Das Verkehrslexikon

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OLG München Urteil vom 14.02.2014 - 10 U 2815/13 - Kollision zwischen einem rückwärts ausparkenden Verkehrsteilnehmer mit einem vorbeifahrenden Fahrzeug

OLG München v. 14.02.2014: Zum Unfall zwischen einem rückwärts ausparkenden Verkehrsteilnehmer mit einem vorbeifahrenden Fahrzeug


Das OLG München (Urteil vom 14.02.2014 - 10 U 2815/13) hat entschieden:
  1. Beim Rückwärtsausparken hat der betreffende Verkehrsteilnehmer nach § 10 S. 1 StVO (Anfahren vom Straßenrand) und § 9 Abs. 5 StVO (Rückwärtsfahren) jede Gefährdung des fließenden Verkehrs auszuschließen. Kommt es zu einem Unfall mit dem bevorrechtigten fließenden Verkehr, spricht der Anscheinsbeweis für das Alleinverschulden des rückwärts Ausparkenden.

  2. Will der rückwärts Ausparkende der Alleinhaftung wenigstens teilweise entgehen, muss er den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis erschüttern, indem er vorträgt und beweist, dass er entweder bereits solange auf dem bevorrechtigten Fahrbahnteil stand, dass sich der fließende Verkehr auf ihn einstellen konnte und musste oder dass er sich so weit von der Stelle des Losfahrens entfernt und sich in seinem Fahrverhalten so dem Verkehrsfluss angepasst hatte, dass die Tatsache seines Anfahrens unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr für den weiteren Geschehensablauf ursächlich sein kann.

  3. Erschüttert ist der Anscheinsbeweis, wenn die ernsthafte Möglichkeit eines anderen als des erfahrungsgemäßen Geschehensablaufs besteht; wobei die Tatsachen, aus denen diese ernsthafte Möglichkeit hergeleitet wird, unstreitig oder bewiesen sein müssen.

  4. Behauptet der rückwärts ausparkende Verkehrsteilnehmer, er habe den Ausparkvorgang bereits seit 20 Sekunden beendet gehabt, kann dafür aber keinen Beweis erbringen, so genügt dies nicht für eine Anscheinsbeweiserschütterung.

Siehe auch Rückwärts Ausparken aus Parklücken und Anscheinsbeweis - Beweis des ersten Anscheins - Beweis prima facie


Gründe:

A.

Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).


B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.

I.

Das Landgericht ging auf Grund der von ihm rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zu Unrecht von einer Mithaftung der Klägerin für die Folgen des verfahrensgegenständlichen Unfalles aus.

1. Der Senat ist nach § 529 I Nr. 1 ZPO an die Beweiswürdigung des Erstgerichts gebunden, weil keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung vorgetragen werden.

Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung sind ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche, vgl. zuletzt BGH VersR 2005, 945; Senat, Urt. v. 09.10.2009 - 10 U 2965/09 [juris] und Urt. v. 21.06.2013 - 10 U 1206/13). Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinn ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen (BGHZ 159, 254 [258]; NJW 2006, 152 [153]; Senat a.a.O. ); bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügen nicht (BGH a.a.O. ; Senat a.a.O. ).

Ein solcher konkreter Anhaltspunkt für die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung ist von der Berufung und auch von der Berufungserwiderung nicht aufgezeigt worden.

Das Erstgericht hat zutreffend das Beweismaß des § 286 I 1 ZPO zugrunde gelegt und die insoweit geltenden Regeln beachtet. Nach § 286 I 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine - ohnehin nicht erreichbare (vgl. RGZ 15, 339; Senat NZV 2006, 261, Urt. v. 28.07.2006 - 10 U 1684/06 [juris]; v. 11.06.2010 - 10 U 2282/10 [juris = NJW-​Spezial 2010, 489 f. m. zust. Anm. Heß/Burmann) - absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (grdl. BGHZ 53, 245[256] = NJW 1970, 946, st. Rspr., insbesondere NJW 1992, 39[40] und zuletzt VersR 2007, 1429[1431 unter II 2]; Senat NZV 2003, 474 [475] [Revision vom BGH durch Beschl. v. 01.04.2003 - VI ZR 156/02 nicht angenommen]; NZV 2006, 261, Urt. v. 28.07.2006 - 10 U 1684/06 [juris]; v. 11.06.2010 - 10 U 2282/10 [juris = NJW-​Spezial 2010, 489 f. m. zust. Anm. Heß/Burmann] und Urt. v. 21.06.2013 - 10 U 1206/13).

Nach den Bekundungen beider Unfallbeteiligter parkte die Beklagte zu 1) rückwärts aus und es kam zur Kollision zwischen dem Pkw der Klägerin und dem jedenfalls teilweise auf deren Fahrspur befindlichen Pkw der Beklagten zu 1). Vom Vortrag der Beklagten, die Beklagte zu 1) sei bereits längere Zeit gestanden, als es zur Kollision kam, konnte sich das Landgericht nicht mit der erforderlichen Sicherheit überzeugen. Zutreffend weist die Berufungserwiderung vom 23.08.2013 unter Nr. 7. darauf hin, dass die Beweiswürdigung auch hinsichtlich der Angaben der Zeugin nicht zu beanstanden ist, was nicht ausschließt, dass auch eine andere Beweiswürdigung möglich gewesen wäre.

2. Nach den Feststellungen des Landgerichts ereignete sich die Kollision im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem rückwärtigen Ausparkvorgang.

a) Beim Rückwärtsausparken hat der betreffende Verkehrsteilnehmer (hier die Erstbeklagte) nach § 10 S. 1 StVO (Anfahren vom Straßenrand) und § 9 V StVO (Rückwärtsfahren) jede Gefährdung des fließenden Verkehrs auszuschließen. Kommt es zu einem Unfall mit dem bevorrechtigten fließenden Verkehr, spricht der Anscheinsbeweis für das Alleinverschulden des rückwärts Ausparkenden (vgl. statt aller OLG Frankfurt a. M. VersR 1992, 1079). Will der rückwärts Ausparkende der Alleinhaftung wenigstens teilweise entgehen, muss er den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis erschüttern, indem er vorträgt und beweist, dass er entweder bereits solange auf dem bevorrechtigten Fahrbahnteil stand, dass sich der fließende Verkehr auf ihn einstellen konnte und musste oder dass er sich so weit von der Stelle des Losfahrens entfernt und sich in seinem Fahrverhalten (Einordnen, Geschwindigkeit) so dem Verkehrsfluss angepasst hatte, dass die Tatsache seines Anfahrens unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr für den weiteren Geschehensablauf ursächlich sein kann (OLG Düsseldorf VersR 1978, 852 für 10-​12 m; OLG Köln VersR 1986, 666 für 10-​15 m; KG Urt. v. 11.05.1989 - 12 U 3044/88 [juris] und VRS 106 [2004] 443 [444] für 10-​15 m; MDR 2008, 562 für 10-​12 m; OLG Celle SP 1993, 3 für 39 m; AG Herne SP 1993, 106 für 50 m; AG Essen SP 1996, 236; AG München, Urt. v. 25.01.2013 - 344 C 8222/11 für 30 m).

b) Erschüttert ist der Anscheinsbeweis, wenn die ernsthafte (reale) Möglichkeit eines anderen als des erfahrungsgemäßen Geschehensablaufs besteht (BGHZ 8, 239 [240] = NJW 1953, 584 = DAR 1953, 55; BGH DAR 1985, 316). Die Tatsachen, aus denen diese ernsthafte Möglichkeit hergeleitet wird, müssen unstreitig oder (voll) bewiesen sein (BGHZ 6, 169 [171]; 8, 239 [240] = NJW 1953, 584 = DAR 1953, 55). Zweifel gehen zu Lasten dessen, gegen den der Anscheinsbeweis streitet. Bei erfolgreicher Erschütterung besteht wieder die beweisrechtliche Normallage (siehe dazu BGHZ 2, 1 [5]; 6, 169 [171]).

c) Eine solche Erschütterung des gegen sie sprechenden Anscheinsbeweises ist den Beklagten nach den Feststellungen des Erstgerichts nicht gelungen. Das Erstgericht hält nach umfassender Beweisaufnahme den von der Beklagten zu 1) behaupteten Fahrvorgang, wonach sie bereits 20 Sekunden nach abgeschlossenem Ausparkvorgang auf der Hauptstraße stand, nur für möglich und von der Klägerin nur nicht widerlegt (EU 6). Das genügt nicht für eine Anscheinsbeweiserschütterung. Der Vorgang des Anfahrens vom Fahrbahnrand (s.o. a)) war vorliegend offensichtlich noch nicht abgeschlossen und ein Mitverschulden der Klägerin konnten die Beklagten nicht beweisen. Die Erwägungen im Schriftsatz der Beklagten vom 23.08.2013, Nr. 6, berücksichtigen nicht, dass es nach dem Vortrag der Klagepartei (Schriftsatz vom 21.02.2013 = Bl. 69 d.A.), den die Beklagten mit der Folge des §138 III ZPO nicht bestritten haben (Schriftsatz vom 18.04.2013 = Bl. 78 d.A.), zum Unfallzeitpunkt stark regnete und der Sachverständige in seinem Ergänzungsgutachten vom 22.03.2013 (Bl. 70/74 d.A.), gegen das Einwendungen nicht erhoben wurden (Schriftsatz vom 18.04.2013 = Bl. 78 d.A.), in diesem Fall einen Reaktionsverzug der Klägerin verneinte, falls sich die Beklagte zu 1) - was die Klägerin behauptete und der Sachverständige und das Landgericht für möglich erachteten - noch in Rückwärtsfahrt befand.

3. Es ist daher auf der Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Landgerichts auf Grund abweichender rechtlicher Bewertung von einer Alleinhaftung der Beklagten auszugehen. Unter Berücksichtigung der vom Landgericht auch zur Höhe des ersatzfähigen Schadens fehlerfreien Feststellungen und Erwägungen ergeben sich die tenorierten Beträge.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 I, 100 IV ZPO.

III.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

IV.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, daß die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.