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OLG Stuttgart Beschluss vom 09.08.2013 - 13 U 92/13 - Versäumung der Berufungsbegründungsfrist und Anforderungen an eine ordnungsgemäße Büroorganisation

OLG Stuttgart v. 09.08.2013: Versäumung der Berufungsbegründungsfrist und Anforderungen an eine ordnungsgemäße Büroorganisation


Das OLG Stuttgart (Beschluss vom 09.08.2013 - 13 U 92/13) hat entschieden:
  1. Die Entscheidung, ob im konkreten Fall überhaupt ein Rechtsmittel gegeben ist und eine Frist im Kalender eingetragen werden soll, muss der Rechtsanwalt in jedem Einzelfall selbst treffen. Deshalb muss er auch in jedem einzelnen Fall selbst die mündliche oder - besser - schriftliche Weisung erteilen, dass eine Rechtsmittelfrist im Kalender einzutragen ist.

  2. Der Rechtsanwalt muss seine Bürokräfte sorgfältig auswählen, belehren und auf ihre Eignung und Zuverlässigkeit hin laufend überwachen. Fristennotierung und -überwachung müssen durch geeignete Stichproben überprüft werden, außer bei langjährig fehlerfrei arbeitenden Kräften. Insbesondere muss er durch allgemeine Anweisungen für eine einwandfreie Büroorganisation sorgen. Hierzu gehört insbesondere, dass er allgemeine Anweisungen über die Führung des Fristenkalenders erteilt.

Siehe auch Anwaltsverschulden - Haftung des Rechtsanwalts gegenüber dem Mandanten und Fristenkontrolle und Fristennotierung in der Anwaltskanzlei


Gründe:

I.

Der Kläger macht gegenüber der Beklagten Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit einer begonnenen Reparatur eines Fahrzeugs geltend.

Durch Urteil der Einzelrichterin der 14. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart vom 06.05.2013 wurde die Klage abgewiesen. Auf die tatsächlichen Feststellungen des erstinstanzlichen Urteils wird Bezug genommen.

Gegen das dem damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers ausweislich des Empfangsbekenntnisses (Bl. 154) am 07.05.2013 zugestellte Urteil legte der erstmals für das Berufungsverfahren beauftragte Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 06.06.2013, der am gleichen Tag beim Oberlandesgericht Stuttgart einging, Berufung ein.

Durch Verfügung des Vorsitzenden des erkennenden Senats vom 09.07.2013, die dem Prozessbevollmächtigten des Klägers ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 12.07.2013 zugestellt wurde (Bl. 166), wurde der Kläger darauf hingewiesen, dass die Berufung nicht innerhalb der Berufungsbegründungsfrist begründet worden sei und der Senat daher beabsichtige, die Berufung kostenpflichtig als unzulässig zu verwerfen.

Durch Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 18.07.2013, der am gleichen Tag beim Oberlandesgericht Stuttgart einging, beantragte der Kläger, ihm gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Zugleich wurde die Berufung begründet.

Der Kläger beantragt:
    1. Unter Abänderung des am 06.05.2013 verkündeten Urteils des Landgerichts Stuttgart wird der Beklagte verurteilt, an den Kläger 15.561,99 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. aus 4.561,99 EUR ab dem 17.01.2012 sowie 215,65 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz p.a. ab Rechtshängigkeit zu bezahlen.

  1. Unter Abänderung des am 06.05.2013 verkündeten Urteils des Landgerichts Stuttgart wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger einen über den Betrag von 15.561,99 EUR hinausgehenden Schaden aus der von dem dem Beklagten ab dem 19.04.2011 an dem Pkw VW Touareg R 5 TDI, Fahrzeug-Ident-Nr. ..., durchgeführten Fehlersuche, mit Aus- und Einbau Pumpe/Düse zu ersetzen.
Auf den Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 18.07.2013 (Bl. 167 ff.) wird Bezug genommen.


II.

Die Berufung des Klägers war gemäß § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig zu verwerfen, da er die Berufung nicht innerhalb der Berufungsbegründungsfrist, die am 08.07.2013 abgelaufen ist, begründet hat, § 520 ZPO.

Dem Kläger war auch keine Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist zu gewähren. Der mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten am 18.07.2013 zulässige, insbesondere fristgerecht gestellte Wiedereinsetzungsantrag (§§ 234, 236 ZPO) war als unbegründet zurückzuweisen, da die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 233 ZPO durch den Kläger nicht dargetan wurden. Hiernach ist einer Partei auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn sie ohne ihr Verschulden verhindert war, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten. Nach § 85 Abs. 2 ZPO wird ihm dabei ein Verschulden seines Prozessbevollmächtigten und dessen Vertreter voll zugerechnet. Als seine Vertreter gelten allerdings nicht die Hilfspersonen eines Rechtsanwalts; deren Verschulden wird dem Kläger nicht zugerechnet (BayObLG NJW-RR 1990, 1432; Zöller/Greger, ZPO, 29. Aufl., § 233 Rn. 13, 23 unter Angestellte).

1. Der Kläger hat seinen Antrag, ihm Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist zu gewähren, mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 18.07.2013 im Wesentlichen wie folgt begründet:

Das Büro seines Prozessbevollmächtigten liege in der Innenstadt der Stadt G., die in der 23. Kalenderwoche vollständig überflutet gewesen sei. Bis einschließlich Dienstag, den 04.06.2013, habe das Bürogebäude seines Prozessbevollmächtigten nicht betreten werden können. Auch an den folgenden Tagen sei der Bürobetrieb im Wesentlichen eingestellt gewesen. Strom- und Telefonverbindungen seien unterbrochen gewesen. Mit einem Notstromaggregat habe ab Donnerstag, den 06.06.2013, ein Telefaxgerät vorübergehend betrieben werden können. Die Stromzufuhr sei jedoch immer wieder zusammengebrochen. Aus diesem Grunde habe auch entweder nur ein Telefaxgerät oder ein Rechner betrieben werden können, nicht aber beide Geräte gleichzeitig.

Da die Rechtsanwaltsfachangestellte L. selbst privat von der Flut betroffen gewesen sei, sei lediglich die Rechtsanwaltsfachangestellte R. zeitweise im Büro gewesen. Die Rechtsanwälte L. seien mit Aufräum- und Organisationsarbeiten befasst gewesen. In dieser Situation habe sein Prozessbevollmächtigter am 06.06.2013 den Auftrag erhalten, gegen das am 06.05.2013 verkündete Urteil des Landgerichts Stuttgart Berufung einzulegen. Im Stehen habe anschließend sein Prozessbevollmächtigter den Berufungsschriftsatz diktiert, den die Rechtsanwaltsfachangestellte R. anschließend geschrieben und nachmittags per Telefax an das Oberlandesgericht Stuttgart übermittelt habe.

Die Akten, die Frau R. notdürftig am 06. und 07.06.2013 bearbeitet habe, habe Frau R. am Montag, den 10.06.2013 an Frau L. insoweit übergeben wollen, als es sich um Akten gehandelt habe, die Rechtsanwalt D. bearbeitet habe. Frau L. sei in der Kanzlei Rechtsanwalt D. zugeordnet. In diesem Zusammenhang habe Frau R. auch mit Frau L. die Fristen in den Terminkalender und dann - soweit möglich - in den elektronischen RA-Micro-Kalender eintragen wollen.

Am 08.06.2013 sei das private Grundstück von Frau R. durch das Hochwasser überflutet worden, weshalb sie für den 10.06.2013 Urlaub erhalten habe, um die auf ihrem privaten Grundstück erforderlichen Aufräumarbeiten voranzutreiben. Infolgedessen sei es nicht zu der für Montag, den 10.06.2013 vorgesehenen Abstimmung mit Frau L. gekommen. Frau L. habe daher nicht festgestellt, dass die Berufungsbegründungsfrist für den hier anhängigen Rechtsstreit noch nicht eingetragen gewesen sei.

Vom 27.06.2013 bis 10.07.2013 sei Rechtsanwalt D. und seit 01.07.2013 sei auch die Rechtsanwaltsfachangestellte L. arbeitsunfähig erkrankt. Die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist sei die Folge einer erheblichen Störung der Arbeitsabläufe in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten, die ihre Ursache in den Auswirkungen der Hochwasserkatastrophe 2013 und den anschließenden Erkrankungen des sachbearbeitenden Rechtsanwalts D. und seiner unmittelbaren Mitarbeiterin Frau L. gehabt hätten.

2. Die Voraussetzungen, dem Kläger Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist zu gewähren, liegen nicht vor. Entgegen der Ansicht des Klägers hat er durch seinen Sachvortrag nicht auszuräumen vermocht, dass die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auf einem Verschulden seines Prozessbevollmächtigten, das ihm gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen ist, beruhe.

a) Der Kläger hat nicht aufgezeigt, dass sein Prozessbevollmächtigter den Beginn der Berufungsbegründungsfrist ermittelt habe, obwohl dies im vorliegenden Rechtsstreit geboten gewesen wäre. Bei der Ermittlung der Frist muss der Rechtsanwalt etwaige Zweifel, insbesondere hinsichtlich des Beginns der Frist, durch Rückfrage bei Gericht oder beim Rechtsanwalt der Vorinstanz ausräumen (Zöller/Greger, a.a.O., § 233 Rn. 23 unter Fristenbehandlung). Nachdem der Prozessbevollmächtigte des Klägers erstmals für das Berufungsverfahren mandatiert wurde, konnte er nicht ersehen, wann das erstinstanzliche Urteil dem damaligen Prozessbevollmächtigten zugestellt worden war, sodass er durch eine Rückfrage bei dem damaligen Prozessbevollmächtigten dies hätte klären müssen, um den Beginn der Berufungsbegründungsfrist, die gemäß § 520 Abs. 2 ZPO mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils zu laufen beginnt, ermitteln zu können.

b) Ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten des Klägers, das ihm gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen ist, ist auch darin zu sehen, dass er nicht gegenüber seinen Büroangestellten für das hier zu entscheidende Berufungsverfahren die Weisung erteilt hat, eine Rechtsmittelfrist im Kalender einzutragen. Zwar darf ein Rechtsanwalt die Berechnung und Eintragung der in der betreffenden Kanzlei üblichen Fristen seinem gut ausgebildeten und sorgfältig überwachten Büropersonal überlassen, doch schließt dies nicht die Entscheidung darüber ein, ob im konkreten Fall überhaupt ein Rechtsmittel gegeben ist und eine Frist im Kalender eingetragen werden soll. Die Beurteilung dieser Frage muss der Rechtsanwalt in jedem Einzelfall selbst treffen. Deshalb muss er auch in jedem einzelnen Fall selbst die mündliche oder - besser - schriftliche Weisung erteilen, dass eine Rechtsmittelfrist im Kalender einzutragen ist (BGH NJW 1980, 1846; BayObLG, NJW-RR 1990, 1432; Zöller/Greger, a.a.O., § 233 Rn. 23 unter Fristenbehandlung). Dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers diese Weisung im hier anhängigen Berufungsverfahren erteilt habe, hat der Kläger nicht dargetan.

c) Selbst wenn der Kläger dargetan hätte, dass sein Prozessbevollmächtigter den Zeitpunkt der Zustellung des erstinstanzlichen Urteils bei dem damaligen Prozessbevollmächtigten ermittelt und den Büroangestellten die konkrete Weisung erteilt hätte, die Berufungsbegründungsfrist im Fristenkalender einzutragen, hätte er ein Verschulden seines Prozessbevollmächtigten, das in einer mangelhaften Büroorganisation liegen kann, nicht ausgeräumt.

Der Rechtsanwalt muss seine Bürokräfte sorgfältig auswählen, belehren - insbesondere hinsichtlich Zustellungen und Fristen - und auf ihre Eignung und Zuverlässigkeit hin laufend überwachen. Fristennotierung und -überwachung müssen durch geeignete Stichproben überprüft werden, außer bei langjährig fehlerfrei arbeitenden Kräften. Insbesondere muss er durch allgemeine Anweisungen für eine einwandfreie Büroorganisation sorgen. Hierzu gehört insbesondere, dass er allgemeine Anweisungen über die Führung des Fristenkalenders - insbesondere die Anordnung, dass Fristen alsbald nach Beginn ihres Laufs zu notieren sind - erteilt. Dass der Prozessbevollmächtigte diesen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Büroorganisation genügt habe, ist in dem Wiedereinsetzungsgesuch darzutun (Zöller/Greger, a.a.O., § 233 Rn. 23 unter Büropersonal und -organisation, § 236 Rn. 6; vgl. auch BGH NJW 2002, 2180; MDR 2005, 947).

Der Kläger hat nichts dazu vorgetragen, dass sein Prozessbevollmächtigter diese Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Büroorganisation geschaffen habe. Insbesondere hat er nicht aufgezeigt, dass durch allgemeine Anweisungen eine ordnungsgemäße Führung des Fristenkalenders sichergestellt und dies stichprobenartig überprüft worden sei oder davon habe abgesehen werden können, weil es sich bei den Büromitarbeitern seines Prozessbevollmächtigten um langjährig fehlerfrei arbeitende Kräfte handele. Daher ist nach dem Vortrag des Klägers nicht ausgeschlossen, dass die mangelhafte Führung des Fristenkalenders (auch) auf eine mangelhafte Büroorganisation zurückzuführen ist.

d) Anzumerken ist, dass sich die Erkrankung des Prozessbevollmächtigten des Klägers ab 27.06.2013 nicht auf das unter Ziff. 2 a bis c beschriebene schuldhafte Verhalten des Prozessbevollmächtigten ausgewirkt hat, da er es bereits vor diesem Zeitpunkt schuldhaft unterlassen hatte, eine ordnungsgemäße Eintragung der Berufungsbegründungsfrist im Fristenkalender sicherzustellen. Aus diesem Grund konnte sich auch die Erkrankung der Rechtsanwaltsfachangestellten L. ab 01.07.2013 nicht auswirken.


III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.