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Landgericht Essen Urteil vom 12.02.2014 - 5 O 125/13 - Fahrspurwechsel und Auffahrunfall

LG Essen v. 12.02.2014: Haftung bei Fahrspurwechsel und anschließendem Auffahren


Das Landgericht Essen (Urteil vom 12.02.2014 - 5 O 125/13) hat entschieden:
Fährt jemand auf ein vor ihm fahrendes oder stehendes Fahrzeug auf, so spricht zwar zunächst der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Auffahrende entweder den nötigen Sicherheitsabstand nicht gewahrt hat, mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist oder falsch reagiert hat. Dieser Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden ist aber entkräftet, wenn sich der Unfall in engem zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit einem Fahrspurwechsel ereignete. Ein solcher zeitlicher Zusammenhang ist auch dann gegeben, wenn der Fahrspurwechsel zwar bereits vollzogen wurde, die Fahrzeuge aber noch nicht über eine längere Zeit auf einer Spur hintereinander hergefahren sind.


Siehe auch Fahrstreifenwechsel des Vorausfahrenden und Auffahrunfall und Stichwörter zum Thema Auffahrunfälle


Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Schadensersatz in Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall, welcher sich am 11.06.2013 auf der A40 ereignete.

Die Klägerin ist Halterin eines PKW Fiat Doblo Cargo (Kleintransporter) mit dem amtlichen Kennzeichen ... im Zeitpunkt des Unfalls wurde der PKW von dem Zeugen K. gefahren. Bei dem Beklagtenfahrzeug handelt es sich um einen LKW-​Sattelkipper-​Auflieger mit dem amtlichen Kennzeichen ... Der Beklagte zu 1) war zum streitgegenständlichen Zeitpunkt Fahrer des Fahrzeugs, während die Beklagte zu 2) Halterin ist. Die Beklagte zu 3) ist die zuständige KfZ-​Haftpflichtversicherung.

Der Unfall ereignete sich wie folgt:

Der Beklagte zu 1) fuhr am Morgen des 11.06.2013 auf der A40 von Duisburg Richtung Dortmund. Die Unfallstelle befindet sich dort, wo die A40 und die A52 aufeinander treffen. An dieser Stelle ist die Autobahn dreispurig. Der Beklagte zu 1) fuhr auf der mittleren Spur. Es herrschte ein erhöhtes Verkehrsaufkommen, was zu "Stop-​and-​Go"-​Verkehr führte. Der Zeuge K. befuhr die rechte Fahrspur. Die Fahrbahnlinie zwischen den Fahrern beider Parteien war für den Beklagten zu 1) durchgezogen, für den Zeugen K. hingegen nicht. Der Zeuge K wollte mit seinem Fahrzeug auf die mittlere Spur fahren und vollzog einen Spurwechsel. Es kam zur Kollision, wobei der genaue Kollisionsablauf ist streitig ist. Unmittelbar nach dem Unfall blieben beide Fahrzeuge stehen. Die endgültige Position der Fahrzeuge ist der Polizeiskizze zu entnehmen.

Die Hauptschadenszone des LKW befand sich im vorderen rechten Bereich. Der Schaden war sehr gering. Lediglich der rechte seitliche Blinker war defekt und die rechte Stoßstange angekratzt (siehe Unfallfotos). Die Hauptschadenszone des Klägerfahrzeugs befand sich im hinteren linken Bereich. Für weitere Einzelheiten bezüglich des klägerischen Fahrzeugs wird auf das Sachverständigengutachten des B&R Sachverständigenbüros verwiesen.

Die Klägerin begehrt den Ausgleich von mehreren Schadenspositionen in Höhe von insgesamt 5962,43 € (Aufgeschlüsselt: Reparaturkosten in Höhe von 4455,03 €, Gutachterkosten in Höhe von 632,40 €, Wertminderung in Höhe von 850 € und eine Kostenpauschale in Höhe von 25 €). Zusätzlich fordert die Klägerin die Freistellung von ihren außergerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 459,40 €.

Am 25.06.2013 forderte die Klägerin mit anwaltlichem Schreiben die Beklagten zu 3) als Haftpflichtversicherer vergeblich zur Zahlung der geltend gemachten Schadenspositionen mit einer Fristsetzung bis zum 18.07.2013 auf.

Die Klägerin behauptet, der Spurwechsel sei unter Setzung des Blinkers und mit genügend Platz vollzogen worden. Der Beklagte zu 1) sei aufgrund eines Fahrfehlers auf das klägerische Fahrzeug aufgefahren. Sie ist der Ansicht, der Beklagte zu 1) trage die Schuld an dem Unfall, da die Kollision für den Zeugen K. unvermeidbar gewesen sei.

Die Klägerin beantragt,
  1. die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, an sie 5.330,03 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;

  2. die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, sie von Sachverständigenkosten in Höhe von 632,40 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit freizustellen;

  3. die Beklagten gesamtschuldnerisch zu verurteilen, sie von Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 459,40 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit freizustellen.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagten behaupten, der Spurwechsel des Zeugen K. sei unvermittelt und ohne Blinker vollzogen worden. Der Fahrstreifenwechsel habe direkt vor das von hinten herannahende Beklagtenfahrzeug geführt, obwohl eigentlich dafür kein Platz gewesen sei. Das klägerische Fahrzeug habe sich im Zeitpunkt der Kollision noch im Fahrstreifenwechsel befunden und sei dabei an der vorderen rechten Seite des LKW entlang geschrappt. Der Beklagte zu 1) selbst habe seine Spur gehalten.

Die Beklagten sind der Ansicht, der Zeuge K. habe die erforderliche doppelte Rückschaupflicht nicht beachtet. Der Unfall sei für den Beklagten zu 1) unvermeidbar gewesen.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Vernehmung des Zeugen K.. Hinsichtlich des Inhalts der Aussage wird auf das Protokoll der Sitzung vom 12.02.2014 verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die Klage ist unbegründet.

Die Klägerin hat keinen Schadensersatzanspruch aus §§ 7 I, 18 I StVG iVm § 115 I Nr. 1 VVG gegen die Beklagten zu 1)-​3).

Die grundsätzliche Haftung der Beklagten als Halter, Fahrer und Versicherer des auf der Beklagtenseite befindlichen Fahrzeugs für die eingeklagten materiellen Schäden ergibt sich aus §§ 7 I, 18 I StVG iVm § 115 I Nr. 1 VVG, denn die Schäden sind bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden, § 7 I StVG.

Aber auch die Klägerseite haftet grundsätzlich gemäß § 7 I StVG für die Unfallfolgen, die beim Betrieb ihres Kraftfahrzeugs entstanden sind. Es ist festzustellen, dass der Unfall für keinen der Beteiligten ein unabwendbares Ereignis gemäß § 17 III darstellt. Ein solches liegt nämlich nur dann vor, wenn der Fahrer jede nach den Umständen des Einzelfalls gebotene Sorgfalt beobachtet hat und auch durch diese das Unfallereignis nicht abgewendet werden konnte. Hierzu gehört auch sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln, das über den gewöhnlichen und persönlichen Maßstab hinausgeht und alle möglichen Gefahrenmomente berücksichtigt (BGH DAR 05 263). Es wird abgestellt auf das Verhalten eines besonders vorsichtigen Idealfahrers (BGH NVZ 91 185). Entsprechender Vortrag fehlt von beiden Seiten.

Die danach vorzunehmende Abwägung nach §§ 17 I + II, 18 III StVG führt dazu, dass die Beklagten nicht zum Ersatz des der Klägerin entstandenen Schadens verpflichtet sind. Denn es liegt kein typischer Auffahrunfall vor.

Fährt jemand auf ein vor ihm fahrendes oder stehendes Fahrzeug auf, so spricht zwar zunächst der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Auffahrende entweder den nötigen Sicherheitsabstand nicht gewahrt hat, mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist oder falsch reagiert hat (BGH, NJW 82, 1595; NJW 11, 685; BGH, NVZ 2007, 354, Tz.5; OLG Düsseldorf, VA 2003, 181). Dieser Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Auffahrenden ist aber entkräftet, wenn sich der Unfall in engem zeitlichem und räumlichem Zusammenhang mit einem Fahrspurwechsel ereignete (BGH, 30.11.2010, VI ZR 15/10 = MDR 2011, 157; BGH, NJW 12, 608). So liegt der Fall hier. Beide Parteien haben den Fahrstreifenwechsel des Fahrers des Klägerfahrzeugs auf die mittlere Fahrspur unstreitig gestellt. Der Beklagte zu 1) hat vorgetragen, der Unfall habe sich direkt im Zusammenhang mit dem Spurwechsel ereignet. Das Klägerfahrzeug sei noch während des Spurwechsels an der Seite des LKW entlanggeschrappt und sei dadurch beschädigt worden. Die Lücke zwischen dem LKW und dem vorwegfahrenden Fahrzeug sei sehr eng gewesen, als der Zeuge K. sein Fahrzeug vor den von hinten herannahenden LKW setzte. Diese glaubhafte Schilderung des Beklagten zu 1) ist durch die Aussage des Zeugen K. nicht widerlegt, sondern im Gegenteil sogar teilweise bestätigt worden. Der Zeuge hat ausgesagt, er habe sich aufgrund des Staus auf der A40 bemüht auf die mittlere Fahrspur zu wechseln. Er habe den Blinker gesetzt und sei rüber gezogen. Die Lücke vor dem LKW sei jedoch ausreichend groß gewesen, auch wenn sein Fahrzeug noch etwas schräg gestanden habe. Er habe 3-​10 Sekunden auf der mittleren Spur gestanden, bevor es zum Unfall gekommen sei.

Die Aussage des Zeugen ist widersprüchlich und deckt sich nicht mit den entstandenen Beschädigungen an den beteiligten Fahrzeugen. Die Hauptschadenszonen der beteiligten Fahrzeuge, hinten links und vorne rechts, sprechen für eine Kollision in Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel. Ferner sprechen die Schäden an der Seite des LKW gegen ein Auffahren. Weiterhin muss sich der Zeuge vorhalten lassen, dass es bei einer ausreichend großen Lücke nicht zu einer Schrägstellung seines Fahrzeugs im Kollisionszeitpunkt gekommen wäre.

Selbst wenn man annehmen sollte, dass sich das klägerische Fahrzeug bereits vollständig auf der mittleren Fahrbahn befunden hat, kann noch nicht von einem typischen Auffahrunfall im Sinne des § 4 StVO gesprochen werden. Dies setzt nämlich voraus, dass beide Fahrzeuge längere Zeit in einer Spur hintereinander hergefahren sind, sodass sie sich auf die Fahrbewegungen des anderen hätten einstellen können (OLG München, 10 U 964/13; LG Essen, 03.12.2009, Az. 4 O 4/08; LG Berlin, 16.03.2011, Az. 42 O 187/10). Zudem wird der zeitliche Zusammenhang zwischen Fahrstreifenwechsel und Kollision durch eine relativ kurze Zeitspanne von wenigen Sekunden nicht unterbrochen (KG, 06.05.2010, Az. 12 U 144/09; KG, 13.09.2010, Az. 12 U 208/09; Senat, NJW-​Spezial 2010, 555).

Ist aber nach dem Ergebnis der Parteianhörung und der Beweisaufnahme anzunehmen, dass der Unfall in unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Spurwechsel des Zeugen K. steht, so spricht ein Anschein eines schuldhaften Fahrfehlers gegen die Klägerin bzw. den Fahrer ihres Fahrzeugs.

Nach § 7 V StVO verlangt nämlich jeder Fahrstreifenwechsel die Einhaltung äußerster Sorgfalt, sodass die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Die strengen Sorgfaltsanforderungen beinhalten insbesondere eine ausreichende Rückschau (Innenspiegel, Außenspiegel, Schulterblick) beim Einordnen und nochmals kurz vor dem tatsächlichen Wechsel der Fahrspur. Zusätzlich muss der Wechsel rechtzeitig und deutlich durch den Fahrtrichtungsanzeiger angekündigt werden. Ereignet sich ein Unfall in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Fahrstreifenwechsel des vorausfahrenden Verkehrsteilnehmers, so spricht der Anscheinsbeweis dafür, dass dieser die ihm gemäß § 7 V StVO obliegende Sorgfaltspflicht nicht beachtet und den Unfall verursacht und verschuldet hat (Senat, NZV 2005, 527f.; OLG Düsseldorf, 17.05.2011 - I 1 U 132/10; OLG Hamm NJW-​RR 2009, 1624; KG VRS 109 10, 106 23).

Dieser gegen die Klägerin sprechende Anscheinsbeweis, konnte nicht entkräftet werden. Im Gegenteil ergibt bereits aus dem Klägervortrag, dass der Zeuge K. den erhöhten Sorgfaltsanforderungen nach § 7 V StVO nicht nachgekommen ist. Der Fahrstreifenwechsel wird ausdrücklich eingeräumt und durch die Aussage des Zeugen K. wird deutlich, dass dieser die vorliegende Verkehrssituation falsch eingeschätzt hatte und den Fahrspurwechsel ohne die gebotene Vorsicht und Sorgfalt durchführte. Der Zeuge räumte ein den LKW gesehen zu haben und gab an er habe schräg vor diesem gestanden, da ein vollständiger Spurwechsel aufgrund von Platzmangel nicht in einem Zug möglich gewesen war. Hierin liegt ein grober Verstoß gegen die nach § 7 V StVO gebotene äußerste Sorgfalt.

Die Kammer hat davon abgesehen, ein verkehrsanalytisches Sachverständigengutachten einzuholen, weil hiervon keine weitere Aufklärung in zeitlicher Hinsicht zu erwarten ist und es nach den obigen Ausführungen für die Entscheidung nicht darauf ankommt, ob das Beklagtenfahrzeug auf das Klägerfahrzeug aufgefahren ist.

Die Klägerin muss für die entstandenen Schäden alleine haften.

Grundsätzlich kann eine schwere Schuld die Betriebsgefahr oder geringe Schuld der Gegenseite ganz zurücktreten lassen (BGH VersR 65, 1075). Nach der Rechtsprechung beider Senate des Kammergerichts haftet der Vorausfahrenden bei einem sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsel in der Regel für die Unfallschäden allein. Eine Mithaftung des anderen Unfallbeteiligten kommt nur in Betracht, wenn Umstände nachgewiesen werden, die ein Mitverschulden des anderen belegen. Alleine die Betriebsgefahr rechtfertigt keine Mithaftung (Senat, NZV 2005, 527f.; OLG Jena, NZV 2006, 147; OLG Hamm, DAR 2005, 285; KG VRS 109 10; MDR 03 1228). Die Tatsache, dass es sich in diesem Fall um einen LKW mit erhöhter Betriebsgefahr handelt, rechtfertigt keine andere Beurteilung in der Sache. Das Gefährdungsverbot bei Vornahme eines Fahrstreifenwechsels stellt eine elementare Grundregel dar, deren Beachtung für den Straßenverkehr von höchster Bedeutung ist und deren Missachtung daher die vollständige Verdrängung der Betriebsgefahr des anderen Beteiligten rechtfertigt. Ein Mitverschulden der Beklagten, insbesondere des Beklagten zu 1), konnte hier auch nicht dargelegt werden. Ein Verstoß gegen die StVO durch den Beklagten zu 1) liegt nicht vor. Insbesondere hat dieser nicht gegen § 7 IV verstoßen, da es sich bei dem Fahrstreifenwechsel nicht um eine typische Einfädelung im Reißverschlussverfahren handelte. Letztlich spricht aber auch bei einer Einfädelung in den "Stop-​and-​Go"- Verkehr der Anscheinsbeweis gegen den Einfädelnden (LG Essen, 08.04.2013, Az. 15 S 48/13).

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 708 Nr. 11, 711 ZPO.