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OVG Bautzen Beschluss vom 03.03.2015 - 3 B 275/14 - Zum Ermessen bei der Anordnung von Schutzmaßnahmen für Radfahrer
OVG Bautzen v. 03.03.2015: Zum Ermessen bei der Anordnung von Schutzmaßnahmen für Radfahrer
Das OVG Bautzen (Beschluss vom 03.03.2015 - 3 B 275/14) hat entschieden:
Es ist nicht ersichtlich, dass allein die Anbringung eines Schutzstreifens für Fahrradfahrer deren berechtigtes Interesse an einem gefährdungsarmen Durchqueren dieses Straßenabschnitts hinreichend gewährleistet. Auch dieser Schutzstreifen entfaltet seine Wirkung nur durch seine Akzeptanz durch die motorisierten Verkehrsteilnehmer. Er ist ohne weiteres überfahrbar und bietet keinen körperlichen Schutz - wie etwa eine Leitplanke - vor der Missachtung dieses für Radfahrer bevorzugt vorgesehenen Straßenraums. Eine Gefährdungslage für Radfahrer schließt er nicht aus; er kann sie lediglich - in vergleichbarer Weise wie eine Tempo-30-Anordnung - mindern, ohne notwendigerweise einen signifikant höheren Schutz für Radfahrer zu bilden.
Siehe auch Schutzstreifen für Radfahrer - Angebotsstreifen und Stichwörter zum Thema Fahrrad und Radfahrer
Gründe:
Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin hat Erfolg. Aus den von ihr dargelegten Gründen, auf deren Prüfung das Oberverwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren gemäß § 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO beschränkt ist, ergibt sich, dass die vom Verwaltungsgericht gegenüber der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung ausgesprochene Verpflichtung zur Verlängerung eines Fahrradfahrerschutzstreifens im Zusammenhang mit der baustellenbedingten Sperrung eines Gehweges zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats nicht (mehr) gerechtfertigt ist.
Das Verwaltungsgericht hat seine einstweilige Anordnung damit begründet, dass dem Antragsteller zum Schutz seines Rechts auf körperliche Unversehrtheit ein Anordnungsanspruch auf die verfügte verkehrsrechtliche Anordnung gemäß § 45 Abs. 1 und 9 StVO i. V. m. § 39 Abs. 5 StVO zustehe. Die baustellenbedingte Änderung der Verkehrsführung führe hier zwingend zum Erfordernis einer sichernden verkehrsrechtlichen Regelung. Das der Antragsgegnerin gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO eingeräumte Ermessen sei auf Null reduziert. Die Verpflichtung zur Aufbringung einer gelb gestrichelten Markierung als Radverkehrsführung stelle sich als das mildeste geeignete und damit als einziges für die einstweilige Anordnung in Betracht kommendes Mittel dar.
Die Gründe für das Entstehen einer besonderen Gefahrenlage für Radfahrer habe die Antragsgegnerin selbst gesetzt. Bisher sei der Bürgersteig als „Gemeinsamer Geh- und Radweg“ für die Nutzung durch Fußgänger und Radfahrer vorgesehen gewesen. Aufgrund von Baumaßnahmen sei er dieser Nutzung vollständig entzogen worden. Radfahrer müssten nun auf der - bisher nur für motorisierte Verkehrsteilnehmer vorgesehenen - Straße fahren. Hierzu sei für Radfahrer ab dem angrenzenden Kreuzungsbereich eine gelb gestrichelte Markierung auf der Straße aufgebracht worden. Diese ende allerdings nach wenigen Metern, obwohl die Radfahrer noch bis zur nächsten Einmündung auf der Straße fahren müssten. Der in Rede stehende Straßenabschnitt sei eine vielbefahrene innerstädtische Hauptverkehrsader, die in der Mitte zudem noch von Straßenbahnen genutzt werde. Zur Sicherheit der Verkehrsteilnehmer und im Interesse eines zügigen Verkehrsflusses seien die Radfahrer bisher auf die Nutzung des Geh- und Radwegs in diesem Bereich verwiesen worden. Die vorübergehende Aufgabe dieses Konzepts führe zu einem besonderen Gefahrenpotential für die Radfahrer. Nunmehr müssten die Kraftfahrer in diesem Straßenabschnitt mit Radfahrern auf der Fahrbahn rechnen. Wenn dann noch eine Straßenbahn nahe, sei regelmäßig mit einem Ausweichen der Kraftfahrer zum Fahrbahnrand zu rechnen, wo sie dann auf Radfahrer träfen. Zwar sei die Fahrbahn wohl breit genug für dieses Verkehrsaufkommen; allerdings sei ohne den begehrten Schutzstreifen damit zu rechnen, dass das Ausweichen zum Fahrbahnrand zu Lasten der Radfahrer mit der Folge gehe, dass der erforderliche Sicherheitsabstand nicht eingehalten werde. Um Radfahrern die nötige Sicherheit bei der Fahrbahnnutzung zu bieten, erscheine die Weiterführung des gelb-gestreiften Fahrradschutzweges geboten und verhältnismäßig. Sie biete Radfahrern Schutz, ohne Kraftfahrer unangemessen zu benachteiligen oder den Verkehrsfluss nennenswert zu behindern. Denn die Markierung mit dem Zeichen 340 bedeute, dass Kraftfahrer diesen Schutzstreifen bei Bedarf überfahren dürften, sofern dadurch Radfahrer nicht gefährdet würden. Eine Umlenkung der Radfahrer auf die andere Straßenseite sei nicht praktikabel. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung würde den Verkehr vergleichsweise stark beeinträchtigen. Diese sei auch wirksam, wenn sich kein Radfahrer im fraglichen Bereich befinde.
Die Beschwerdegegnerin hat diese Entscheidung im Einzelnen mit prozessualen und materiell-rechtlichen Einwendungen angegriffen.
Mit Schreiben vom 15. Dezember 2014 hat die Antragsgegnerin mitgeteilt, dass seit dem 15. Dezember 2014 auf dem streitgegenständlichen Straßenabschnitt gemäß § 45 StVO mit dem Zeichen 274 eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h angeordnet worden sei. Der Senat hat den Beteiligten daraufhin mitgeteilt, zu der Auffassung zu neigen, dass die nunmehr angeordnete Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h zumindest eine vergleichbare Schutzwirkung für Radfahrer entfalte wie ein auf die Fahrbahn aufgebrachter Schutzstreifen. Infolgedessen bestünde seit dem Wirksamwerden der Geschwindigkeitsbeschränkung wohl kein Anordnungsanspruch mehr auf die Herstellung eines Schutzstreifens. Auch das Fortbestehen eines Anordnungsgrundes erscheine zumindest zweifelhaft. Prozessual bestehe die Möglichkeit, auf diese Änderung mit einer Erledigterklärung in der Hauptsache zu reagieren.
Der Antragsteller ist dem entgegen getreten und macht geltend, dass sich die Schutzqualität eines Schutzstreifens deutlich von der Schutzqualität einer Tempo-30-Anordnung unterscheide, weshalb er sein Begehren weiter verfolge. Bereits die Bereitstellung des Handlungsinstruments des Schutzstreifens durch den Verordnungsgeber in § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO spreche für dessen Schutzeignung. Gemäß § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO liege es im „intendierten Ermessen“, das speziell für den Schutz der Radfahrenden vorgesehene Instrument des Schutzstreifens einzusetzen, wenn es erforderlich und geeignet erscheine. Zu Unrecht meine die Antragsgegnerin, dass ein Schutzstreifen im hier betroffenen Straßenabschnitt zu oft überfahren würde und deshalb nicht eingesetzt werden könne. Die Markierung eines provisorischen Schutzstreifens sei auch weitaus zweckmäßiger als eine Tempo-30-Anordnung. Sie konkretisiere das Gebot aus § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO betreffend den Sicherheitsabstand zu einem vorausfahrenden Fahrzeug und vor allem aus § 5 Abs. 4 Satz 2 StVO betreffend das Überholen von Radfahrern durch Kraftfahrer. Sie lasse anders als eine Tempo-30-Anordnung klar den Schutzzweck erkennen, dass Kraftfahrer auf Radfahrer Rücksicht nehmen sollen. Die Schutzwirkung einer Tempo-30-Anordnung sei nicht gleichwertig mit der Schutzwirkung eines Schutzstreifens. Bei mehreren Fahrten im Auto auf dem betroffenen Streckenabschnitt habe er die Erfahrung gemacht, dass die meisten Kraftfahrzeuge deutlich schneller als erlaubt gefahren seien. Ausweislich von Berichten in der Tagespresse etwa zur ... Brücke sei die Missachtung von Tempo-30- Anordnungen häufig. Ohne Überwachungsmaßnahmen und Sanktionierungen sei die Anordnung wenig effizient. Zudem sei die Anordnung zu allgemein und schematisch, so dass sie gegenüber Autofahrern unverhältnismäßig sei.
Vorläufiger Rechtsschutz nach § 123 VwGO ist zu gewähren, wenn das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrunds glaubhaft (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO) gemacht ist. Dabei hat das Gericht bei der allein möglichen summarischen Prüfung diejenigen Folgen zu erwägen, die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes für den Antragsteller verbunden sind. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 27. August 2010 – 2 BvR 130/10 –, juris; Beschl. v. 31. März 2004, NVwZ 2004, 1112) darf im Rahmen eines Verfahrens nach § 123 VwGO das Interesse an einer vorläufigen Regelung oder Sicherung der geltend gemachten Rechtsposition umso weniger zurückgestellt werden, je schwerer die sich aus der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes ergebenden Belastungen wiegen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegen stehen.
Hiervon ausgehend hat die Beschwerde Erfolg, da sich der Antragsteller nicht - mehr - auf einen Anordnungsanspruch berufen kann.
Mit dem Antragsteller und dem Verwaltungsgericht ist der Senat der Auffassung, dass auf dem in Rede stehenden Straßenabschnitt eine besondere Gefährdung für Radfahrer vorliegt. Infolgedessen hat die Antragsgegnerin hier bis zum Beginn der Baumaßnahmen einen gemeinsamen Fuß- und Radweg festgesetzt. Tatbestandsvoraussetzung für die hiermit einhergehende Radwegbenutzungspflicht gemäß § 45 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 i. V. m. Abs. 9 Satz 2 StVO ist, dass in dem fraglichen Straßenbereich eine das allgemeine Risiko übersteigende Gefährdung vorliegt und die sonstigen Voraussetzungen für eine Radwegebenutzungspflicht vorliegen (SächsOVG, Beschl. v. 10. Juli 2012 – 3 A 945/10 –, juris Rn. 15). Diese Voraussetzungen liegen hier auch nach Auffassung des Senats vor.
Dieser besonderen Gefährdungssituation hat die Antragsgegnerin im Laufe des Beschwerdeverfahrens durch die Tempo-30-Anordnung im fraglichen Bereich hinreichend Rechnung getragen. Hierdurch werden die schutzwürdigen Belange des Antragstellers, für den Fall dass er diesen Straßenbereich mit einem Fahrrad benutzt, hinreichend gewahrt. Seinem - im Wege einer einstweiligen Anordnung durchsetzbaren - Anspruch auf körperliche Unversehrtheit durch die Anordnung verkehrsregelnder Maßnahmen wird hierdurch genügt. Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Vorwegnahme der Hauptsache durch Verpflichtung der Antragsgegnerin zu der nach seiner Auffassung effektivsten Maßnahme. Vielmehr genügt die Anordnung einer die Belange des Antragstellers als Radfahrer im fraglichen Straßenbereich hinreichend wahrenden Maßnahme.
Eine solche Maßnahme liegt hier in Gestalt der Anordnung von Tempo 30 vor. Die Beschränkung der bereits für den innerstädtischen Verkehr auf 50 km/h limitierten Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h ist jedenfalls im hier vorliegenden Fall eines vorübergehend aus tatsächlichen Gründen nicht ausweisbaren gesonderten Fahrradwegs geeignet, eine Gefahr für Leib und Leben von Fahrradfahrern hinreichend zu verhindern. Sie stellt eine Reduzierung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 40% im fraglichen Straßenbereich dar. Mit einer Reduzierung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit geht regelmäßig eine geringere Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer im innerstädtischen Bereich einher. Davon ist - wie auch bei allen übrigen verkehrsrechtlichen Anordnungen - grundsätzlich auszugehen, auch wenn es keine stationäre Überwachung der Geschwindigkeitsbeschränkung gibt. Kommt es gleichwohl zu einer erheblichen Anzahl von Geschwindigkeitsüberschreitungen, wird die Antragsgegnerin hierauf mit mobilen Geschwindigkeitsüberwachungen zu reagieren haben.
Hiervon ausgehend ist nicht ersichtlich, dass allein die Anbringung eines Schutzstreifens für Fahrradfahrer deren berechtigtes Interesse an einem gefährdungsarmen Durchqueren dieses Straßenabschnitts hinreichend gewährleistet. Auch dieser Schutzstreifen entfaltet seine Wirkung nur durch seine Akzeptanz durch die motorisierten Verkehrsteilnehmer. Er ist ohne weiteres überfahrbar und bietet keinen körperlichen Schutz - wie etwa eine Leitplanke - vor der Missachtung dieses für Radfahrer bevorzugt vorgesehenen Straßenraums. Eine Gefährdungslage für Radfahrer schließt er nicht aus; er kann sie lediglich - in vergleichbarer Weise wie eine Tempo-30-Anordnung - mindern, ohne notwendigerweise einen signifikant höheren Schutz für Radfahrer zu bilden.
Im Übrigen kann sich der Antragsteller nicht darauf berufen, dass eine Tempo-30-Anordnung gegenüber Kraftfahrern unverhältnismäßig sei. Es steht ihm kein Anordnungsanspruch auf Wahrung der Belange sämtlicher Verkehrsteilnehmer zu. Sein Anspruch beschränkt sich im vorliegenden Zusammenhang auf die Wahrung seiner körperlichen Unversehrtheit.
Die Kostenentscheidung folgt aus auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Festsetzung und Änderung des Streitwertes für das erstinstanzliche Verfahren beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 i. V. m. § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG, die Festsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG. Angesichts der für den Anspruch auf Erlass der einstweiligen Anordnung geltend gemachten Gefahr für Leib und Leben scheint dem Senat mangels näherer Bezifferbarkeit einer wirtschaftlichen Bedeutung dieser Belange die Festsetzung des Auffangwerts als veranlasst. Der hieraus folgende Betrag ist in Ansehung der begehrten Vorwegnahme der Hauptsache ungekürzt in Ansatz zu bringen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).