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OLG Jena Beschluss vom 31.07.2008 - 1 Ws 315/08 - Statthaftigkeit und Prüfungsmaßstab bei einer Beschwerde gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach Erlass des Berufungsurteils
OLG Jena v. 31.07.2008: Statthaftigkeit und Prüfungsmaßstab bei einer Beschwerde gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach Erlass des Berufungsurteils
Das OLG Jena (Beschluss vom 31.07.2008 - 1 Ws 315/08) hat entschieden:
- Gegen die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach Erlass des Berufungsurteils ist die Beschwerde statthaft.
- Das Beschwerdegericht hat jedoch nur zu prüfen, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des § 69 StGB vorliegen und die Strafkammer von dem ihr im Rahmen der Entscheidung nach § 111a StPO zustehenden Ermessen rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht hat.
Siehe auch Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und Stichwörter zum Thema Fahrerlaubnis und Führerschein
Gründe:
I.
Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Gera vom 25.06.2007 wurde gegen die Angeklagte wegen einer Ordnungswidrigkeit gemäß §§ 1 Abs. 2, 49 Abs. 1 Nr. 1 StVO, 24 StVG sowie wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort und Vortäuschen einer Straftat eine Geldbuße von 35,00 EUR sowie eine Gesamtgeldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 25,00 EUR festgesetzt. Zugleich wurde die Fahrerlaubnis entzogen und eine Sperrfrist von 8 Monaten festgesetzt.
Den gegen diesen Strafbefehl form- und fristgerecht eingelegte Einspruch beschränkte die Angeklagte in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Gera auf den Rechtsfolgenausspruch. Das Verfahren wegen der Ordnungswidrigkeit wurde gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt.
Durch Urteil des Amtsgerichts Gera vom 28.01.2008 wurde gegen die Angeklagte wegen unerlaubtem Entfernens vom Unfallort in Tatmehrheit mit Vortäuschen einer Straftat eine Gesamtgeldstrafe in Höhe von 70 Tagessätzen zu je 11,00 EUR verhängt. Ihr wurde die Fahrerlaubnis entzogen und es wurde eine Sperrfrist von 6 Monaten festgesetzt. Gegen das Urteil legte die Angeklagte Berufung ein.
Mit Urteil vom 03.07.2008 verwarf das Landgericht Gera die Berufung. Ausweislich des Protokolls der Berufungshauptverhandlung wurde die Angeklagte nach der Urteilsverkündung durch den Vorsitzenden der Kammer darauf hingewiesen, dass das Gericht bereits im Rahmen der Urteilsverkündung die Fahrerlaubnis vorläufig habe entziehen wollen. Hiervon habe das Gericht jedoch abgesehen, um der Angeklagten noch in der folgenden Woche die Regelung privater und beruflicher Dinge zu erleichtern. Ein entsprechender Beschluss bleibe deshalb für den Fall des Nichteintritts der Rechtskraft ausdrücklich vorbehalten.
Mit Schriftsatz vom 09.07.2008, eingegangen beim Landgericht Gera am 10.07.2008, legte der Verteidiger der Angeklagten Revision ein.
Mit Beschluss vom 11.07.2008 entzog das Landgericht Gera der Angeklagten die Fahrerlaubnis vorläufig gemäß § 111a StPO. Der hiergegen gerichteten Beschwerde der Angeklagten vom 15.07.2008 hat das Gericht durch Beschluss vom 16.07.2008 nicht abgeholfen.
Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft beantragt in ihrer Stellungnahme vom 20.03.2008 die Beschwerde als zu verwerfen.
II.
1. Die Beschwerde ist gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig.
Die Frage, ob bei der hier gegebenen Verfahrenslage die Beschwerde zulässig und bejahendenfalls, wie weit die Überprüfungsmöglichkeit des Beschwerdegerichts geht, ist umstritten (vgl. BVerfG NStZ-RR 2002, 377 m.w.N.; Nack in KK, StPO 5. Aufl., § 111 a Rdnr. 21 m.w.N.).
Der Senat schließt sich der Auffassung des Kammergerichts an, wonach die Beschwerde jedenfalls zulässig ist (KG, Beschluss vom 14.03.2006 - 1 AR 231/06 - 3 Ws 101/06, bei juris, m.w.N.), denn eine gesetzliche Grundlage für eine Unzulässigkeit des Rechtsmittels ist nicht ersichtlich.
2. In der Sache hat die Beschwerde keinen Erfolg.
Die Prüfungsbefugnis des Beschwerdegerichts ist eingeschränkt, weil die Frage, ob dringende Gründe im Sinne des § 111a Abs. 1 StPO für die Annahme vorliegen, dass im Hauptsacheverfahren die Fahrerlaubnis gem. § 69 StGB entzogen werden wird, jetzt nur noch davon abhängt, ob die Entscheidung des Berufungsgerichts über die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 69 StGB vor dem Revisionsgericht Bestand hat.
Daraus folgt, dass neue Tatsachen und Beweismittel oder eine vom Tatgericht abweichende Tatsachenbeurteilung durch den Revisionsführer außer Betracht zu bleiben haben (KG a.a.O. m.w.N.). Das Beschwerdegericht hat nur noch nur prüfen, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des § 69 StGB vorliegen und die Strafkammer von dem ihr im Rahmen der Entscheidung nach § 111a StPO zustehenden Ermessen rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht hat (OLG Karlsruhe DAR 2004, 408).
a) Die materiell-rechtlichen Voraussetzung für den Entzug der Fahrerlaubnis, die sich aus der Anlasstat ergebende Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen, sind auf der Grundlage der Feststellungen, die das Landgericht in dem angefochtenen Beschluss mitteilt, gegeben.
Insoweit ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die der vorläufigen Entziehung zugrunde liegende Unfallflucht aufgrund der Einspruchsbeschränkung durch die Angeklagte rechtskräftig feststeht und daher, da der Schaden bei 2.268,00 EUR liegt, von einem Regelbeispiel gemäß § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB auszugehen ist und die fehlende Fahreignung der Angeklagten vermutet wird. Soweit das Landgericht nach den dem Senat vorliegenden Urteilsfeststellungen, von denen auch der angefochtene Beschluss ausgeht, zu dem Ergebnis kommt, dass die Regelvermutung im vorliegenden Verfahrens nicht widerlegt wurde, beruht diese Einschätzung auf vertretbaren rechtlichen Erwägungen.
Die Regelvermutung kann allerdings aufgrund spezifischer Besonderheiten der Tat, namentlich in der Person des Täters liegender, der Tat vorausgehender sowie in einer Veränderung der maßgeblichen Umstände in der Zeit zwischen Tatbegehung und Zeitpunkt der Entscheidung widerlegt sein. Es müssen besondere Umstände objektiver oder subjektiver Art gegeben sein, welche die Vermutung mangelnder Eignung zum Zeitpunkt der Tat widerlegen oder einen Eignungsmangel jedenfalls zum Zeitpunkt der Aburteilung ausschließen. Großzügige Maßstäbe bei der Eignungsbeurteilung sind unangebracht.
Im vorliegenden Verfahren ist das Landgericht zu Recht davon ausgegangen, dass wirtschaftliche Folgen, insbesondere der Verlust des Arbeitsplatzes, einer Entziehung der Fahrerlaubnis im Grundsatz nicht entgegenstehen. Auch soweit das Landgericht ausführt, die durch den möglichen Arbeitsplatzverlust entstehenden finanziellen Einbußen seien im konkreten Fall nicht derart stark, dass dies eine andere Beurteilung der Fahreignung erfordere, stellt dies eine vertretbare Einschätzung dar. Dabei hat das Landgericht zu Recht erschwerend berücksichtigt, dass nicht lediglich ein Fall des unerlaubten Entfernens von Unfallort vorgelegen hat, sondern die Angeklagte sogar aktiv Maßnahmen ergriffen hat, um ihre Täterschaft zu verschleiern.
b) Der Umstand, dass das Landgericht Gera der Angeklagten nicht sofort mit der Urteilsverkündung die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen hat, führt ebenfalls nicht zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.
§ 111a StPO eröffnet bei Vorliegen der Voraussetzungen des Absatz 1 dem Tatrichter einen Ermessenspielraum, ob er die Fahrerlaubnis vorläufig entzieht. Aufgrund des Regelungsgrundes für § 111a StPO – Schutz der Allgemeinheit vor einem ungeeigneten Fahrer – wird der Tatrichter die Anordnung allerdings in der Regel treffen müssen (Meyer-Goßner, StPO 50. Aufl. § 111a Rdnr. 3 m.w.N.) und der Ermessensspielraum daher vollständig reduziert sein.
Sofern deshalb in dem hier gewährten Aufschub der Anordnung der vorläufigen Entziehung ein Ermessensfehlgebrauch liegen sollte, beschwert dieser die Angeklagte jedenfalls nicht, so dass sie ihre Beschwerde nicht darauf stützen kann.
Der Senat weist allerdings darauf hin, dass es tunlichst zu vermeiden ist, den Erlass einer Entscheidung nach § 111a StPO von einem Rechtsmittelverzicht oder der Nichteinlegung eines Rechtsmittels in der Hauptsache abhängig zu machen, da anderenfalls der Anschein erweckt werden kann, dass sachfremde Ermessenserwägungen für die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis eine Rolle gespielt haben könnten.
c) Das Landgericht war an der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nicht deshalb gehindert, weil das Amtsgericht von einer derartigen Anordnung abgesehen hatte (vgl. nur Senatsbeschluss vom 20.06.1995, 1 Ws104/95).
d) Die Frage, ob unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit eine Aufhebung der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis möglich ist, wenn die Verfahrensdauer des Revisionsverfahrens die Dauer der Sperrfrist übersteigt (so OLG Köln VRS 57, 126 m.w.N., dagegen h.M. vgl. Meyer-Goßner a.a.O., § 111a Rdnr. 12 m.w.N.), braucht hier nicht beantwortet zu werden, da im vorliegenden Verfahren von der verhängten Sperrfrist von 6 Monaten erst ca. 2 Wochen verstrichen sind.
3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens waren der Angeklagten aufzuerlegen, weil das Rechtsmittel keinen Erfolg hat (§ 473 Abs. 1 StPO).