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BGH Urteil vom 16.09.2014 - VI ZR 55/14 - Rechtliches Gehör und Zulassung der Revision

BGH v. 16.09.2014: Rechtliches Gehör und Zulassung der Revision


Der BGH (Urteil vom 16.09.2014 - VI ZR 55/14) hat entschieden:
Lässt das Berufungsgericht auf eine Anhörungsrüge hin die Revision nachträglich zu, bindet die Zulassungsentscheidung das Revisionsgericht nicht, wenn bei der vorangegangenen Entscheidung, die Revision nicht zuzulassen, ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht vorgelegen hat.


Siehe auch Rechtliches Gehör und Stichwörter zum Thema Zivilprozess


Tatbestand:

Die Parteien streiten um restliche Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 23. Februar 2012. Die volle Einstandspflicht der Beklagten ist dem Grunde nach unstreitig. Im Streit steht insbesondere die Höhe der Nettoreparaturkosten, die der Kläger fiktiv auf Gutachtenbasis ersetzt verlangt.

Der Kläger hat diese für sein viereinhalb Jahre altes Fahrzeug mit 4.376,36 € beziffert und mit der Klage nach Erstattung eines Teilbetrags in Höhe von 3.453,82 € durch die Beklagte einen Restbetrag von 922,54 € sowie restliche Sachverständigenkosten in Höhe von 120,81 € verlangt. Der von ihm berechnete Betrag sind die Kosten, welche eine markengebundene BMW-Werkstatt, die 1,2 km entfernt von seinem Wohnsitz ist, verlangen würde. Demgegenüber meint die Beklagte, dem Kläger seien nur Kosten zu erstatten, welche eine von ihr benannte Werkstatt in Rechnung stelle, die eine gleichwertige Reparaturmöglichkeit biete.

Das Amtsgericht hat der Klage in Höhe von 27,71 € stattgegeben und sie im Übrigen abgewiesen. Das Landgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat in seinem Urteil, welches dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 10. Dezember 2013 zugestellt worden ist, die Revision nicht zugelassen, da die Kammer bereits in einer anderen Sache mit identischer Rechtsfrage die Revision zugelassen habe. Auf die "Gehörsrüge" des Klägers hat es durch Beschluss vom 13. Januar 2014 die Revision zugelassen. Mit der am 10. Februar 2014 eingelegten Revision verfolgt der Kläger seinen Berufungsantrag auf Zahlung weiterer 1.015,64 € weiter.


Entscheidungsgründe:

I.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht dem Kläger gemäß § 7 StVG, § 823 BGB, § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG kein über den vom Amtsgericht zuerkannten Betrag hinausgehender Anspruch zu. Dem Kläger sei eine Reparatur seines Fahrzeugs in der von der Beklagten benannten Werkstatt nach § 254 Abs. 2 BGB zumutbar. Diese entspreche vom Qualitätsstandard her der Reparatur in einer markengebundenen Fachwerkstatt und die behaupteten Reparaturkosten beinhalteten keine Sonderkonditionen. Aus dem Vortrag des Klägers ergäben sich keine Umstände, die die Annahme einer Unzumutbarkeit rechtfertigten. Das Fahrzeug habe im Unfallzeitpunkt bereits ein Alter von viereinhalb Jahren gehabt. Der Kläger habe nicht vorgetragen, dass er das Fahrzeug durchgehend in einer markengebundenen Fachwerkstatt habe reparieren und warten lassen. Die benannte Werkstatt biete einen kostenlosen Hol- und Bringservice an, so dass auch die Entfernung von ca. 20 km zwischen dem Wohnort des Geschädigten und der von dem Schädiger benannten Werkstatt zumutbar sei.

Auf die Gehörsrüge des Klägers sei die Revision zugelassen worden, weil die Kammer es versehentlich unterlassen habe, dem Prozessbevollmächtigten des Klägers rechtliches Gehör zur Frage der Zulassung der Revision zu gewähren. Diese Gehörsverletzung sei auch entscheidungserheblich. Denn in einem am gleichen Verhandlungstag verhandelten Rechtsstreit mit identischer Rechtsfrage habe die Kammer die Revision zugelassen. Hätte der Kläger im Falle des ihm gewährten rechtlichen Gehörs darauf hingewiesen, dass er selbst im Falle einer erfolgreichen Revision in der Parallelsache seine ihm danach zustehenden Ansprüche bei Nichtzulassung der Revision in seinem Rechtsstreit nicht mehr würde durchsetzen können, hätte die Kammer das Rechtsmittel auch hier zugelassen und nicht nur auf die einmalig zu klärende Rechtsfrage abgestellt.


II.

Die Revision ist unzulässig, weil die Zulassungsentscheidung unstatthaft und verfahrensrechtlich nicht bindend ist.

1. Das Revisionsgericht ist gemäß § 543 Abs. 2 Satz 2 ZPO grundsätzlich an die Zulassung auch dann gebunden, wenn die seitens des Berufungsgerichts für maßgeblich erachteten Zulassungsgründe aus Sicht des Revisionsgerichts nicht vorliegen. Durfte die Zulassung dagegen verfahrensrechtlich überhaupt nicht ausgesprochen werden, ist sie unwirksam. Das gilt auch für eine prozessual nicht vorgesehene nachträgliche Zulassungsentscheidung, die die Bindung des Gerichts an seine eigene Endentscheidung gemäß § 318 ZPO außer Kraft setzen würde (vgl. BGH, Urteile vom 4. März 2011 - V ZR 123/10, NJW 2011, 1516 Rn. 4; vom 1. Dezember 2011 - IX ZR 70/10, NJW-RR 2012, 306 Rn. 7). So kann die versehentlich unterlassene Zulassung nicht durch ein Ergänzungsurteil gemäß § 321 ZPO nachgeholt werden. Befasst sich das Berufungsurteil nämlich nicht ausdrücklich mit der Zulassung, spricht es damit aus, dass die Revision nicht zugelassen wird, und zwar auch dann, wenn das Berufungsgericht die Möglichkeit der Zulassung gar nicht bedacht hat. Auch die Zulassung in einem Berichtigungsbeschluss gemäß § 319 ZPO bindet das Revisionsgericht nicht, wenn sich aus dem Urteil selbst keine - auch für Dritte erkennbare - offenbare Unrichtigkeit ergibt (vgl. Senatsurteil vom 8. Juli 1980 - VI ZR 176/78, BGHZ 78, 22 f.; Senatsbeschluss vom 11. Mai 2004 - VI ZB 19/04, VersR 2004, 1625; BGH, Urteil vom 4. März 2011 - V ZR 123/10, aaO; Beschluss vom 29. April 2013 - VII ZB 54/11, NJW 2013, 2124 Rn. 10). Nichts anderes gilt, wenn das Berufungsgericht - wie hier - seine bewusste Entscheidung, die Revision nicht zuzulassen, verfahrensfehlerhaft aufgrund einer Anhörungsrüge gemäß § 321a ZPO ändert (vgl. BGH, Urteil vom 4. März 2011 - V ZR 123/10, aaO; vom 1. Dezember 2011 - IX ZR 70/10, aaO).

2. Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist schon deshalb verfahrensfehlerhaft, weil es nicht durch Beschluss entscheiden durfte, sondern gemäß § 321a Abs. 5 Satz 2 ZPO erneut in die mündliche Verhandlung eintreten und gemäß § 321a Abs. 5 Satz 3 ZPO i.V.m. § 343 ZPO durch Urteil entscheiden musste. Ob dies für sich genommen einer wirksamen Zulassung entgegensteht, kann offen bleiben. Denn auch in der Sache lagen die Voraussetzungen für eine Entscheidung gemäß § 321a ZPO nicht vor.

a) Die Anhörungsrüge räumt dem Gericht keine umfassende Abhilfemöglichkeit ein, sondern dient allein der Behebung von Verstößen gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör. Daran fehlt es hier. Die unterbliebene Zulassung der Revision als solche kann den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzen, es sei denn, auf die Zulassungsentscheidung bezogener Vortrag der Parteien ist verfahrensfehlerhaft übergangen worden (vgl. BGH, Urteil vom 4. März 2011 - V ZR 123/10, aaO Rn. 6; Beschluss vom 29. Januar 2009 - V ZB 140/08, WM 2009, 756 Rn. 5; BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 2007 - 1 BvR 730/07, NJW-RR 2008, 75, 76). Art. 103 Abs. 1 GG soll sichern, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die auf mangelnder Kenntnisnahme oder Erwägung des Sachvortrags der Prozessbeteiligten beruhen. Sein Schutzbereich ist auf das von dem Gericht einzuhaltende Verfahren, nicht aber auf die Kontrolle der Entscheidung in der Sache gerichtet (vgl. BGH, Urteil vom 4. März 2011 - V ZR 123/10, aaO; BVerfG, aaO, 75 f.).

b) Entgegen der Auffassung des Landgerichts liegt offensichtlich keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vor, die für die Ablehnung der Zulassung im Urteil vom 20. November 2013 erheblich war. Gemäß dem Protokoll hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 20. November 2013 beantragt, die Revision gegen ein Urteil der Kammer zuzulassen. Am Schluss der Sitzung hat das Landgericht sein Urteil verkündet und die Revision nicht zugelassen. Die Begründung des Urteils zeigt, dass das Landgericht bewusst die Nichtzulassungsentscheidung getroffen hat, weil es in anderer Sache mit identischer Rechtsfrage die Revision zugelassen hat. Unter diesen Umständen ist offensichtlich, dass nicht ein Klägervortrag übergangen wurde, welcher für die Zulassungsentscheidung erheblich wurde. Die Annahme einer Gehörsverletzung im Beschluss des Landgerichts dient offensichtlich nur dazu, eine fehlerhafte Zulassungsentscheidung zu korrigieren, ohne dass die Voraussetzungen für eine Gehörsverletzung im Sinne des § 321a ZPO gegeben waren. Zwar hat der Kläger mit seiner "Gehörsrüge" auch eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 1 GG geltend gemacht und kann auch eine willkürlich unterbliebene Zulassung den Anspruch auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzen sowie den Anspruch auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes berühren (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip). Die Verletzung dieser Verfahrensgrundrechte kann aber nicht Gegenstand der auf Gehörsverstöße beschränkten Anhörungsrüge sein (vgl. BGH, Urteil vom 4. März 2011 - V ZR 123/10, aaO Rn. 8).

3. Die Zulassungsentscheidung führt auch nicht als Entscheidung über eine analog § 321a ZPO erhobene Rüge der Verletzung anderer Verfahrensgrundrechte zu einer bindenden Zulassung der Revision.

a) Allerdings hat der Bundesgerichtshof die auf eine Gegenvorstellung hin ausgesprochene Zulassung der Rechtsbeschwerde in analoger Anwendung von § 321a ZPO unter der Voraussetzung für zulässig erachtet, dass die Zulassung zuvor willkürlich unterblieben ist, und hat dies aus dem Anspruch des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hergeleitet (BGH, Beschlüsse vom 19. Mai 2004 - IXa ZB 182/03, NJW 2004, 2529 f.; vom 4. Juli 2007 - VII ZB 28/07, NJW-RR 2007, 1654 Rn. 3, 6; vom 11. Juli 2007 - IV ZB 38/06, VersR 2008, 274 Rn. 4; offengelassen - jeweils Urteile betreffend - von BGH, Urteile vom 4. März 2011 - V ZR 123/10, aaO Rn. 9; vom 1. Dezember 2011 - IX ZR 70/10, aaO Rn. 12 f.; Beschluss vom 19. Januar 2006 - I ZR 151/02, NJW 2006, 1978 f.). Dies kommt hier in Betracht, weil das Berufungsgericht in einem am gleichen Tag verhandelten Rechtsstreit mit identischer Rechtsfrage die Revision zugelassen hat.

b) Die Rechtsprechung zur nachträglichen Zulassung der Rechtsbeschwerde in analoger Anwendung von § 321a ZPO kann aber nicht auf die Zulassung der Revision übertragen werden. Gegen einen Beschluss ist die Rechtsbeschwerde statthaft, wenn dies im Gesetz ausdrücklich bestimmt ist oder das Beschwerdegericht, das Berufungsgericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug sie in dem Beschluss zugelassen hat (§ 574 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Demgegenüber kann die Nichtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht grundsätzlich durch eine Nichtzulassungsbeschwerde angefochten werden (§ 544 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Mithin bedarf es grundsätzlich bei der Nichtzulassung der Revision anders als bei einem Beschluss nicht des außerordentlichen Rechtsbehelfs der Gegenvorstellung, um sich gegen die Nichtzulassung der Revision zu wenden, jedenfalls dann, wenn der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer gemäß § 26 Nr. 8 EGZPO erreicht ist.

Diese gesetzliche Regelung entspricht den Anforderungen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Danach genügen außerhalb des geschriebenen Rechts geschaffene außerordentliche Rechtsbehelfe den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit nicht. Die Rechtsbehelfe müssen in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für den Bürger erkennbar sein. Es verstößt grundsätzlich gegen die Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit, wenn die Rechtsprechung außerordentliche Rechtsbehelfe außerhalb des geschriebenen Rechts schafft, um tatsächliche oder vermeintliche Lücken im bisherigen Rechtsschutzsystem zu schließen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 30. April 2003 - 1 PBvU 1/02, BVerfGE 107, 395, 416; vom 16. Januar 2007 - 1 BvR 2803/06, NJW 2007, 2538 Rn. 5). Demgemäß ist es nach der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung ausgeschlossen, gesetzlich geregelte Bindungen des Gerichts an seine eigenen Entscheidungen, wie insbesondere die Innenbindung während des laufenden Verfahrens nach § 318 ZPO, ohne gegenläufige gesetzliche Grundlage zu übergehen. Vor allem ist dann, wenn ein Gericht auf eine Gegenvorstellung an seiner eigenen, von ihm selbst als fehlerhaft erkannten Entscheidung nicht festhalten will, zu beachten, dass die Lösung des hier zu Tage tretenden Konflikts zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit in erster Linie dem Gesetzgeber übertragen ist. Dies gilt insbesondere für gerichtliche Entscheidungen, die ungeachtet etwaiger Rechtsfehler nach dem jeweiligen Verfahrensrecht in Rechtskraft erwachsen und deshalb weder mit ordentlichen Rechtsbehelfen angegriffen noch vom erkennenden Gericht selbst abgeändert werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. November 2008 - 1 BvR 848/07, BVerfGE 122, 190, 203).

Die vorstehenden Ausführungen sprechen dafür, jedenfalls bei Nichtzulassung der Revision auch in dem hier gegebenen Fall, in dem der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer (§ 26 Nr. 8 EGZPO) nicht erreicht ist, nicht den außerordentlichen Rechtsbehelf der Gegenvorstellung zuzulassen (vgl. auch BFH, Beschluss vom 1. Juli 2009 - V S 10/07, BFHE 225, 310 = NJW 2009, 3053 Rn. 14).