusammenhang mit der Vorschrift des § 3 Abs. 4 StVG. Nach dessen Satz 1 kann die Fahrerlaubnisbehörde, wenn sie in einem Entziehungsverfahren einen Sachverhalt berücksichtigen will, der Gegenstand der Urteilsfindung in einem Strafverfahren gegen den Inhaber der Fahrerlaubnis gewesen ist, vom Inhalt des Urteils insoweit nicht abweichen, als es sich auf die Feststellung des Sachverhalts oder die Beurteilung der Schuldfrage oder die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bezieht. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass § 3 Abs. 4 StVG nicht nur der Entziehung der Fahrerlaubnis, sondern auch vorbereitenden Aufklärungsmaßnahmen wie der Anforderung eines Gutachtens entgegensteht (BVerwG, Urt. v. 15.07.1988 - 7 C 46.87 - BVerwGE 80,43; Senatsbeschl. v. 17.11.2008 - 10 S 2719/08 - ZfSch 2009, 178; Senatsbeschl. v. 03.05.2010 - 10 S 256/10 - VBlBW 2010, 478).

Wie das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen hat, gilt Entsprechendes auch für die Vorschrift des § 3 Abs. 3 StVG. Beide Vorschriften dienen dazu, Doppelprüfungen und sich widersprechende Entscheidungen der Strafgerichte und der Fahrerlaubnisbehörden zu vermeiden (BVerwG, Urt. v. 28.06.2012 - 3 C 30/11 - juris m.w.N.). Es soll verhindert werden, dass derselbe einer Eignungsbeurteilung zugrundeliegende Sachverhalt unterschiedlich bewertet wird; die Beurteilung durch den Strafrichter soll in diesen Fällen den Vorrang haben (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.06.2012 a.a.O.; BVerwG, Beschlüsse vom 11.01.1988 - 7 B 242.87 - NZV 1988, 37 und vom 03.09.1992 - BVerwG 11 B 22.92 - NZV 1992, 501). § 3 Abs. 3 und 4 StVG dienen mithin demselben Regelungsziel. Das Berücksichtigungsverbot nach § 3 Abs. 3 StVG stellt dabei ein vorübergehendes Verfahrenshindernis dar, das nach Abschluss des Strafverfahrens in das Verbot des § 3 Abs. 4 StVG übergeht (BVerwG, Urt. v. 28.06.2012 a.a.O.). Auch die Regelung des § 3 Abs. 3 StVG steht daher nicht nur der Entziehung der Fahrerlaubnis, sondern auch vorbereitenden Aufklärungsmaßnahmen wie der Anforderung eines medizinisch-​psychologischen Gutachtens entgegen.

Im Zeitpunkt der Gutachtensanordnung vom 22.01.2013 war das Ermittlungsverfahren gegen den Antragsteller wegen des Verdachts auf Trunkenheit im Straßenverkehr nach § 316 StGB noch anhängig. In diesem Verfahren kommt die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 Abs. 1 und 2 StGB in Betracht. Daher stand § 3 Abs. 3 StVG der Anforderung eines Gutachtens entgegen. Unerheblich ist, dass zu diesem Zeitpunkt die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens bereits angekündigt und die Beschlagnahme des Führerscheins aufgehoben hatte. Ob eine Entziehung der Fahrerlaubnis im Sinne des § 3 Abs. 3 StVG in Betracht kommt, ist allein danach zu beurteilen, ob sich die strafrechtlichen Untersuchungen auf eine Straftat erstrecken, die ihrer Art nach die Entziehung der Fahrerlaubnis zu rechtfertigen vermag, ob es also um eine Straftat geht, wie sie in § 69 StGB für die Entziehung der Fahrerlaubnis vorausgesetzt wird. § 3 Abs. 3 StVG stellt nach Wortlaut und Sinn und Zweck nicht darauf ab, ob eine Fahrerlaubnisentziehung im konkreten Fall mehr oder weniger wahrscheinlich ist. Die Bindungswirkung des § 3 Abs. 3 StVG tritt vielmehr mit der Einleitung des Strafverfahrens ein; ab diesem Zeitpunkt ist der Vorgang, auf den sich die strafrechtlichen Ermittlungen erstrecken, auch im Hinblick auf die Fahreignung vorrangig durch die Strafverfolgungsbehörden zu bewerten. Dies verwehrt es der Fahrerlaubnisbehörde, nach Einleitung des Strafverfahrens eingetretene Erkenntnisse und Entwicklungen zu berücksichtigen oder die strafrechtliche Bewertung inzident vorwegzunehmen. Denn selbst wenn die Einstellung des Verfahrens nur noch als Formalie erscheint, ist eine andere Entscheidung bis zur förmlichen Einstellung des Verfahrens gleichwohl nicht ausgeschlossen, wie hier etwa dann, wenn die Lebensgefährtin des Antragstellers ihre Aussage geändert hätte. Auf die datumsmäßig bestimmte Einstellungsentscheidung abzustellen, wird nicht zuletzt durch das Gebot der Rechtssicherheit nahegelegt.

Die Anforderung eines Gutachtens während eines noch anhängigen Ermittlungsverfahrens ist aber auch mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar. Der Senat hat in seiner jüngeren Rechtsprechung die zentrale Bedeutung sowohl der nach § 11 Abs. 6 FeV einzuhaltenden formell-​rechtlichen als auch der materiell-​rechtlichen Anforderungen an eine Gutachtensanordnung hervorgehoben (vgl. Senatsbeschlüsse vom 20.04.2010 - 10 S 319/10 - VBlBW 2010, 323; vom 10.12.2010 - 10 S 2173/10 - VBlBW 2011, 196 und vom 30.06.2011 - 10 S 2785/10 - NJW 2011, 3257). Da eine Gutachtensanordnung nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung nicht selbständig anfechtbar ist, sondern nur im Rahmen eines Rechtsbehelfsverfahrens gegen eine daran anknüpfende Fahrerlaubnisentziehung oder sonstige in Rechte des Betroffenen eingreifende Maßnahmen der Fahrerlaubnisbehörde inzident auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden kann, ist es ein Gebot effektiven Rechtsschutzes, insoweit strenge Anforderungen zu stellen (vgl. im Einzelnen Senatsbeschluss vom 20.04.2010, a.a.O.; Senatsbeschl. v. 30.06.2011 a.a.O.). Die Anforderung eines Gutachtens während eines noch offenen Ermittlungsverfahrens führt dazu, dass der Betroffene vorsorglich ein Gutachten beibringen und sich den nicht unerheblichen Belastungen einer medizinischen und psychologischen Untersuchung unterziehen muss, weil der Ausgang des Strafverfahrens für ihn noch ungewiss ist, insbesondere wenn die Fahrerlaubnisbehörde über Informationen verfügt, die ihm nicht zur Verfügung stehen. Der Hinweis des Antragsgegners, die Gutachtensanordnung werde im Falle einer strafrechtlichen Fahrerlaubnisentziehung hinfällig, geht ins Leere. Denn bis dahin muss sich der Betroffene unter Umständen bereits einer Begutachtung unterzogen haben, wenn er den Schluss auf die Nichteignung nach § 11 Abs. 8 FeV vermeiden will. Diese Notwendigkeit stellt sich in besonderem Maße, wenn - wie hier - die Frist zur Vorlage des Gutachtens noch vor dem Abschluss des Strafverfahrens abläuft. Wie ausgeführt, kommt auch eine isolierte Anfechtung der Anordnung nach ständiger Rechtsprechung nicht in Betracht. Im Hinblick auf die einschneidenden Folgen einer unberechtigten Gutachtensverweigerung ist daher eine Gutachtensanforderung bis zum förmlichen Abschluss eines Strafverfahrens im Sinne des § 3 Abs. 3 StVG für den Betroffenen unzumutbar. Solange eine strafrechtliche Entziehung der Fahrerlaubnis noch in Betracht kommt, dürfte es im Übrigen auch an der Erforderlichkeit einer behördlichen Gutachtensanordnung fehlen.

Eine andere Beurteilung ist auch nicht deshalb geboten, weil das Ermittlungsverfahren im Zeitpunkt des Erlasses der Entziehungsverfügung vom 11.04.2013 eingestellt worden war. Zwar ist § 3 Abs. 3 StVG nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur ein vorübergehendes Verfahrenshindernis, das in das Verbot einer abweichenden Entscheidung im Sinne von § 3 Abs. 4 StVG übergeht, wenn das Strafverfahren zwischenzeitlich rechtskräftig abgeschlossen ist. Der Zugriff auf den Sachverhalt ist nach diesem Zeitpunkt dadurch wieder eröffnet, dass das deswegen eingeleitete Strafverfahren mittlerweile seinen Abschluss gefunden hat und nach § 3 Abs. 4 StVG deshalb nur noch das Verbot einer abweichenden Entscheidung besteht (BVerwG, Urt. v. 28.06.2012 a.a.O.). Auch wenn das Verfahren nicht durch ein Strafurteil, sondern durch eine Einstellungsentscheidung abgeschlossen wird, ist danach ein Zugriff der Fahrerlaubnisbehörde grundsätzlich wieder möglich, weil hier widersprechende Entscheidungen der Fahrerlaubnisbehörde und des Strafgerichts ebenfalls ausgeschlossen sind. Die Fahrerlaubnisbehörde ist daher seit der Einstellungsentscheidung vom 11.04.2013 befugt, auf den Vorfall vom 03.01.2013 zurückzugreifen und den hierdurch begründeten Eignungszweifeln nachzugehen sowie die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich der Verdacht auf Alkoholmissbrauch erhärtet oder der Betroffene das - nach Wegfall des Verfahrenshindernisses rechtmäßig - angeforderte Gutachten nicht beibringt (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV). Das vorübergehende Verfahrenshindernis des § 3 Abs. 3 StVG wirkt sich in diesem Fall nicht mehr auf das Ergebnis der Entscheidung aus.

Etwas anderes gilt jedoch in der vorliegenden Fallkonstellation, in der die Fahrerlaubnisbehörde die Entziehung auf die unberechtigte Verweigerung der Vorlage eines Gutachtens stützt, das während eines Verfahrenshindernisses nach § 3 Abs. 3 StVG angefordert wurde. Wie ausgeführt, ist der Schluss auf die Nichteignung nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV nur dann zulässig, wenn die Gutachtensanordnung formell und materiell rechtmäßig war. Einer rechtswidrigen Anordnung muss der Betroffene mithin nicht Folge leisten, ohne dass die Fahrerlaubnisbehörde hieraus negative Schlussfolgerungen ziehen darf. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Anordnung ist der Zeitpunkt ihres Erlasses. Eine unberechtigte Aufforderung zur Gutachtensbeibringung kann nicht nachträglich geheilt werden (BVerwG, Urt. v. 05.07.2001 - 3 C 13/01 - juris Rn. 27; VGH Mannheim, Urt. v. 23.02.2010 - 10 S 221/09 - juris Rn. 41; BayVGH, Beschl. v. 24.08.2010 - 11 CS 10.1139 - juris; jeweils zum Auswechseln der Begründung der Gutachtensanforderung). Denn der Betroffene muss sich zeitnah innerhalb der noch offenen Beibringungsfrist darüber Klarheit verschaffen können, ob er sich der Begutachtung aussetzt oder ob er diese für ungerechtfertigt hält (vgl. Senatsbeschl. vom 20.04.2010 a.a.O.).

Das Berücksichtigungsverbot des § 3 Abs. 3 StVG ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auch nicht deshalb unbeachtlich, weil die Fahrerlaubnisbehörde einen umfassenderen Sachverhalt als die Strafverfolgungsbehörden beurteilt hat (vgl. dazu Senatsbeschlüsse vom 19.02.2007 - 10 S 3032/06 - VBlBW 2007, 314, und vom 03.05.2010 - 10 S 256/10 - VBlBW 2010, 478). Die Bindungswirkung von § 3 Abs. 3 und 4 StVG erstreckt sich auf den Sachverhalt, der Gegenstand des Strafverfahrens ist; erfasst wird nicht nur die Tat im Sinne des sachlichen Strafrechts, sondern der gesamte Vorgang, auf den sich die Untersuchung erstreckt (BVerwG, Urt. v. 28.06.2012 a.a.O. m.w.N.). Die Fahrerlaubnisbehörde hat den Vorfall vom 03.01.2013 zum Anlass für die Anordnung des Gutachtens genommen, bei dem es zu häuslicher Gewalt kam. Dieser Vorfall lag auch dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wegen Trunkenheit im Verkehr zu Grunde, weil der Verdacht bestand, dass der Antragsteller bereits alkoholisiert mit dem Kraftfahrzeug bei seiner Lebensgefährtin erschienen ist. Es handelt sich mithin um einen einheitlichen Lebenssachverhalt, der allenfalls strafrechtlich in verschiedene Taten aufgeteilt werden kann. Das aggressive Verhalten des Antragstellers gegenüber seiner Lebensgefährtin hätte zwar auch für sich genommen Eignungszweifel in charakterlicher Hinsicht begründen können. Die Anforderung des Gutachtens diente aber nicht der Aufklärung charakterlicher Eignungsbedenken; vielmehr hat die Fahrerlaubnisbehörde auf den genannten Vorfall den Verdacht auf Alkoholmissbrauch gestützt, also auf ein eventuell fehlendes Trennungsvermögen zwischen Alkoholkonsum und Fahren. Diese Frage war aber auch Gegenstand des Strafverfahrens. Die Fahrerlaubnisbehörde hat die Gutachtensanordnung darüber hinaus auch auf die früheren Trunkenheitsfahrten gestützt. Auch diese stehen aber in einem inneren Zusammenhang mit den durch den Vorfall vom 03.01.2013 begründeten Eignungszweifeln wegen Alkoholmissbrauchs und wären im Fall einer Verurteilung bei der Strafzumessung und bei der Entscheidung des Strafgerichts nach § 69 StGB voraussichtlich berücksichtigt worden (vgl. dazu Senatsbeschl. v. 03.05.2010 a.a.O.).

Auch für die unmittelbare oder entsprechende Anwendung des § 46 LVwVfG ist kein Raum. Stützt die Fahrerlaubnisbehörde die Entziehung der Fahrerlaubnis entscheidungstragend auf eine unberechtigte Gutachtensverweigerung im Sinne des § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV, ist die Rechtsfehlerhaftigkeit der Gutachtensanforderung ursächlich für das Ergebnis der Entscheidung. Anderes könnte nur im Fall der Anwendbarkeit des § 11 Abs. 7 FeV gelten, der auch im gerichtlichen Verfahren zu beachten ist. Dessen Voraussetzungen lagen jedoch nicht vor. Das Verwaltungsgericht weist zwar zutreffend darauf hin, dass auch charakterliche Eignungsbedenken bestehen. Diese bedürfen aber noch weiterer Aufklärung, wovon auch das Verwaltungsgericht ausgeht, und vermögen die Entziehung der Fahrerlaubnis nach derzeitiger Sach- und Rechtslage nicht zu rechtfertigen.

Der Behörde bleibt es allerdings unbenommen, nach dem Wegfall der Bindungswirkung des § 3 Abs. 3 StVG infolge der Einstellung des Strafverfahrens eine neue Aufforderung zur Beibringung eines medizinisch-​psychologischen Gutachtens zu erlassen, die auch noch im Widerspruchsverfahren berücksichtigt werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.07.2001 - a.a.O.; VGH Mannheim, Urt. v. 23.02.2010 a.a.O.).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren findet ihre Grundlage in § 63 Abs. 2, § 47 sowie § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. den Empfehlungen Nr. 1.5 und Nr. 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom Juli 2004 (VBlBW 2004, 467).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.