Das Verkehrslexikon

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OLG Koblenz Beschluss vom 26.08.2013 - 2 SsBs 128/12 - Geschwindigkeitsüberschreitung und bedingter Vorsatz

OLG Koblenz v. 26.08.2013: "Einbestellungen" eines Betroffenen durch Einwurf in den Hausbriefkasten und bedingter Vorsatz bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung


Das OLG Koblenz (Beschluss vom 26.08.2013 - 2 SsBs 128/12) hat entschieden:
  1. Wenn sich aus durch den ermittelnden Polizeibeamten in den Briefkasten geworfenen "Einbestellungen" des Betroffenen mit der Bitte um Erscheinen auf der Dienststelle nicht die beabsichtigte Vernehmung als Betroffenen ergibt, handelt es sich weder um eine Anhörung noch um die Bekanntgabe der Einleitung eines bis dahin noch nicht gegen den Betroffenen geführten Ermittlungsverfahrens.

  2. Die im Urteil getroffenen Feststellungen müssen auf Beweismitteln beruhen, die zum Inbegriff der Verhandlung im Sinne von § 261 StPO gemacht worden sind. Wie die Beweismittel zum Gegenstand der Verhandlung gemacht wurden, muss im Hauptverhandlungsprotokoll festgehalten werden.

  3. Grundsätzlich darf der Tatrichter davon ausgehen, dass aufgestellte Verkehrszeichen von den Verkehrsteilnehmern wahrgenommen werden. Bei einer deutlichen (qualifizierten) Geschwindigkeitsüberschreitung, die nach ständiger Rechtsprechung des OLG Koblenz außerorts ab einer Überschreitung um mindestens 40 km/h anzunehmen ist, ergibt sich schon aus den damit verbundenen sensorischen Eindrücken, hervorgerufen durch Motorgeräusch, Fahrzeugvibrationen und die Schnelligkeit, mit der sich die Umgebung verändert, ein beweiskräftiges Indiz dafür, dass der Kraftfahrer die erlaubte Geschwindigkeit zumindest mit bedingtem Vorsatz überschreitet.

Siehe auch Verjährung von Verkehrsordnungswidrigkeiten und Zur Annahme von Vorsatz bei Geschwindigkeitsüberschreitungen


Gründe:

I.

Mit Urteil vom 17. September 2012 hat das Amtsgericht gegen den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 50 km/h eine Geldbuße von 320,- Euro festgesetzt. Nach den Feststellungen befuhr der Betroffene am 5. Oktober 2010 die Bundesautobahn A .. in der Gemarkung …[X] bei Kilometer 230,860 im auf 100 km/h beschränkten Bereich mit einer Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug 5 km/h) von 150 km/h. Zu dieser Überzeugung ist das Amtsgericht ausweislich der Urteilsgründe u.a. aufgrund des Messprotokolls vom 5. Oktober 2010 und ihm beigefügter, nicht näher bezeichneter Anlagen gelangt.


II.

Verfahrenshindernisse, die aufgrund der zulässig erhobenen Sachrüge vom Senat von Amts wegen zu berücksichtigen wären, liegen nicht vor. Insbesondere ist keine Verfolgungsverjährung eingetreten.

Die Generalstaatsanwaltschaft Koblenz hat hierzu in ihrer Stellungnahme vom 15. Juli 2013 folgendes ausgeführt:
Nach Tatbegehung am 05.10.2012 wurde die Verjährung erstmals und rechtzeitig durch die von der Bußgeldstelle der Kreisverwaltung … als Verfolgungsbehörde am 17.12.2010 verfügte erstmalige Anhörung des Betroffenen mit Bekanntgabe des Tatvorwurfs (Bl. 21 d.A.) gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG unterbrochen. Entgegen den diesbezüglichen Ausführungen des Betroffenen bereits im gerichtlichen Verfahren hatte zuvor eine Anhörung oder Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens oder sonstige Maßnahme gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG nicht stattgefunden. Die Darstellung im Schriftsatz des Verteidigers des Betroffenen vom 05.07.2011 (Bl. 56 d.A.), erstmals bereits am 08.12.2010 durch die Polizei ...[Y] durch Einlegung eines "Anhörbogens" in den Briefkasten im Sinne des § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 OWiG angehört worden zu sein, ist nicht zutreffend. Zwar waren ausweislich des Vermerks des ermittelnden Polizeibeamten des Polizeireviers ...[Y] vom 17.08.2011 (Bl. 65 d.A.) mehrfach "Einbestellungen" mit der Bitte um Erscheinen auf der Dienststelle in den Briefkasten geworfen worden. Daraus ergab sich jedoch nicht die beabsichtigte Vernehmung als Betroffener, so dass es sich weder um eine Anhörung noch um die Bekanntgabe der Einleitung eines bis dahin noch nicht gegen den Betroffenen geführten Ermittlungsverfahrens handelte (vgl. Göhler/Gürtler, OWiG § 31 Rn. 8, 9 mwN.). 5 Nach der mithin die Verjährung erstmalig unterbrechenden Anhörung vom 17.12.2010 folgte die nächste Unterbrechung gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG durch Erlass des Bußgeldbescheids am 16.03.2011 (Bl. 38 d.A.), zugestellt am 23.03.2011 (Bl. 40 d.A.) mit der Folge anschließender sechsmonatiger Verjährungsfrist (§ 26 Abs. 3 StVG). Weiterhin wurde die Verjährung unterbrochen am 20.06.2011 durch Eingang der Akten bei dem Amtsgericht (Bl. 53 d.A.) - § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 OWiG, am 19.12.2011 durch Beauftragung des Sachverständigen Dr. Ing. ...[A] (Bl. 118 d.A.) - § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG, sowie am 01.06.2012 und am 18.06.2012 durch jeweilige Anberaumung einer Hauptverhandlung (Bl. 173, 178 d.A.) - § 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 OWiG.
Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat an.


III.

Jedoch hat die Rechtsbeschwerde mit der zulässig erhobenen (vgl. zu den Anforderungen Senatsbeschl. 2 SsBs 154/10 v. 24.03.2011 – NStZ-RR 2011, 352) Inbegriffsrüge gemäß § 261 StPO einen zumindest vorläufigen Erfolg. Aus dem Akteninhalt ergibt sich ohne Rekonstruktion der Beweisaufnahme, dass die im Urteil getroffenen Feststellungen zumindest teilweise auf Beweismitteln beruhen, die nicht zum Inbegriff der Verhandlung im Sinne von § 261 StPO gemacht worden sind.

Wie vom Betroffenen vorgetragen, wurde das Messprotokoll vom 5. Oktober 2010 ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls vom 17. September 2012 weder verlesen noch in einer sonst zulässigen Art und Weise - etwa nach § 78 Abs. 1 Satz 1 OWiG - zum Gegenstand des Verfahrens gemacht. Dies gilt auch für die nach den Urteilsgründen nicht näher bezeichneten Anlagen zum Messprotokoll. Insoweit bleibt schon offen, auf welche Anlagen sich das Amtsgericht bezieht. Dem Messprotokoll nachgeheftet sind zwei Zertifikate des Herstellers des Messgeräts über die Teilnahme an Schulungen (Bl. 4 und 5 d.A.) sowie Angaben und Lichtbilder zur Dokumentation der Fotolinie (Bl. 6 bis 8 d.A.).

Das Urteil beruht auch auf dieser Verletzung des § 261 StPO. Das Amtsgericht teilt im Eingang der Urteilsbegründung mit, dass es seine Überzeugung von der Tat u.a. aufgrund des Messprotokolls "samt Anlagen vom 05.10.2010 (Bl. 3 ff. d.A.)" gewonnen hat.

Wegen dieser Verletzung von Verfahrensrecht ist das Urteil mit den dazugehörigen Feststellungen aufzuheben (§§ 71 Abs. 1, 79 Abs. 6 OWiG iVm § 353 StPO). Auf die weiter erhobenen Verfahrensrügen sowie auf die Rüge der Verletzung des sachlichen Rechts kommt es nicht an.


IV.

Eine Entscheidung in der Sache ist dem Senat verwehrt, da er als Rechtsbeschwerdegericht die Beweisaufnahme nicht wiederholen kann. Die Sache war daher gemäß § 79 Abs. 6 OWiG aufzuheben und an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen.

Für die neue Verhandlung weist der Senat auf folgendes hin:

1. Wenn auch im Bußgeldverfahren nicht dieselben Anforderungen wie im Strafverfahren gelten, so muss doch die Beweiswürdigung des Tatrichters so beschaffen sein, dass sie dem Rechtsbeschwerdegericht die rechtliche Überprüfung ermöglicht. Das Urteil muss deshalb u.a. auch erkennen lassen, wie sich der Betroffene eingelassen hat (vgl. Göhler-Seitz, OWiG, 15. Aufl. § 71 Rn. 43). Hierzu ist eine bloße Bezugnahme auf "Einlassungsschreiben nebst Anlagen des Verteidigers" nicht ausreichend. Sollte die im Zusammenhang mit bei der Akte befindlichen Skizzen und Lichtbildern erfolgte Bezugnahme gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO auch die genannten Einlassungsschreiben erfassen, so wäre dies unzulässig (Meyer-Goßner, StPO, § 267 Rn. 2 mwN).

2. Beschränkt sich der Tatrichter - wie hier - darauf, sich der Beurteilung eines Sachverständigen anzuschließen, muss er zumindest dessen wesentliche Anknüpfungspunkte und Darlegungen im Urteil so wiedergeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist (BGH, Beschl. 5 StR 52/12 v. 24. 5. 2012 – NStZ 2012, 650). Diese Anforderungen gelten auch im Bußgeldverfahren (Senatsbeschl. v. 02.10.2009 – 2 SsBs 100/09 – NZV 2010, 212; Göhler-Seitz aaO Rn. 43d).

3. Sollte die neu durchzuführende Beweisaufnahme die vom Amtsgericht getroffenen Feststellungen bestätigen, so dürfte eine vorsätzliche Tatbegehung anzunehmen sein. Grundsätzlich darf der Tatrichter davon ausgehen, dass aufgestellte Verkehrszeichen von den Verkehrsteilnehmern wahrgenommen werden. Die Möglichkeit, dass ein Kraftfahrer ein Zeichen übersehen hat, braucht nur dann in Rechnung gestellt zu werden, wenn sich hierfür konkrete Anhaltspunkte ergeben oder der Betroffene dies im Verfahren einwendet (BGH, Beschl. 4 StR 638/96 v. 11.09.1997 - BGHSt 43, 241 <250 f.>). Bei einer deutlichen (qualifizierten) Geschwindigkeitsüberschreitung, die nach ständiger Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Koblenz außerorts ab einer Überschreitung um mindestens 40 km/h anzunehmen ist, ergibt sich schon aus den damit verbundenen sensorischen Eindrücken, hervorgerufen durch Motorgeräusch, Fahrzeugvibrationen und die Schnelligkeit, mit der sich die Umgebung verändert, ein beweiskräftiges Indiz dafür, dass der Kraftfahrer die erlaubte Geschwindigkeit zumindest mit bedingtem Vorsatz überschreitet (Senat, aaO). Der auch im Bußgeldverfahren geltende Grundsatz der reformatio in peius gemäß §§ 72 Abs. 1 OWiG, 358 II StPO stünde einer entsprechenden Änderung des Schuldspruchs nicht entgegen (BGH, Beschl. 4 StR 603/11 v. 18.07.2012 – NZV 2013, 199; Göhler-Seitz aaO § 79 Rn. 37 mwN).

4. Grundlage für die Bemessung der Geldbuße ist nach § 17 Abs. 3 Satz 1 OWiG die Bedeutung der Ordnungswidrigkeit und der Vorwurf, der den Täter trifft. Für eine vorsätzliche Begehungsweise einer hier in Rede stehenden Ordnungswidrigkeit sieht § 3 Abs. 4a Satz 1 BKatV die Verdopplung des für fahrlässige Begehungsweise genannten Regelsatzes vor. Bei nicht geringfügigen Ordnungswidrigkeiten, die nach ständiger Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Koblenz bei einer Ahndung von mehr als 250,- Euro vorliegen (Senat, Beschl. 2 Ss 370/06 v. 10.01.2007 - ZfSch 2007, 231 f. mwN), sind gemäß § 17 Abs. 3 Satz 2 OWiG auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters in Betracht zu ziehen.