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OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 19.02.2015 - 22 U 113/13 - Darlegungslast des Verkehrsunternehmens bei Sturz eines Fahrgastes

OLG Frankfurt am Main v. 19.02.2015: Zur Darlegungslast des Verkehrsunternehmens bei Sturz eines Fahrgastes


Das OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 19.02.2015 - 22 U 113/13) hat entschieden:
  1. Kommt im öffentlichen Nahverkehr ein Fahrgast zu Fall, darf das Verkehrsunternehmen dessen Unfallversion nicht einfach bestreiten, sondern muss den Ablauf aus Sicht des Fahrers schildern.

  2. Kann ein Verkehrsunternehmen den Fahrer nicht benennen, obwohl Fahrtzeit, Ort und Strecke bezeichnet sind, ist die Unfallversion des Fahrgasts nur dann nicht unstreitig, wenn das Unternehmen alle Anstrengungen vorgenommen hat, den Fahrer herauszufinden, insbesondere durch Befragung aller in Betracht kommenden Personen.

Siehe auch Fahrgaststurz in Verkehrsmitteln - Verletzung der Eigensicherung und der Anschnallpflicht und Stichwörter zum Thema Zivilprozess


Gründe:

I.

Gemäß §§ 313a, 540 Abs. 2 ZPO wird von der Wiedergabe des Sachverhalts abgesehen, da ein Rechtsmittel gegen das Urteil unzweifelhaft unzulässig ist.


II.

Die Klägerin ist am ... 2012 beim Einsteigen in den Bus der Linie X gestürzt und hat eine Fraktur des 4. Lendenwirbelkörpers und eine Läsion der 8. und 9. Brustwirbelkörper erlitten. Sie erlitt starke Schmerzen und musste starke Schmerzmittel einnehmen. Eine Operation war nicht erforderlich. Eine vollständige Ausheilung kann bisher nicht festgestellt werden, ebenso kann nicht ausgeschlossen werden, dass zukünftige Schäden auftreten. Die Klägerin ist seitdem erheblich bewegungsbeeinträchtigt. Weitere Einzelheiten des Vorfalls stehen nicht beweiskräftig fest, insbesondere kann weder festgestellt werden, welche Art von Bus auf der Strecke eingesetzt wurde, noch hat die Beklagtenseite vermocht, den Fahrer zu benennen. Die Klägerin hat angegeben, dass sie versucht habe, hinter dem Fahrer Platz zu nehmen, dieser jedoch losgefahren sei, bevor sie festen Halt gehabt habe. Nach ihrer Aussage hat der Fahrer angegeben: „Ich habe geglaubt, sie sitzt.“

Die Linie X wurde im fraglichen Zeitpunkt durch die Beklagte zu 1) betrieben, über deren Vermögen mit Beschluss vom 01.01.2014 des Amtsgerichts … (… IN …/13) das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist. Diese hatte den Betrieb der Linie allerdings an einen Subunternehmer, die Beklagte zu 2), weitergegeben. Sämtliche Busse der Beklagten zu 2) sind bei dem Beklagten zu 4) haftpflichtversichert. Die Beklagte zu 2) hatte im Vorfeld der Klägerin eine Aufstellung der Ausfahrtliste ihrer Fahrer im fraglichen Zeitpunkt zur Verfügung gestellt, aus der sich ergab, dass der Beklagte zu 3) Fahrer des fraglichen Busses gewesen sei. Zwischenzeitlich ist allerdings unstreitig geworden, dass der Beklagte zu 3) nicht Fahrer des Busses gewesen ist.

Nach Auskunft der Beklagten zu 2) gibt es keine Aufzeichnungen oder sonstigen Dokumentationen, welcher Fahrer zum Unfallzeitpunkt das Fahrzeug steuerte.

Die von der Klägerin auf Schmerzensgeld und Schadensersatz erhobene Klage hat das Landgericht Darmstadt mit dem angefochtenen Urteil abgewiesen und dazu ausgeführt, dass es keine ausreichende Anhaltspunkte für einen Fahrfehler des Busfahrers gegeben habe. Die Klägerin habe auch nicht unter einer für den Busfahrer erkennbaren schweren Behinderung gelitten. Sie hätte deshalb den Busfahrer auf Schwierigkeiten hinweisen müssen. Die Betriebsgefahr des Busses trete deshalb wegen Mitverschuldens der Klägerin in vollem Umfang zurück. Die hiergegen gerichtete form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung hat der Senat zunächst durch Hinweisbeschluss vom 27.02.014 für unbegründet erachtet.

Während des Berufungsverfahrens hat sich allerdings herausgestellt, dass der Beklagte zu 3) nicht der Fahrer war und auch nicht mehr ausreichend festgestellt werden kann, welcher Bus tatsächlich während der Unglücksfahrt benutzt wurde und welche Halteeinrichtungen darin vorhanden waren.

Die Parteien haben den Rechtsstreit hinsichtlich des Beklagten zu 3) in der Hauptsache für erledigt erklärt.

Die Berufung der Klägerin ist teilweise begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagten zu 2) und 4) gemäß den §§ 280, 249, 253 BGB einen Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen der ihr aus dem Unfall entstandenen Schmerzen und Schäden. Das Landgericht hat zwar zutreffend ausgeführt, dass grundsätzlich der Fahrgast eines Linienbusses sich selbst überlassen ist und eine Verpflichtung des Wagenführers, sich vor einem Anfahren darüber zu vergewissern, dass der Fahrgast einen Platz gefunden hat, nicht besteht. Ausnahmen für eine schwere sichtbare Behinderung des Fahrgastes seien vorliegend nicht erkennbar.

Der Senat stimmt diesen Ausführungen in vollem Umfang zu, wie sich auch aus dem Hinweisbeschluss des Senats ergibt. Dennoch gilt vorliegend etwas anderes.

Die Klägerin hat sowohl in der Klageschrift als auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht ausführlich dargelegt, wie sie den Bus bestiegen hat, und dass sie kurz davor war, unmittelbar hinter dem Busfahrer Platz zu nehmen. Ausreichende Halteeinrichtungen vor dem Sitz seien nicht vorhanden gewesen. Der Fahrer habe auch angegeben, dass er davon ausgegangen sei, dass die Klägerin bereits gesessen habe. Diesen Vortrag haben die Beklagten nicht ausreichend bestritten. Das bloße Bestreiten war gemäß § 138 BGB nicht ausreichend, da die Beklagten im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast die Möglichkeit gehabt hätten, durch Befragung des Fahrers Erklärungen über den tatsächlichen Ablauf abzugeben.

Die Klägerin hat ausreichendes getan, um zur Individualisierung der Fahrt und des Fahrers beizutragen, insbesondere hat sie die Fahrscheine vorlegen können. Damit ist sowohl der benutzte Bus, der eingesetzte Fahrer und auch die Fahrtrichtung ausreichend zu identifizieren. Wenn auf Seiten der Beklagten keine weiteren Dokumentationsformen in Form von Fahrtenschreibern, Fahrtenbüchern oder Kassenbüchern bestehen, um einen Fahrer zu individualisieren, geht dies nicht zu Lasten der Klägerin. Die Beklagte zu 2) hat eine Ausfahrtliste vorgelegt, die den Beklagten zu 3) als Fahrer bezeichnet hat. Tatsächlich ist der Beklagte zu 3) allerdings nicht gefahren, wie zwischen den Parteien unstreitig ist. Deswegen hat ein solcher Computerausdruck keinerlei Bedeutung. Es war offensichtlich, dass Fahrer getauscht haben oder dass Fehleingaben im Computersystem der Beklagten zu 2) vorlagen. Es wäre deshalb Sache der Beklagten gewesen, die Arbeitsunterlagen ihrer Fahrer auf entsprechende Anwesenheitszeiten zu überprüfen oder auch diese direkt zu befragen, ob sie an dem fraglichen Tag das Fahrzeug geführt haben. Darauf hat der Senat die Beklagten hingewiesen, eine Reaktion ist jedoch trotz Möglichkeit der Stellungnahme nicht erfolgt. Es ist auch nicht ersichtlich, weshalb die Beklagten eine solche Darlegung nicht vornehmen könnten. Sie haben schließlich die Gefährdungslage gemäß § 7 StVG geschaffen und haften deshalb grundsätzlich gemäß §§ 7 Abs. 2 StVG, 115 VVG für den bei der Klägerin entstandenen Schaden. Ein Entfallen dieser Haftung kommt nur in Betracht, wenn einerseits keine zusätzliche Pflichtverletzung bei dem Fahrer des Busses besteht und zum anderen ein erhebliches Mitverschulden auf Seiten der Klägerin gemäß § 254 BGB zu berücksichtigen ist.

Dafür sind ausreichende Anhaltspunkte nicht ersichtlich. Zum einen ist das Vorbringen der Klägerin unstreitig, dass der Fahrer angegeben habe, er sei davon ausgegangen, die Klägerin sitze schon. Dies spricht dafür, dass er selbst davon ausgegangen ist, erst anfahren zu dürfen, wenn sie einen Platz gefunden hatte. Offensichtlich war die Klägerin entgegen der Auffassung des Landgerichts doch erkennbar beeinträchtigt, so dass der Fahrer entsprechende Rücksicht nehmen musste. Da nähere Umstände für die Frage des Einstiegs nicht feststellbar sind, muss der Senat von der eigenen Einschätzung des Fahrers ausgehen, die in der entsprechenden Äußerung dokumentiert ist. Aus diesem Grund kann das Mitverschulden der Klägerin auch nicht so erheblich sein, wie dies in üblichen Fällen, die das Landgericht ausführlich zitiert hat, der Fall ist. Angesichts der erheblichen Sorgfaltspflichten, die die Rechtsprechung an das Verhalten von Fahrgästen stellt, geht der Senat allerdings von einer Mithaftung der Klägerin in Höhe von 50 % aus. Die Klägerin hätte sich jederzeit einen solchen Stand verschaffen müssen, dass auch bei Anfahren des Busses ein Sturz vermieden werden konnte. Welche Halteeinrichtungen im Einzelnen vorhanden waren, ist dafür unerheblich, da auch ein Festhalten am Sitz selbst ausreichend gewesen wäre, um im Regelfall einen Sturz zu vermeiden.

Die Höhe des Schmerzensgeldes folgt aus den dokumentierten und unstreitigen Verletzungen, die die Klägerin erlitten hat. Dass diese sehr schmerzhaft waren, folgt schon aus dem verschriebenen Schmerzmittel Tilidin, das zu den Opiaten gehört. Unter Berücksichtigung der Selbstverursachung durch die Klägerin hält der Senat ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000,00 Euro für angemessen, aber auch ausreichend, den Beeinträchtigungen der Klägerin, insbesondere auch der dauerhaften Beeinträchtigung, wie sie sich in der Verhandlung vor dem Senat gezeigt hat, Rechnung zu tragen.

Entsprechend hat die Klägerin auch Anspruch auf Feststellung hinsichtlich noch nicht absehbarer Zukunftsschäden, die gerade bei Verletzungen der Wirbelsäule nach Auffassung des Senats grundsätzlich nicht auszuschließen sind. Dies gilt auch für die Frage des Schmerzensgeldes, auch wenn dies grundsätzlich im Hinblick auf Zukunftsschäden einheitlich zu bemessen ist.

Die Nebenforderungen beruhen auf den §§ 284, 288 BGB, wobei die Berechnung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten lediglich aus dem zugesprochenen Betrag erfolgen kann.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 11, 713 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO. Hinsichtlich der übereinstimmenden Erledigungserklärung waren die Kosten des Beklagten zu 3) den Beklagten zu 2) und 4) aufzuerlegen, da die Inanspruchnahme des Beklagten zu 3) lediglich deswegen erfolgt ist, weil dieser der Klägerin als Fahrer benannt worden ist. Ohne Eintritt des erledigenden Ereignisses wäre die Klägerin zwar in diesem Punkt unterlegen, verursacht wurde dies allerdings durch eine dem Beklagten zu 4) zurechenbaren Handlung der Beklagten zu 2), weshalb diese entsprechend dem Rechtsgedanken der §§ 269 Abs. 3, 93 ZPO nach billigem Ermessen gemäß § 91 a ZPO die dadurch entstandenen Kosten zu tragen haben. Im Übrigen waren die außergerichtlichen Kosten gegenseitig aufzuheben. Deshalb war auch eine Teilkostenentscheidung trotz der Insolvenz der Beklagten zu 1) möglich (vgl. nur OLG Celle 20.01.12 - 9 W 2/14 -). Die Entscheidung über die Gerichtskosten kann erst getroffen werden, wenn die Unterbrechung durch die Insolvenz über das Vermögen der Beklagten zu 1) beendet ist.