Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

OLG Dresden Beschluss vom 24.04.2014 - 7 U 1501/13 - Kreuzungsunfall nach irreführendem Blinkersetzens eines vorfahrtberechtigten Geradeausfahrers

OLG Dresden v. 24.04.2014: Zur Haftungsverteilung bei Kreuzungsunfall nach irreführendem Blinkersetzens eines vorfahrtberechtigten Geradeausfahrers


Das OLG Dresden (Beschluss vom 24.04.2014 - 7 U 1501/13) hat entschieden:
  1. Zur Haftungsverteilung bei einer Kollision zwischen einem auf der Vorfahrtstraße fahrenden PKW, der nach rechts blinkt, dann aber weiter geradeaus fährt, und dem nach links auf die Vorfahrtstraße auffahrenden Wartepflichtigen.

  2. Das Setzen des rechten Blinkers begründet allein noch kein Vertrauen, dass der vorfahrtberechtigte Blinkende auf sein Vorrecht verzichtet und auch tatsächlich abbiegt. Erforderlich ist darüber hinaus eine erkennbare, deutliche Geschwindigkeitsverringerung des Vorfahrtberechtigten, eine sichtbare Orientierung des Blinkenden nach rechts oder sonstige ausreichende Anzeichen für ein tatsächlich bevorstehendes Abbiegen des Vorfahrtberechtigten.

  3. Regelmäßig überwiegt in solchen Fällen der Haftungsanteil des Wartepflichtigen (Anschluss an OLG Hamm, Urteil vom 11. März 2003, 9 U 169/02, NJW-RR 2003, 975 und OLG Saarbrücken, Urteil vom 11. März 2008, 4 U 228/07 - 76, NJW-RR 2008, 1611), der allein auf das Blinken vertraut (hier 70:30 zu Lasten des Wartepflichtigen).

Siehe auch Irreführendes Falschblinken des Vorfahrtberechtigten und Stichwörter zum Thema Schadensersatz und Unfallregulierung


Gründe:

Der Senat beabsichtigt, die zulässige Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung durch - einstimmig gefassten - Beschluss zurückzuweisen. Die zulässige Berufung des Klägers bietet in der Sache offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Die Rechtssache hat auch weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil. Auch andere Gründe gebieten eine mündliche Verhandlung nicht.

Das angefochtene Urteil ist im Ergebnis zutreffend von einer Haftungsverteilung von 70:30 zu Lasten des Klägers ausgegangen. Dessen Berufung vermag Rechtsfehler oder aber eine fehlerhafte Tatsachenfeststellung zu seinen Ungunsten nicht aufzuzeigen.

Der Senat folgt der in der jüngeren obergerichtlichen Rechtsprechung zum Verkehrsunfallrecht vorherrschenden Auffassung, dass der Wartepflichtige nicht ohne weiteres auf ein Blinken des Vorfahrtberechtigten vertrauen darf. Dabei geht der Senat zugunsten des Klägers davon aus, dass ihm, wie allerdings von der Anschlussberufung in Zweifel gezogen, der Nachweis geglückt ist, dass die Beklagte zu 1 rechts blinkte, als sie auf der bevorrechtigten Straße weiter geradeaus fuhr.

Wie das Oberlandesgericht Saarbrücken in einer jüngeren Entscheidung (Urt. v. 11.03.2008 - 4 U 228/07, NJW-​RR 2008, 1611), auf die auch das angefochtene Urteil abstellt, ausgeführt hat, ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen sich der Wartepflichtige auf ein das Abbiegen anzeigendes Blinksignal des Vorfahrberechtigten verlassen kann, nicht einheitlich beantwortet worden.

Während die eine Auffassung darauf abstellt, dass der Wartepflichtige grundsätzlich auf das angekündigte Abbiegen vertrauen darf (etwa Hentschel/König/Dauer, StVR, 42. Aufl., § 8 StVO Rn 54 m.w.N.; BGH, Urt. v. 28.05.1974 - 4 StR 37/74, NJW 1974, 1572; OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.06.1966 - (1) Ss 150/66, juris, solange nicht konkrete Zweifel an dieser Abbiegeabsicht begründet sind), folgt der weit überwiegende Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung der Auffassung, dass der Wartepflichtige nur dann auf ein Abbiegen vertrauen darf, wenn über das bloße Betätigen des Blinkers hinaus in Würdigung der Gesamtumstände, sei es durch eine eindeutige Herabsetzung der Geschwindigkeit oder aber einen zweifelsfreien Beginn des Abbiegemanövers eine zusätzliche tatsächliche Vertrauensgrundlage geschaffen worden ist, die es im Einzelfall rechtfertigt, davon auszugehen, das Vorrecht werde nicht (mehr) ausgeübt (OLG Saarbrücken, a.a.O.; OLG Hamm, Urt. v. 11.03.2003 - 9 U 169/02, NJW-​RR 2003, 975; OLG Celle, Urt. v. 22.02.1996 - 5 U 71/95, juris; KG, Urt. v. 13.01.1992 - 12 U 5054/90, juris; OLG Oldenburg, Beschl. v. 25.05.1992 - Ss 130/92, NJW 1993, 149; OLG Düsseldorf, Urt. v. 23.03.1992 - 1 U 99/91, OLGR 1992, 189; OLG Hamm, Beschl v. 22.03.1991 - 2 Ss OWi 230/91, juris; KG, Urt. v. 29.09.1989 - 12 U 4646/88, juris; OLG Saarbrücken, Urt. v. 02.10.1981 - 3 U 109/80, juris; OLG Hamm, Beschl. v. 13.11.1980 - 3 Ss OWi 2478/80, juris; ausdrücklich offen gelassen von OLG Düsseldorf, Urt. v. 10.06.1976 - 12 U 135/75, juris; ebenso jetzt wohl auch: OLG München, Urt. v. 06.09.2013 - 10 U 2336/13, SVR 2014, 10); der Wartepflichtige darf also niemals "blindlings" (so OLG Koblenz, Urt. v. 03.04.1995 - 12 U 761/94, juris) auf das Abbiegen des Blinkenden vertrauen. Das von der Berufung angeführte Urteil des OLG München vom 19.09.1998 ist mangels korrekter Zitierung nicht auffindbar (jedenfalls unter Juris findet sich unter diesem Datum nur ein Urteil des OLG München, das sich jedoch mit ganz anderen Rechtsfragen befasst: Az. 21 U 3202/97, ZUM 1998, 1042). Auch der Leitsatz der von der Berufung als Beleg ihrer Rechtsauffassung angeführten Entscheidung des Kammergerichts (KG, Urt. v. 25.09.1989, a.a.O.) stellt im Übrigen - einschränkend im Sinne der überwiegenden Auffassung - darauf ab, dass ein Vertrauen des Wartepflichtigen dann begründet ist, wenn der Vorfahrtberechtigte rechts blinkt und sein Fahrzeug am Beginn der Einmündung nach rechts lenkt.

Der Senat folgt der überzeugenden Sichtweise der vorherrschenden Auffassung in der Rechtsprechung.

Gemäß § 8 Abs. 2 Satz 2 StVO darf der Wartepflichtige nur dann in die Vorfahrtstraße einfahren, wenn er übersehen kann, dass er den, der die Vorfahrt hat, weder gefährdet noch wesentlich behindert. Den Wartepflichtigen trifft insoweit eine gesteigerte Sorgfalt, die bedingt, dass er auch mit einem verkehrswidrigen Verhalten des Vorfahrtberechtigten rechnen muss und somit regelmäßig nur auf das Unterbleiben atypischer, grober Verstöße des Vorfahrtberechtigten vertrauen darf (OLG Saarbrücken, a.a.O.). Mit dem OLG Saarbrücken (a.a.O.) ist es den Senatsmitgliedern aus eigener jahrelanger Fahrpraxis wie auch der als Spezialsenat gewonnenen beruflichen Erfahrung mit Verkehrsunfällen bekannt, dass ein Zurückstellen des Blinkers nicht selten aus Unaufmerksamkeit unterbleibt oder fälschlich von einem in Wirklichkeit nicht vorliegenden automatischen Zurücksetzen ausgegangen wird. Das Blinken allein ist zumal angesichts der in solchen Fällen evidenten Gefahrensituation (oftmals hohe Kollisionsgeschwindigkeiten) deshalb allein noch keine ausreichende Grundlage, um auf ein tatsächliches Abbiegen des Vorfahrtberechtigten vertrauen zu können. Ein besonnen und vorausschauend agierender Verkehrsteilnehmer muss sich deshalb anhand weiterer Umstände vergewissern, ob tatsächlich ein Abbiegen bevorsteht.

Die von der Berufung bemängelte "Lebensferne" einer solchen Sichtweise vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Abgesehen davon, dass ein "dichter Landstraßenverkehr" regelmäßig einen Widerspruch in sich selbst darstellen dürfte, vermag der Senat auch keine generelle Gefahr zu erkennen, dass Pkw aus Nebenstraßen nicht mehr auf die Hauptstraße gelangen, wenn diese (keineswegs neuen, vgl. oben) Rechtsprechungsgrundsätze Anwendung finden. Vielmehr handelt es sich wegen der erheblichen Gefahren bei unzureichender Vergewisserung um eine ausgewogene Verteilung der gegenseitigen Sorgfaltsanforderungen und ein Gebot der Vernunft.

Für dergestalt ausreichendes Vertrauen begründende weitere Umstände hat der Kläger im vorliegenden Fall nichts Erhebliches vorzutragen vermocht.

Dass die Drittwiderbeklagte zu 2 mit einer so geringen Geschwindigkeit gefahren wäre, dass der Schluss auf ein Abbiegemanöver berechtigt gewesen wäre, ist nicht ersichtlich. Die Behauptung einer "langsamen" oder aber "für Landstraßen geringen" Geschwindigkeit ist zu pauschal. Dahinstehen kann dabei auch, ob die (S. 7 der Berufungsbegründung, GA 101) später konkret genannten "50-​60 km/h" eine prozessual unbeachtliche Behauptung ins Blaue hinein darstellen. Ausreichende Feststellungen zu der gefahrenen Geschwindigkeit sind im vorliegenden Fall nicht gegeben. Jedenfalls offenbaren die in der beigezogenen Strafakte enthaltenen Lichtbilder, dass sich die Kollision nur kurz hinter einem Ortsein(bzw. aus-​)gang ereignet hat. Von daher durfte die Drittwiderbeklagte zu 2 hier keinesfalls davon ausgehen, ein - unterstellt - deutlich unter 100 km/h fahrender Pkw werde abbiegen. Angesichts der Nähe zur innerörtlichen Geschwindigkeitsbegrenzung (50 km/h) konnte nämlich nicht schon mit einer erheblich höheren Geschwindigkeit gerechnet werden. Entscheidend ist - wie bereits ausgeführt - regelmäßig nicht die gefahrene Geschwindigkeit, sondern eine für den Wartepflichtigen erkennbare Geschwindigkeitsreduktion, wie etwa ein regelmäßig Abbiegevorgängen vorausgehendes Abbremsen des Vorfahrtberechtigten. Selbst wenn man zugunsten des Klägers unterstellt, dass angesichts der Straßenführung ein Abbremsen vor dem Abbiegen hier nicht zwingend erforderlich war, folgt daraus nicht - umgekehrt - ein gesteigertes Vertrauen in ein tatsächlich erfolgendes Abbiegen. Es ist auch weder konkret vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass sich der Pkw der Beklagten zuvor deutlich nach rechts orientiert hätte und somit bei der Drittwiderbeklagten zu 2 deshalb neben dem Blinken sich der Eindruck eines Abbiegens nach rechts hätte verfestigen müssen. Die in den Lichtbildern dokumentierte Kollisionsendstellung spricht jedenfalls nicht für, sondern gegen eine solche Annahme. Auch die Unfallschilderung der Drittwiderbeklagten zu 2 (beigezogene Akte, S. 10) lässt keinerlei Rückschlüsse darauf zu, dass über das bloße Blinken hinaus, Anhaltspunkte bestanden, dass die Beklagte zu 1 tatsächlich abbiegen würde. Soweit darin die Rede davon ist, dass "die Lenkerin (...) ebenfalls nach rechts deutete", kann offen bleiben, ob dieser für sich keinen Sinn ergebende Satz auf einer fehlerhaften Übertragung des (nur schlecht zu lesenden) handschriftlichen Originals beruht und dies - richtig - "Lenkung" heißen muss. Zum einen stützt sich die Berufung gar nicht (auch) auf eine nach rechts eingeschlagene Lenkung des Beklagtenfahrzeugs (bzw. ein dann erforderliches Korrigieren nach links, um die Unfallendstellung zu erklären), zum anderen wäre solches jedenfalls nicht bewiesen. Es ist aber Sache des Wartepflichtigen, diejenigen Umstände darzulegen und zu beweisen, die dafür sprechen, dass er auf ein Abbiegen und damit verbundenen Vorfahrtverzicht vertrauen durfte. Auch die Aussage des Zeugen S. bietet keinerlei Anhaltspunkte für derartige besondere Umstände.

Soweit die Berufung auch eine unterlassene Beweiserhebung rügt, ist ein erheblicher Verfahrensmangel nicht zu erkennen. Zum einen war die Behauptung einer "für freie Landstraßen geringen Geschwindigkeit" viel zu pauschal, um als relevantes Beweisthema zu dienen (vgl. oben); zum anderen ist das angebotene Beweismittel (Zeuge M.) für die Frage der gefahrenen Geschwindigkeit untauglich.

Rechtsirrig geht die Berufung schließlich davon aus, dass ein Verschulden der Drittwiderbeklagten zu 2 dem Kläger nicht zugerechnet werden dürfe. Richtig ist zwar, dass diese hier weder Erfüllungs- noch Verrichtungsgehilfin des Klägers war. Darauf kommt es aber in rechtlicher Hinsicht auch gar nicht an, weil nach dem Haftungsregime der §§ 7, 17, 18 StVG ein Verschulden des Fahrzeugführers die von dem Halter zu verantwortende Betriebsgefahr des unfallbeteiligten Pkw erhöht; ein Verschulden des Fahrzeugführers wirkt sich deshalb im Rahmen der Haftungsverteilung nach § 17 StVG zu Ungunsten des Fahrzeughalters aus. Dem Kläger ist deshalb ein unfallmitursächliches Verschulden der Drittwiderbeklagten zu 2 (hier Verstoß gegen § 8 StVO) genauso zuzurechnen wie wenn er selbst am Steuer seines Pkw gesessen hätte.

Auch die vom Landgericht ausgeurteilte Quote begegnet angesichts der Umstände des vorliegenden Einzelfalles keinen durchgreifenden Bedenken.

Das Landgericht hat sich (wohl in Anlehnung an OLG Hamm, Urt. v. 11.03.2003, a.a.O.) mit Recht auf den Standpunkt gestellt, dass der Vorfahrtverstoß schwerer wiegt als das missverständliche Blinken der Beklagten zu 1. Der Senat verkennt nicht, dass (allerdings stets maßgeblich von den Besonderheiten des Einzelfalls bestimmt) in der obergerichtlichen Rechtsprechung auch andere Haftungsquoten für angemessen erachtet worden sind (so 75:25 zugunsten des Wartepflichtigen in OLG Celle, Urt. v. 22.02.1996, a.a.O.; 50:50 in OLG Koblenz, Urt. v. 03.04.1995, a.a.O.; 70:30 zugunsten des Wartepflichtigen in OLG Saarbrücken, Urt. v. 02.10.1981, a.a.O.; aber auch Alleinhaftung (!) des Wartepflichtigen in KG, Urt. v. 13.01.1992 - 12 U 5054/90).

Mit der überzeugend begründeten Entscheidung des OLG Hamm (Urt. v. 11.03.2003, a.a.O.) geht der Senat für den vorliegenden Einzelfall davon aus, dass die Beklagte zu 1 durch das missverständliche Blinken in zeitlicher Hinsicht zwar die erste Ursache für die streitgegenständliche Kollision gesetzt hat, der Entschluss, auf die Vorfahrtstraße einzufahren beruhte aber auf der schwerer zu gewichtenden, unzureichenden Vergewisserung der Drittwiderbeklagten zu 2, ob die Beklagte zu 1 tatsächlich die bevorrechtigte Straße verlassen würde. Insoweit erscheint dem Senat die vom Landgericht ausgeurteilte Schadensteilung von 70:30 zu Lasten des Klägers als Halter des wartepflichtigen Pkw (also nur geringfügig von der Haftungsverteilung des OLG Hamm, 2/3 zu 1/3, abweichend)) als sachangemessen und nicht korrekturbedürftig (im Ergebnis ebenso: OLG München, Urt. v. 06.09.2013 - 10 U 2336/13, SVR 2014, 105).