Das Verkehrslexikon

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OVG Bautzen Beschluss vom 07.07.2015 - 3 B 118/15 - Maßnahmestufen nach dem neuen Fahreignungsbewertungssystem

OVG Bautzen v. 07.07.2015: Zur Verfassungsgemäßheit der Maßnahmestufen nach dem neuen Fahreignungsbewertungssystem


Das OVG Bautzen (Beschluss vom 07.07.2015 - 3 B 118/15) hat entschieden:
  1. Ist über den Widerspruch gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis noch nicht entschieden worden, hat das Gericht seiner Interessenabwägung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO die aktuelle Sach- und Rechtslage zugrunde zu legen.

  2. Der Fahrerlaubnisinhaber behält seine Maßnahmestufe bei der Überführung von Punkten aus dem Verkehrszentralregister in das Fahreignungs-Bewertungssystem bei.

  3. Der Wechsel von der Warn- und Erziehungsfunktion der Maßnahmestufen und Bonusregelungen hin zu einer bloßen Hinweisfunktion ist vom Gesetzgeber erst mit Inkraftftreten des Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes, der Gewerbeordnung und des Bundes-zentralregistergesetzes vom 28. November 2014 (BGBl. I, S. 1802) zum 5. Dezember 2015 vollzogen worden.

  4. Der Wegfall der Warn- und Erziehungsfunktion verstößt nicht gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot.

Siehe auch Das Fahreignungs-Bewertungssystem - neues Punktsystem und Stichwörter zum Thema Fahrerlaubnis und Führerschein


Gründe:

Die mit der Beschwerde vorgebrachten Gründe, auf deren Prüfung der Senat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemäß § 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO beschränkt ist, ergeben nicht, dass es das Verwaltungsgericht zu Unrecht abgelehnt hat, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die vom Antragsgegner mit Nr. 1 des Bescheids vom 26. November 2014 verfügte Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A und C1E samt Einschlussklassen und der in Nr. 2 des Bescheids angeordnete Aufforderung, den Führerschein abzugeben, wiederherzustellen oder anzuordnen.

Der Antragsteller, der die erste Maßnahmestufe „Verwarnung“ gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG in der bis zum 30. April 2014 geltenden Fassung erstmals bereits 1996 durchlaufen hatte, legte der Fahrerlaubnisbehörde, nachdem er durch eine am. September 2013 begangene Ordnungswidrigkeit 13 Punkte im damaligen Verkehrszentralregister erreicht hatte, am 30. April 2014 eine Bescheinigung über die Teilnahme an einem freiwilligen Aufbauseminar bei einer Fahrschule entsprechend § 4 Abs. 8 StVG in der bis zum 30. April 2014 geltenden Fassung vor. Damit reduzierte sich sein Punktestand nach § 4 Abs. 4 Satz 1 StVG in der bis zum 30. April 2014 geltenden Fassung um zwei auf 11 Punkte. Nach der Überführungstabelle in § 65 Abs. 3 Nr. 3 StVG wurde dieser Punktestand aus dem Verkehrszentralregister zum 1. Mai 2014 in den Stand von fünf Punkten nach dem seit 1. Mai 2014 geltenden Fahreignungs-​Bewertungssystem überführt. Dabei blieben zwei Verkehrsverstöße, die der Antragsteller vor Einführung des Fahreignungs-​Bewertungssystems begangen hatte, unberücksichtigt, weil die Fahrerlaubnisbehörde hiervon erst nach der Überführung Kenntnis erlangt hatte. Dabei handelt es sich um eine am 22. Dezember 2013 begangene und am 27. Mai 2014 rechtskräftig gewordene Ordnungswidrigkeit, die zur Eintragung von zwei weiteren Punkten im Fahreignungs-​Bewertungs-​System, insgesamt zu sieben Punkten führte. Nach Bekanntwerden dieser Ordnungswidrigkeit wurde der Antragsteller von der Fahrerlaubnisbehörde mit Schreiben vom 17. Juli 2014 nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG verwarnt und gemäß § 4 Abs. 5 Satz 3 StVG darauf hingewiesen, dass bei einem Punktestand von 8 Punkten die Fahrerlaubnis entzogen werde. Mit Schreiben vom 28. August 2014 teilte die Fahrerlaubnisbehörde dem Antragsteller mit, dass sich sein Punktestand aufgrund einer am 23. Juni 2014 wirksam gewordenen Tilgung um einen auf sechs Punkte reduziert habe. Durch Schreiben des Kraftfahrt-​Bundesamtes vom 20. Oktober 2014 wurde der Fahrerlaubnisbehörde des Weiteren die Begehung einer Ordnungswidrigkeit des Antragstellers vom 8. Januar 2014 bekannt, die am 26. September 2014 rechtskräftig wurde, und die zu weiteren zwei Punkten, insgesamt zu neun Punkten im Fahreignungs-​Bewertungssystem führte. Sodann wurde ihm mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 26. November 2014 die Fahrerlaubnis entzogen.

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag des Antragstellers auf vorläufigen Rechtschutz abgelehnt. Die Entziehung der Fahrerlaubnis sei wegen des Tattagprinzips gerechtfertigt, denn der Antragsteller habe mit der Ordnungswidrigkeit, die der Fahrerlaubnisbehörde zuletzt bekannt wurde, an deren Tattag, dem 8. Januar 2014, neun Punkte im Fahreignungs-​Bewertungssystem erreicht. Damit habe er die Schwelle für die Entziehung der Fahrerlaubnis überschritten. Zu diesem Zeitpunkt sei die davor liegende Maßnahme „Verwarnung“ bereits ergriffen gewesen. Wie sich aus der amtlichen Begründung zu der seit 1. Mai 2014 geltenden Neufassung des Straßenverkehrsgesetzes (StVG a. F.) ergebe, messe der Gesetzgeber den einzelnen Maßnahmestufen des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 bis 3 StVG bereits seit dem 1. Mai 2014 keine Warn- oder Erziehungsfunktion mehr bei. Hierauf habe sich der Antragsteller spätestens mit der Verkündung des Änderungsgesetzes vom 28. August 2013 im Bundesgesetzblatt einstellen können, weswegen keine unzulässige Rückwirkung vorliege.

Dem hält die Beschwerde entgegen, das Tattagprinzip sei erst mit der zum 5. Dezember 2014 in Kraft getretenen Neufassung des § 4 StVG eingeschränkt worden. Denn erst seit diesem Zeitpunkt gelte, dass eine Reduzierung der Punkte nicht erfolgen solle, wenn eine Maßnahmestufe übersprungen werden würde. Die Gesetzeslage habe sich in seinem Fall somit nach der Tatbegehung verschärft, was gegen das Rückwirkungsverbot verstoße. Der tatbestandliche Anknüpfungspunkt für die angegriffene Sanktion sei vor Inkrafttreten oder Verkündung der Gesetzesänderung abgeschlossen gewesen. Demzufolge verbleibe es bei dem von der Fahrerlaubnisbehörde mit Schreiben vom 28. August 2014 mitgeteilten Punktestand von sechs Punkten. Die Entziehung der Fahrerlaubnis sei daher nicht gerechtfertigt.

Das Vorbringen des Antragstellers rechtfertigt nicht die Änderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses.

Ist über den Widerspruch des Fahrerlaubnisinhabers gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis noch nicht entschieden worden, hat das Gericht seiner Interessenabwägung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO die aktuelle Sach- und Rechtslage zugrunde zu legen. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Fahrerlaubnisentziehung richtet sich somit nach dem Straßenverkehrsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 5. März 2003 (BGBl. I S. 310, 919), das zuletzt durch Artikel 4 des Gesetzes vom 8. Juni 2015 (BGBl. I S. 904) geändert worden ist, sowie der Fahrerlaubnis-​Verordnung vom 13. Dezember 2010 (BGBl. I S. 1980), die zuletzt durch Artikel 1 der Verordnung vom 16. Dezember 2014 (BGBl. I S. 2213) geändert worden ist. Denn im Fahrerlaubnisrecht ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme die im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung bestehende Sach- und Rechtslage maßgebend (BVerwG, Beschl. v. 22. Januar 2001 - 3 B 144.00 -, juris Rn. 2).

Dem Verwaltungsgericht ist im Ergebnis zu Recht darin zuzustimmen, dass die Voraussetzungen für die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 Satz 1, § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG sowie § 3 Abs. 1 Satz 1, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV vorliegen. Denn der Antragsteller hatte mit Eintritt der Rechtskraft der zuletzt bekannt gewordenen Ordnungswidrigkeit am2. . September 2014 einen Stand von neun Punkten erreicht. Das bereits vor Einführung des Fahreignungs-​Bewertungssystems von der Rechtsprechung entwickelte Tattagprinzip (vgl. BVerwG, Urt. v. 25. September 2008 - 3 C 3.07 -, juris Rn. 13; SächsOVG, Beschl. v. 25. Juni 2010 - 3 B 65/10 -, juris Rn. 4) ist nun ausdrücklich in § 4 Abs. 2 Satz 3, Abs. 5 Satz 5 StVG verankert. Danach ergeben sich Punkte nach dem Fahreignungs-​Bewertungssystem mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird. Die Ungeeignetheit des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen stand somit nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG bezogen auf den 8. Januar 2014 fest.

Wie das Verwaltungsgericht ebenfalls richtig festgestellt hat, hatte der Antragsteller vor Erlass der Entziehungsverfügung die - auch nach Einführung des Fahreignungs-​Bewertungssystems vorgesehenen - Maßnahmestufen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG durchlaufen. Die Fahrerlaubnisbehörde hat die Maßgaben gemäß § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG beachtet. Danach darf sie die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG erst ergreifen, wenn die Maßnahme der davor liegenden Stufe nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG bereits ergriffen worden ist. Diese Voraussetzungen liegen vor. Nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 2 und 3 StVG ist für Maßnahmen nach dem Fahreignungs-​Bewertungssystem die am 1. Mai 2014 erreichte Stufe zugrunde zu legen, wobei die Überführung von Punkten aus dem Verkehrszentralregister in das Fahreignungsregister nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 Satz 1 StVG allein nicht zu einer Maßnahme nach dem Fahreignungs-​Bewertungssystem führt. Hieraus folgt, dass der Fahrerlaubnisinhaber seine Maßnahmestufe bei der Überführung von Punkten aus dem Verkehrszentralregister in das Fahreignungs-​Bewertungssystem beibehält (vgl. SächsOVG, Beschl. v. 18. Juni 2015 - 3 B 153/15 -, veröffentlicht in der Entscheidungsdatenbank des SächsOVG; BayVGH, Beschl. v. 7. Januar 2015 - 11 CS 14.2653 -, juris Rn. 9).

Vor Erlass der Entziehungsanordnung hatte der Antragsteller die erste Maßnahmestufe nach § 4 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 StVG in der bis zum 30. April 2014 geltenden Fassung durchlaufen und befand sich somit am 1. Mai 2014 nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 3 StVG auf dem Stand der ersten Maßnahmestufe nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG. Er hatte auch die zweite Maßnahmestufe nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG passiert, da er von der Fahrerlaubnisbehörde am 17. Juli 2014 verwarnt worden war.

Der Entziehung seiner Fahrerlaubnis steht nicht entgegen, dass der Antragsteller am Tattag, dem 8. Januar 2014, auf welchen bezogen seine Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen festzustellen ist, noch nicht die zweite Maßnahmestufe gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG bzw. § 4 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 StVG in der bis zum 30. April 2014 geltenden Fassung durchlaufen hatte. Ebenso ist unbeachtlich, dass sich der Punktestand mit Wirkung zum 23. Juni 2014 infolge der Tilgung einer Eintragung um einen Punkt auf sechs Punkte reduziert hatte. Bei der Berechnung des Punktestandes werden nämlich Zuwiderhandlungen unabhängig davon berücksichtigt, ob nach deren Begehung bereits Maßnahmen ergriffen worden sind (§ 4 Abs. 5 Satz 6 Nr. 1 StVG), wobei spätere Verringerungen des Punktestandes auf Grund von Tilgungen nach § 4 Abs. 5 Satz 7 StVG unberücksichtigt bleiben.

Anders als der Antragsteller meint, begegnen § 4 Abs. 5 Satz 6 sowie § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG, die mit Wirkung vom 5. Dezember 2014 durch das Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes, der Gewerbeordnung und des Bundeszentralregistergesetzes vom 28. November 2014 (BGBl. I S. 1802) in das Straßenverkehrsgesetz eingefügt wurden, keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Antragsteller kann sich insbesondere nicht auf eine unzulässige Rückwirkung berufen.

Das von der Rechtsprechung entwickelte Tattagprinzip beinhaltet zunächst, dass sich Punkte mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben und auf den sich zu diesem Zeitpunkt ergebenden Punktestand abzustellen ist, sofern die Straftat oder Ordnungswidrigkeit rechtkräftig geahndet wird, wie dies nun ausdrücklich in § 4 Abs. 2 Satz 3 Abs. 5 Satz 5 StVG geregelt ist. Zu der bis zum 30. April 2014 geltenden Rechtslage hatte die Rechtsprechung zum Inhalt des Tattagprinzips vertreten, dass sämtliche, also auch nachträglich bekannt gewordene Verkehrszuwiderhandlungen, die vor dem Ergreifen der jeweiligen Maßnahme nach § 4 Abs. 3 Satz 1 StVG in der bis zum 30. April 2014 geltenden Fassung begangen worden waren, von der Punktereduzierung unabhängig vom Zeitpunkt ihres Bekanntwerdens oder dem Eintritt deren Rechtskraft erfasst waren, weil der Verwarnung eine Warn- und Erziehungsfunktion zukomme (vgl. zur Rechtslage vor Einführung des Fahreignungs-​Systems: BVerwG, Urt. v. 25. September 2008 a. a. O.; VGH BW, Beschl. v. 14. Februar 2013 - 10 S 82/13 -, juris Rn. 6).

Zwar sieht auch § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG vor, dass die Fahrerlaubnisbehörde eine Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG (Verwarnung) und § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG (Entziehung der Fahrerlaubnis) erst ergreifen darf, wenn die Maßnahme der davor liegenden Stufe nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG (Ermahnung) oder § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG (Verwarnung) bereits ergriffen worden war. Insoweit wurde das Tattagprinzip vom Gesetzgeber durch § 4 Abs. 5 Satz 6 sowie § 4 Abs. 6 Satz 3 und 4 StVG jedoch partiell eingeschränkt. Aus dem Zusammenspiel von § 4 Abs. 6 Satz 1 mit § 4 Abs. 5 Satz 6 und § 4 Abs. 6 Satz 4 StVG folgt, dass § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG nur noch auf das Ergreifen der jeweils davor liegenden Maßnahmestufe abstellt. Ist dies der Fall, werden bei der Berechnung des Punktestands nun auch Zuwiderhandlungen erfasst, die vor dem Ergreifen der jeweils durchgeführten Maßnahme (§ 4 Abs. 5 Satz 6 StVG) oder vor einer Verringerung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG begangen worden waren (§ 4 Abs. 6 Satz 4 StVG), aber erst nachträglich bekannt wurden.

Nach dem Willen des Gesetzgebers soll dem Stufensystem somit keine Warn- und Erziehungsfunktion mehr zukommen. Dies geht aus der Begründung zur Neufassung des § 4 Abs. 5 und 6 StVG hervor, wonach dem Fahrerlaubnisinhaber die der Fahrerlaub​nisentziehung vorgeschalteten Maßnahmen nur noch als Hinweis dienen sollen (BT-​Drs. 18/2775 S. 9 f.). Zwar geht aus der Begründung (a. a. O. S. 9) auch hervor, dass der Gesetzgeber diesen Übergang bereits mit der zum 1. Mai 2014 in Kraft getretenen Reform des Straßenverkehrsgesetzes bezwecken wollte und die zum 5. Dezember 2014 in Kraft getretenen Änderungen des § 4 Abs. 5 und 6 StVG vielmehr nur der „Klarstellung“ dienen sollten. Zwar lassen die Gesetzesmaterialien der erstgenannten Reform (vgl. z. B. BT-​Drs. 799/12 S. 33 und BT-​Drs. 17/1263 S. 18) den Willen zur Abkehr von der Warn- und Erziehungsfunktion erkennen. Auch hatte die Fahrerlaubnisbehörde bereits nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG in der seit 1. Mai 2014 geltenden Fassung für das Ergreifen der Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Der Wechsel von der Warn- und Erziehungsfunktion der Maßnahmestufen sowie der Bonusregelungen hin zu einer bloßen Hinweisfunktion ist vom Gesetzgeber aber erst mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes, der Gewerbeordnung und des Bundeszentralregistergesetzes vom 28. November 2014 (BGBl. I S. 1802) zum 5. Dezember 2015 vollzogen worden. Erst durch die neuen Vorschriften in § 4 Abs. 5 Satz 6 und § 4 Abs. 6 Satz 3 und 4 StVG ist die partielle Abkehr vom Tattagprinzip offenkundig geworden. Dafür spricht zum Beispiel auch, dass in § 4 Abs. 7 StVG in der seit 1. Mai 2014 geltenden Fassung die Möglichkeit eines Punkteabzugs durch den freiwilligen Besuch eines Fahreignungsseminars weiterhin beibehalten wurde (OVG NRW, Beschl. v. 14. April 2015 - 16 B 257/15 -, juris Rn. 14; Beschl. v. 27. April a. a. O. Rn. 10). Anders als das Verwaltungsgericht meint, ließ das Straßenverkehrsgesetz in der bis zum 4. Dezember 2014 geltenden Fassung somit noch nicht erkennen, dass der Gesetzgeber von der Leitvorstellung des Mahnens und Erziehens endgültig Abstand nehmen wollte.

Der Senat sieht - bei der im einstweiligen Rechtschutzverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO allein möglichen summarischen Prüfung - das Rückwirkungsverbot durch den mit Wirkung zum 5. Dezember 2014 vollzogenen Wegfall der Warn- und Erziehungsfunktion der Maßnahmestufen als nicht verletzt an. Dabei kann hier offen bleiben, ob im Hinblick auf den tatbestandlichen Anknüpfungspunkt der Begehung einer Zuwiderhandlung (§ 4 Abs. 2 Satz 3 StVG) eine echte oder angesichts des noch nicht abgeschlossenen Entziehungsverfahrens eine unechte Rückwirkung vorliegt. Das aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot, das seinen Grund im Vertrauensschutz hat, tritt nämlich zurück, wenn sich kein schützenswertes Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte. Ferner kommt ein Vertrauensschutz nicht in Betracht, wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung von Normen gebieten (vgl. u.a. BVerfG, Urt. v. 23. November 1999, BVerfGE 101, 239; Beschl. v. 15. Oktober 1996, BVerfGE 95, 64; st.Rspr.). Beides ist hier der Fall.

Der Antragsteller kann sich als Fahrerlaubnisinhaber nicht auf ein schützenswertes Vertrauen auf den Fortbestand der Warn- und Erziehungsfunktion der in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG geregelten Maßnahmestufen berufen. Dabei ist in den Blick zu nehmen, dass das Fahrerlaubnisrecht - und damit auch die auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG gestützte Entziehung der Fahrerlaubnis - präventiven und keinen repressiven Charakter hat. Zwar wird der Fahrerlaubnisinhaber durch die Entziehung seiner Fahrerlaubnis belastet. Die Entziehung der Fahrerlaubnis dient jedoch der Verkehrssicherheit aller Verkehrsteilnehmer einschließlich des betroffenen Fahrerlaubnisinhabers und - auch wenn dies vom Inhaber der Fahrerlaubnis anders empfunden wird - nicht der Sanktionierung seines vorschriftswidrigen Verhaltens. Letzteres ist vielmehr Aufgabe des Straf- und Ordnungswidrigkeitsrechts. Das in Art. 103 Abs. 2 GG normierte Rückwirkungsverbot, wonach eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde, ist daher nicht auf die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG übertragbar.

Der Fahrerlaubnisinhaber hat die Belastungen, die sich aus dem Wegfall der Warn- und Erziehungsfunktion ergeben, schließlich auch hinzunehmen. Die Belange der Verkehrssicherheit gehen dem Interesse des einzelnen Fahrerlaubnisinhabers am Erhalt der Warn- und Erziehungsfunktion vor. Indem § 4 Abs. 5 Satz 6 sowie § 4 Abs. 6 Satz 3 und 4 StVG bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG nun die Berücksichtigung von nachträglich bekannt gewordenen Zuwiderhandlungen zulassen, wird nämlich die Verkehrssicherheit der Verkehrsteilnehmer erhöht. Denn es wird sichergestellt, dass Fahrerlaubnisinhaber, wenn sie sich im Zeitpunkt der Begehung einer Zuwiderhandlung wegen Erreichens von acht Punkten nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG unwiderleglich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen haben, tatsächlich auch vorübergehend aus dem Verkehr gezogen werden können. Dies liegt im Übrigen nicht zuletzt auch im Interesse eines Fahrerlaubnisinhabers, der, weil er sich immer wieder verkehrswidrig verhält, nicht nur Leib, Leben und Gesundheit anderer Verkehrsteilnehmer sowie fremdes Eigentum, sondern sich auch gleichermaßen selbst gefährdet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 47, 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG und folgt im Übrigen der Streitwertfestsetzung des Verwaltungsgerichts im erstinstanzlichen Verfahren, gegen die keine Einwände erhoben wurden.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).