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OVG Münster Beschluss vom 04.05.2015 - 16 A 322/15 - Cannabiskonsum und fehlendem Trennungsvermögen bei unkontrollierter Selbstmedikation
OVG Münster v. 04.05.2015: Cannabiskonsum und fehlendem Trennungsvermögen bei unkontrollierter Selbstmedikation
Das OVG Münster (Beschluss vom 04.05.2015 - 16 A 322/15) hat entschieden:
Nach der gegenwärtigen Gesetzeslage kann nicht zweifelhaft sein, dass die diskutierten medizinischen Anwendungsmöglichkeiten für THC-haltige Arzneien weder eine unkontrollierte Selbstmedikation rechtfertigen noch zu einer Herabsetzung der im Interesse der Sicherheit des Straßenverkehrs bestehenden Erfordernisse beim zeitlichen Trennen der THC Einnahme und der Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr führen.
Siehe auch Schmerztherapie und Drogen als Medizin und Stichwörter zum Thema Cannabis
Gründe:
Der auf die Berufungszulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils) und des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO (grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache) gestützte Antrag des Klägers bleibt ohne Erfolg, weil die genannten Zulassungsgründe nicht hinreichend dargelegt sind bzw. in der Sache nicht greifen.
Ernstliche Richtigkeitszweifel sind gegeben, wenn zumindest ein einzelner tragender Rechtssatz der angegriffenen Entscheidung oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird.
Vgl. zu diesem Prüfungsmaßstab BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. März 2007 - 1 BvR 2228/02 -, NVwZ-RR 2008, 1 = GewArch 2007, 242 = juris, Rn. 25.
Das ist nicht der Fall. Der Kläger trägt insoweit vor, er habe am Vorfallstag, dem 3. Dezember 2013, zwischen dem Konsum von Cannabis und dem Führen eines Kraftfahrzeuges zu unterscheiden vermocht, so dass ihm das Trennungsvermögen bzw. die Trennungsbereitschaft i. S. v. Nr. 9.2.2 der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis- Verordnung (FeV) nicht abgesprochen werden könne. Zum Fahrtzeitpunkt habe der letzte Konsum bereits mehr als 15 Stunden zurückgelegen, und weder er selbst noch der zur Entnahme der Blutprobe hinzugezogene Arzt habe noch eine körperliche Wirkung des Cannabis festgestellt. Er habe also keine Möglichkeit besessen, den noch leicht erhöhten THC-Wert zu erkennen; ansonsten wäre er auch nicht gefahren. Das Verwaltungsgericht habe, anders als im vorangegangenen Bußgeldverfahren das Amtsgericht Ibbenbüren, den blutentnehmenden Arzt nicht einmal angehört. Es könne nicht richtig sein, dass - wie aus dem freisprechenden Urteil des Amtsgerichts hervorgehe - ihm einerseits auf der Grundlage der ärztlichen Stellungnahme nicht einmal ein ordnungswidrigkeitenrechtlicher Vorwurf gemacht werde, ihm aber andererseits wegen desselben Geschehens dauerhaft die Fahrerlaubnis entzogen werde.
Diese Darlegung führt nicht zur Annahme ernstlicher Zweifel i. S. v. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Der Kläger verkennt, dass sich der straf- bzw. ordnungswidrigkeiten- rechtliche Ansatz von der ordnungsrechtlichen Sichtweise grundlegend unterscheidet und eine Sanktionierung normwidrigen Verhaltens lediglich gestattet, wenn dem Betroffenen ein Schuldvorwurf - Vorsatz oder zumindest Fahrlässigkeit - gemacht werden kann. Demgegenüber knüpft die fahrerlaubnisrechtliche Betrachtung an eine objektive (abstrakte) Gefährdung an, die schon dann zu der Annahme der Fahrungeeignetheit und der daran zwingend anschließenden Rechtsfolge der Fahrerlaubnisentziehung führt, wenn ein i. S. d. Nr. 9.2.1 oder 9.2.2 der Anlage 4 zur FeV deutlich gefahrenerhöhender Umgang mit dem Betäubungsmittel Cannabis festgestellt worden ist. Das ist beim Kläger der Fall, weil er als gelegentlicher Konsument unter der Wirkung eines THC-Gehaltes von 4,8 ng/ml ein Kraftfahrzeug geführt hat. Das Fahrerlaubnisrecht fragt nicht danach, wie stark im Einzelfall die Wirkungen des THC auf das körperliche oder seelische Befinden des Konsumenten bzw. auf seine konkrete Fahrtüchtigkeit gewesen ist, sondern nimmt die zum Einschreiten berechtigende abstrakte Gefahr bereits an, wenn eine durch den Drogenkonsum bedingte Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit nicht auszuschließen ist. Das ist nach Auffassung des Senats
OVG NRW, Urteile vom 21. März 2013 - 16 A 2006/12 -, NJW 2013, 2841 = Blutalkohol 50 (2013), 146 und 196 = NZV 2014, 102 = juris, Rn. 32 bis 58, und vom 1. August - 16 A 2806/13 -, VRS 127 (2014), 43 = NZV 2015, 206 = juris, Rn. 31 bis 72
und zahlreicher anderer Oberverwaltungsgerichte
Nds. OVG, Beschluss vom 11. Juli 2003 - 12 ME 287/03 -, NVwZ-RR 2003, 899 = DAR 2003, 480 = juris, Rn. 7; Schl.-H. OVG, Beschluss vom 7. Juni 2005 - 4 MB 49/05 -, juris, Rn. 5; Hamb. OVG, Beschluss vom 15. Dezember 2005 - 3 Bs 214/05 -, NJW 2006, 1367 = juris, Rn. 20; OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 16. Juni 2009 - 1 S 17.09 -, juris, Rn. 6; OVG Bremen, Beschluss vom 20. Juli 2012 - 2 B 341/11 -, NJW 2012, 3526 = DAR 2012, 599 = VRS 123 (2012), 377 = NZV 2013, 99 = juris, Rn. 14 bis 17; Thür. OVG, Beschluss vom 6. September 2012 - 2 EO 37/11 -, NJW 2013, 712 = DAR 2012, 719 = VRS 124 (2013), 38 = Blutalkohol 49 (2012), 331 = NZV 2013, 413 = juris, Rn. 16 bis 20; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 22. November 2012 - 10 S 3174/11 -, VRS 124 (2013), 168 = juris, Rn. 30 bis 54
bereits ab einem im Blutserum festgestellten THC-Wert von 1,0 ng/ml anzunehmen, ohne dass ein Sicherheitszuschlag erforderlich wäre. Diese tatrichterliche Einschätzung begegnet nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keinen Bedenken.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Oktober 2014 - 3 C 3.13 -, DAR 2014, 711 = Blutalkohol 52 (2015), 151 = juris, Rn. 37 bis 48.
Diesen Wert hat der Kläger um nahezu das Fünffache überschritten, so dass ungeachtet objektiv festgestellter oder subjektiv wahrgenommener Beeinträchtigungen das Trennungsvermögen zu verneinen ist.
Als grundsätzlich klärungsbedürftig (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) wirft der Kläger sinngemäß die Frage auf, wie lange angesichts der aktuell zunehmend diskutierten Frage einer medizinisch indizierten und ärztlich verordneten Verwendung von Cannabis nach einer solchen Anwendung kein Fahrzeug geführt werden darf bzw. welche Bedeutung insoweit dem Umstand zukommt, dass der Betroffene die fortwirkende Überschreitung des - zudem gesetzlich nicht geregelten - Grenzwertes nicht erkennen kann. Der Kläger führt hierzu noch aus, er sei unfallbedingt Schmerzpatient und konsumiere nach einer Empfehlung des Krankenhauspersonals, "es einmal mit Cannabis zu versuchen", aus diesem Grund gelegentlich Marihuana; so habe es sich auch im Vorfeld der anlassgebenden Fahrt unter Cannabiseinfluss verhalten. Vor diesem Hintergrund hat die vom Kläger aufgeworfene Frage schon deshalb keine Relevanz für die Entscheidung in diesem Verfahren, weil nichts dafür ersichtlich ist, dass eine ärztliche Verordnung von Cannabis - und nicht nur eine unverbindliche Empfehlung - vorliegt. Abgesehen davon kann nach der Verordnungslage nicht zweifelhaft sein, dass die diskutierten medizinischen Anwendungsmöglichkeiten für THC-haltige Arzneien weder eine unkontrollierte Selbstmedikation rechtfertigen noch zu einer Herabsetzung der im Interesse der Sicherheit des Straßenverkehrs bestehenden Erfordernisse beim (zeitlichen) Trennen der THC-Einnahme und der Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr führen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass nach Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV bei einer Dauerbehandlung mit Arzneimitteln, selbst wenn diese nicht missbräuchlich (Nr. 9.4 der Anlage) erfolgt, die Fahreignung zu verneinen ist, sofern eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen unter das erforderliche Maß gegeben ist. Ein nachvollziehbarer Grund, warum für das Merkmal der "Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit" ein anderer Maßstab zu gelten habe als im Falle einer medizinisch nicht indizierten Einnahme von psychoaktiv wirkenden Arzneimitteln, erschließt sich nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 1 und 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 und § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).