Das Verkehrslexikon

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OLG Schleswig Urteil vom 25.06.2013 - 11 U 9/13 - Verkehrssicherungspflicht und Glatteisunfall in der Nähe einer Baustelle

OLG Schleswig v. 25.06.2013: Verkehrssicherungspflicht und Glatteisunfall eines Fußgängers in der Nähe einer Baustelle


Das OLG Schleswig (Urteil vom 25.06.2013 - 11 U 9/13) hat entschieden:
Die Richtlinie für die Sicherheit von Arbeitsstellen begründet keine allgemeine Verkehrssicherungspflicht.

Einem 66-jährigen, in der Mobilität nicht eingeschränkten Verkehrsteilnehmer ist bei winterlichen Straßenverhältnissen ein Umweg von 200 m zuzumuten, sofern dieser gegenüber dem tatsächlich genutzten Weg durchgängig geräumt ist.


Siehe auch Verkehrssicherungspflicht allgemein und Verletzung der Verkehrssicherungspflicht gegenüber Fußgängern


Gründe:

I.

Die Klägerinnen verlangen von den Beklagten Schadenersatz und Feststellung der Ersatzpflicht für künftige übergangsfähige Aufwendungen wegen eines Glatteisunfalls des Versicherten H. am 5. Februar 2010. Wegen der tatsächlichen Feststellungen wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Das Landgericht hat durch Grund- und Teilurteil die Klage in den Klaganträgen zu 1), 2), 4), 5) sowie den Feststellungsantrag zu 70 % für begründet erachtet. Eine Ersatzpflicht der Beklagten zu 1) ergebe sich aus § 823 BGB i. V. m. § 116 SGB X.

Die Beklagte habe gegen die Richtlinie für die Sicherheit von Arbeitsstellen verstoßen, da sie entgegen dieser Richtlinie im Bereich der Unfallörtlichkeit keinen 1 m breiten Gehweg für den Fußgängerverkehr zur Verfügung gestellt habe. Aus der Beweisaufnahme habe sich ergeben, dass diese Möglichkeit konkret bestanden habe. Hätte die Beklagte den Gehweg zur Verfügung gestellt, hätte der Geschädigte diesen benutzen und den Weg über die Fahrbahn zur Erreichung des dortigen Fußweges vermeiden können. Der konkrete Sturz wäre dann ausgeblieben. Der Unfall beruhe aber auf einem 30%-igen Mitverschulden des Geschädigten H.. Zwar sei dem Zeugen der Fußweg über die linke Seite und eine Benutzung des Fußgängerüberweges nicht möglich gewesen. Insoweit habe die Beweisaufnahme keine klare Benutzungsmöglichkeit dieser Alternativroute ergeben. Außerdem habe er nicht auf den Umweg auf den K. zur B.-Straße verwiesen werden können. Dieser Umweg mache 200 m pro Strecke aus und sei im Hinblick auf die erweiterte Sturzgefahr nicht zumutbar. Ein Umstand für die Mithaftung bestehe aber darin, dass er sich sehenden Auges in den bekannt gefährlichen Bereich auf der F. begeben und damit das Risiko einer Selbstgefährdung in Kauf genommen habe.

Die Haftung der Beklagten zu 2) ergebe sich aus § 839, Art.34 GG i. V. m. § 116 SGB X. Sie habe es in ihrer Eigenschaft als Baulastträgerin pflichtwidrig unterlassen, für die Einhaltung des Regelplans B 1/5 RSA durch die Beklagte zu 1) zu sorgen. Sie wäre verpflichtet gewesen, dafür zu sorgen, dass der vorgeschriebene 1 m breite Gehweg durch die Beklagte zu 1) vorgehalten werde.

Gegen diese Entscheidung richten sich die wechselseitigen Berufungen der Parteien. Die Klägerinnen führen zur Begründung ihrer Berufung u. a. aus:

Die Begründung des Landgerichts zum Mitverschulden trage die Entscheidung nicht. Sie sei unvereinbar mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 20. März 2012 (VI ZR 3/11). Ein Mitverschulden käme nur in Betracht, wenn Herrn H. Umstände zur Last gelegt werden könnten, von denen feststehe, das sie eingetreten und für die Entstehung des Schadens ursächlich gewesen seien, und zwar im Sinne subjektiver Vorwerfbarkeit als Definition von Verschulden. Das Landgericht habe zutreffend festgestellt, dass für ihn schlichtweg keine Alternative bestanden habe, den gewählten Weg zu nutzen. Die Begründung des Landgerichts überzeuge umso weniger, als es im unstreitigen Tatbestand heiße, es habe allgemeine Schnee- und Eisglätte bestanden.

Die Klägerinnen beantragen,
bei Abänderung des Urteils den klageweise geltend gemachten Anspruch auch insoweit zuzusprechen, als die Klage in Höhe von 30 % der Forderung abgewiesen worden ist.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung der Klägerinnen zurückzuweisen.
Die Beklagte zu 1) führt u. a. aus:

Räum- und Streupflichten bestünden nur, soweit auf den betroffenen Gehflächen ein nicht unbedeutender Verkehr stattfinde oder diese verkehrswichtig seien. Die vorliegend betroffene Verkehrssituation sei weder verkehrswichtig gewesen, noch habe bedeutender Verkehr stattgefunden. Es seien keine konkreten Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Nutzung der alternativen Wege mit konkreten Gefahren verbunden wäre.

Soweit das Landgericht auf die Richtlinie B 1/5 RSA verweise, sei dieser keine konkrete Verkehrssicherungspflicht gegenüber dem Geschädigten zu entnehmen. Der Versicherte der Klägerinnen sei kein Anlieger. Er wohne weder in der F. noch im S..

Bei den Richtlinien handele es sich um Soll-Vorschriften, die nach Möglichkeit beachtet werden sollten. Selbst ein Verstoß gegen die Richtlinien wäre nicht kausal für den Unfall. Der Geschädigte hätte den vorhandenen Gehweg gefahrlos nutzen können und müssen.

Der Bauunternehmer sei verpflichtet, Sicherheitsvorkehrungen gegen die aus den Arbeiten entstandenen Gefahren zu treffen. Wenn die Bautätigkeit für einen längeren Zeitraum unterbrochen werde, falle eine etwaige Verkehrssicherungspflicht in diesem Zeitraum an den Auftraggeber zurück.

Schließlich sei ein weit überwiegendes Mitverschulden des Geschädigten anzunehmen. Bei erkennbaren Gefahren sei es einem Verkehrsteilnehmer und insbesondere Fußgängern zuzumuten, sich selbst hierauf einzustellen. Der Unfall habe sich im gesperrten und deutlich als Baustelle gekennzeichneten Fahrbahnbereich, der seit Monaten entsprechend beschildert und gekennzeichnet gewesen sei, ereignet.

Die Beklagte zu 2) begründet ihre Berufung wie folgt:

Der aus Gehrichtung des Versicherten gesehene, links vom S. befindliche Gehweg der F. sei zum Unfallzeitpunkt bereits fertiggestellt und begehbar gewesen. Der Gehweg rechts vom S. aus gesehen sei unstreitig gesperrt und der gegenüberliegende Bürgersteig in der F. abgestreut gewesen.

Der Beklagten zu 2) sei kein pflichtwidriges Unterlassen vorzuwerfen. Gemäß den Richtlinien seien Gehwege nach Möglichkeit, ggf. über Notwege, weiterzuführen. Gehwege sollten nach Möglichkeit in voller Breite im Arbeitsbereich fortgeführt und bei beengten Verhältnissen Mindestmaße von 1 m nicht unterschritten werden. Eine Verpflichtung, in jedem Fall einen Notweg herzurichten, ergebe sich aus den Richtlinien nicht. Vielmehr sein in erster Linie die Sicherheit der Fußgänger zu gewährleisten. Aus diesem Grund habe die Beklagte zu 1) den Gehweg rechts vom S. ordnungsgemäß und regelgerecht gesperrt bzw. abgesichert. Pflasterarbeiten im Gehwegbereich auf der nordwestlichen Seite hätten deshalb nicht abgeschlossen werden können, weil die Witterungsverhältnisse dies nicht zuließen. Die Fußgängerführung erfolge auf dem nordöstlichen Gehweg in Richtung G. auf der südlichen Straßenseite. Eine parallele Führung im Baubereich sei nicht erforderlich, da der südliche Gehweg passierbar gewesen sei. Außerdem habe den Fußgängern die Gehwegverbindung zur Innenstadt über den K. zur Verfügung gestanden.

Für die Beklagte zu 2) habe kein Grund bestanden, die Schaffung eines Geh-Notweges auf der rechten Seite der F. zu veranlassen. Baubedingt sei es im Übrigen auch nicht möglich, einen Notweg zwischen dem Baubereich und der Grundstücksgrenze herzustellen. Darüber hinaus seien die Vorbereitungsarbeiten für die Pflasterung des Gehweges bereits abgeschlossen gewesen und es hätte die Vorhaltung eines Notweges in diesem Bereich einen auch wirtschaftlich nicht zu vertretenden und mit zeitlichen Verzögerungen verbundenen Rückbau erfordert.

Schließlich sei dem Versicherten ein die Haftung ausschließendes Mitverschulden vorzuwerfen. Der Versicherte hätte die Möglichkeit gehabt, über die geräumten Wege die sichere Querung der F. im Bereich der Kreuzung G./F. zu benutzen oder über den K. zur Bahnhofstraße zu gelangen. Der Umweg sei dem Versicherten auch zumutbar gewesen. Dass sich der Versicherte der Klägerinnen bei Nutzung des Weges über den K. einem höheren Sturzrisiko ausgesetzt hätte, sei eine durch nichts begründete Annahme des Landgerichts. Weil bei winterlichen Straßen- und Wegeverhältnissen grundsätzlich die Gefahr eines Sturzes bestehe, seien von Fußgängern auch Umwege in Kauf zu nehmen.

Außerdem sei dem Versicherten ein Mitverschulden auch deshalb vorzuwerfen, weil die für ihn ersichtlich nicht abgestreute und im Ausbaustadium befindliche Fahrbahn nicht mit der erforderlichen Sorgfalt überquert worden sei. Er hätte sich in Anbetracht der Witterungsverhältnisse auf eine glatte, verborgene Stelle auf der Fahrbahn einstellen müssen.

Die Beklagten beantragen,
das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
Die Klägerinnen beantragen,
die Berufungen der Beklagten zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.


II.

Die Berufung der Beklagten ist begründet; die Berufung der Klägerinnen bleibt dagegen ohne Erfolg.

1. Die Beklagte zu 1) hat keine gegenüber dem Geschädigten H. bestehende Verkehrssicherungspflicht verletzt. Eine solche ergibt sich insbesondere nicht aus §§ 45 Abs. 2, 45 Abs. 6 StVO i. V. m. Teil A Abschnitt 1. 3. Abs. 11 der Richtlinie für Sicherheit von Arbeitsstellen (im Folgenden zitiert: RSA). Zwar hat die Beklagte zu 2) mittels Verfügung vom 15. Dezember 2009 die Beklagte zu 1) verpflichtet, im Baustellenbereich S. in Richtung F.-Straße einen ein Meter breiten Gehweg für den Fußgängerverkehr zur Verfügung zu stellen. Dieser Verpflichtung ist die Beklagte zu 1) unstreitig nicht nachgekommen. Hierin liegt aber keine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht, da in der F. ein gestreuter Bürgersteig vorhanden war.

Nach Auffassung des Senates dient die RSA vorrangig der Sicherung des Verkehrs vor Gefahren, die von der Arbeitsstelle selbst und den direkt angrenzenden Verkehrsflächen ausgehen. Diese Bewertung ergibt sich bereits aus der Vorbemerkung (Ziffer 1.1 Abs. 2). Danach dienen Sicherungsmaßnahmen an Arbeitsstellen dem Schutz der Verkehrsteilnehmer (Verkehrsbereich) und der Arbeitskräfte sowie der Geräte und Maschinen in der Arbeitsstelle (Arbeitsbereich). Folglich sollen Fußgänger vor den Gefahren der Baustelle selbst und davor geschützt werden, dass sie aufgrund des Umfanges der Baustelle die Straße benutzen müssen und infolgedessen den dort von motorisierten Fahrzeugen aller Art sowie von Radfahrern ausgehenden Gefahren ausgesetzt werden.

Nach den Feststellungen des Landgerichts, die für den Senat bindend sind, war der Gehweg rechts vom S. aus gesehen vollständig mit Stellgittern abgesperrt. Der gegenüberliegende Bürgersteig in der F. war indes gestreut und für Fußgänger begehbar (U. A. Seite 3 unten). Mithin bestand für den Geschädigten H. die Möglichkeit, nach Überschreitung des Kreuzungsbereiches auf der gegenüberliegenden Straßenseite den gestreuten Fußweg zu nutzen, um auf diesem Weg sein Ziel in der Innenstadt zu erreichen. Da die Nutzung eines Bürgersteiges der F. möglich war, bestand keine Verpflichtung der Beklagten zu 1) zur Verkehrssicherung, daneben einen Notweg vorzuhalten, um Fußgängern auch auf dieser Straßenseite ein Gehen außerhalb des eigentlichen Verkehrsbereiches zu ermöglichen.

Eine abweichende Bewertung ergibt sich auch nicht aus dem zwischen den Beklagten geschlossen Bauvertrag (36 ff. GA) Nach den dortigen Vereinbarungen sollte der Fußgängerverkehr während der Bauarbeiten in beschränktem Maße aufrechterhalten werden( 38 GA). Dies zeigt bereits die mögliche Beschränkung des Verkehrs während der Bauphase.

Der Senat verkennt bei seiner Bewertung nicht, dass der Geschädigte H., um die gegenüberliegende Straßenseite und den dort befindlichen gestreuten Gehweg zu erreichen, über den Kreuzungsbereich gehen musste. Dort bestehen zwar reduzierte Anforderungen hinsichtlich der Räum- und Streupflicht und infolgedessen ein erhöhtes Sturzrisiko. Diesem waren in gleicher Weise allerdings auch andere Fußgänger ausgesetzt, die im Kreuzungsbereich nach links statt nach rechts abbiegen wollten.

Soweit der Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auf die sich nach seiner Auffassung aus den vorliegenden Lichtbildern ergebende unzureichende und mangelhafte Räumung der Kreuzungsbereiche durch die Beklagten zu 2) während des Unfallereignisses verwiesen hat, wird verkannt, dass sämtliche Lichtbilder erst einige Tage nach dem Unfallereignis gefertigt worden sind und mithin die tatsächlichen Verhältnisse am Unfalltag nicht abzubilden vermögen. Außerdem besteht, wie bereits ausgeführt, beim Passieren eines Kreuzungsbereichs stets ein erhöhtes Sturzrisiko infolge der im Fahrbahnbereich herabgesetzten Räum- und Streupflicht.

2. Für den Fall, dass eine Pflichtverletzung der Beklagten zu 1) zu bejahen wäre, würde sich diese als nicht kausal für den eingetretenen Schaden erweisen. Dem Geschädigten hätte nach Auffassung des Senates eine sichere Alternativroute zur Verfügung gestanden. Der Geschädigte hätte den unstreitig um 200 Meter längeren Weg über den geräumten K. wählen können, um sein Ziel zu erreichen. Wegen der tatsächlichen Gegebenheiten wird auf den Kartenausdruck auf Seite 42 und 69 der Gerichtsakte verwiesen. Dieser längere Gehweg war für den zum Unfallzeitpunkte im 67. Lebensjahr befindlichen Geschädigten unter Berücksichtigung aller Umstände auch zumutbar. Er war vor dem Unfallereignis in seiner Mobilität nicht eingeschränkt. Die winterlichen Verhältnisse bestanden zum Unfallzeitpunkt bereits seit längerem. Dem Geschädigten waren der Zustand der Straßen und das Vorhandensein der Baustelle bekannt. Letztlich wird von einem heute 66-jährigen, älteren Menschen auch nichts Unzumutbares abverlangt, wenn er einen Umweg von etwa insgesamt 400 Meter zu gehen hat. Nach Auffassung des Senates sind Menschen in diesem Alter heutzutage deutlich rüstiger und mobiler als noch vor dreißig oder vierzig Jahren. Entgegen der Auffassung der Klägerinnen steht diese Beurteilung auch nicht im Widerspruch zu vorliegenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofes. Dieser hat bislang in keiner seiner Entscheidungen eine Obergrenze festgelegt, ab der sich ein Umweg als unzumutbar darstellt. Ein zwangsläufig aufgrund eines längeren Gehweges erhöhtes Sturzrisiko sieht der Senat abweichend von der Auffassung des Landgerichtes nicht. Entsprechendes ist von den Klägerinnen auch nicht dargetan worden.

3. Eine Haftung der Beklagten zu 2) kommt nicht in Betracht, da es bereits an der Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht durch die Beklagte zu 1) mangelt.

4. Nach alledem kann es dahinstehen, ob ein Anspruch der Klägerinnen ohnehin wegen eines ganz überwiegenden Mitverschuldens ihres Versicherten an der Schadensentstehung zu versagen wäre.

Die Revision wird zugelassen.

Ob und in welchem Umfang die RSA Verkehrssicherungspflichten zu begründen vermag, ist obergerichtlich bislang noch nicht entschieden worden. Dies gilt auch für die Frage, ob ein Umweg von 200 m einem älteren Verkehrsteilnehmer zuzumuten ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97, 91 ZPO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 ZPO.



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