Das Verkehrslexikon
OLG München Urteil vom 02.06.2006 - 10 U 1685/06 - Kollision eines Kraftfahrers auf nächtlicher Landstraße mit einem alkoholisierten und dunkel gekleideten Fußgänger
OLG München v. 02.06.2006: Kollision eines Kraftfahrers auf nächtlicher Landstraße mit einem alkoholisierten und dunkel gekleideten Fußgänger
Das OLG München (Urteil vom 02.06.2006 - 10 U 1685/06) hat entschieden:
- Einen Fahrzeugführer trifft das alleinige Verschulden an einem Unfall, wenn er zur Nachtzeit auf eine Landstraße mit einer Fahrgeschwindigkeit von 70 km/h ungebremst mit einem (alkoholisierten) Fußgänger kollidiert, der ihm am linken Fahrbahnrand entgegenkommt. Der Umstand, dass der Fußgänger dunkle Kleidung trug und insofern schwer erkennbar war, ändert an dieser Beurteilung nichts. Das Tragen dunkler Kleidung beinhaltet für sich kein haftungsrechtlich relevantes Fehlverhalten.
- Hat ein Fußgänger bei einem Unfall u.a. schwere Verletzungen innerer Organe und zahlreiche Knochenbrüche erlitten, die zu verbleibenden Behinderungen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen geführt haben, die ihm bislang ausgeführte Gelegenheitsarbeiten als Bauhelfer unmöglich machen, weil er nur noch in der Lage ist leichte Arbeiten auszuführen, bezieht er derzeit Arbeitslosengeld II und ist für ihn eine umfassende Betreuung eingerichtet worden, ist ein Schmerzensgeld in Höhe von 35.000 Euro angemessen.
Siehe auch Fußgänger - Verkehrsunfälle mit Fußgängerbeteiligung und Schmerzensgeld
Gründe:
I.
Der Kläger nimmt die Beklagte zu 1) als Lenkerin und Halterin ihres Kraftfahrzeugs und die Beklagte zu 2) als deren Haftpflichtversicherung aus einem Verkehrsunfall vom 02.09.2002 in Anspruch, bei dem der Kläger lebensgefährlich verletzt worden war. Er verlangt ein Schmerzensgeld, dessen Höhe er ins Ermessen des Gerichts stellt, mindestens jedoch 50.000,00 € nebst Verzugszinsen aus einem Teilbetrag von 20.000,00 € seit 25.01.2003 und Rechtshängigkeitszinsen hinsichtlich des übrigen Betrags. Er verlangt ferner die Feststellung, dass die Beklagten verpflichtet seien, ihm den gesamten materiellen Zukunftsschaden aus dem Verkehrsunfall zu ersetzen, soweit kein Anspruchsübergang auf Dritte vorliegt.
Das Landgericht Passau hat dem Kläger unter Klageabweisung im Übrigen ein Schmerzensgeld von 15.000,00 € nebst Zinsen in gesetzlicher Höhe hieraus seit 25.01.2003 zuerkannt und ferner die Feststellung ausgesprochen, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet seien, dem Kläger 50 % des Zukunftsschadens zu ersetzen, soweit kein Anspruchsübergang auf Dritte stattgefunden habe. Das Landgericht sah ein Mitverschulden des Klägers für gegeben und gelangte zu einer Haftungsquote von 50 : 50.
Wegen des dieser Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalts und der Entscheidungsgründe wird auf das Endurteil des Landgerichts Passau vom 06.12.2005 Bezug genommen (Bl. 116/132 d. A.).
Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger, der von einer alleinigen Haftung der Beklagtenpartei ausgeht, seine ursprünglichen Anträge weiter, wohingegen die Beklagten das landgerichtliche Urteil verteidigen. Wegen des Vorbringens der Parteien im Berufungsverfahren wird auf die hierin gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung des Klägers erweist sich auch teilweise als begründet, nämlich insofern als auch der Senat von der alleinigen Verantwortlichkeit der Beklagten für den Unfall ausgeht, wobei jedoch die Schmerzensgeldforderung des Klägers der Höhe nach als überzogen erscheint.
1. Der Unfall ereignete sich zu dunkler Nachtzeit außerhalb geschlossener Ortschaft. Der Kläger war völlig dunkel gekleidet und für die Beklagte zu 1) sicherlich nicht gut erkennbar, als er dieser auf ihrer Straßenseite entgegen ging. Das Landgericht sah das Mitverschulden des Klägers darin, dass dieser sich darüber habe im Klaren sein müssen, für entgegenkommende Autofahrer schlecht erkennbar zu sein und folglich auch damit habe rechnen müssen, übersehen zu werden. Da der Kläger das entgegenkommende Fahrzeug der Beklagten jedoch an den Scheinwerfern gut habe erkennen können, hätte er durch einen einfachen Schritt zur Seite ausweichen können, dies aber schuldhaft, möglicherweise in Folge seiner hochgradigen Alkoholisierung, unterlassen.
Der Senat vermag dem Landgericht in dieser Einschätzung nicht zu folgen. Grundsätzlich zu Recht hat das Landgericht allerdings ausgeführt, dass der Kläger erlaubterweise den linken Fahrbahnrand benutzte, nachdem die Straße weder über einen Gehweg noch einen Seitenstreifen verfügte. Nach § 25 Abs. 1 Satz 3 StVO war der Kläger sogar gehalten, den linken Fahrbahnrand zu begehen. Das Tragen dunkler Kleidung beinhaltet für sich betrachtet kein haftungsrechtlich relevantes Fehlverhalten. Dafür, dass der Kläger nicht den Rand der Fahrbahn eingehalten gehabt hätte, gibt es keine Anhaltspunkte, vielmehr spricht das Schadensbild des Pkw dagegen. Nach dem im Strafverfahren erholten Gutachten des Sachverständigen Ra... befand sich die Erstanstoßstelle im seitlichen Bereich des Stoßfängers. Die Fahrzeugfront weist genau im Bereich des vorderen rechten Fahrzeugecks Beschädigungen auf. Hinzu kommt nach der Aussage des Zeugen Ba... vom 09.12.2004, dass die Beklagte im Augenblick des Unfalls am äußerst rechten Fahrbahnrand gefahren war.
Es mag sein, dass der Kläger den Zusammenstoß durch seitliches Ausweichen, etwa einen Schritt zur Seite, hätte vermeiden können. Ein Mitverschulden des Klägers an dem Unfall lässt sich aber nur dann annehmen, wenn er ein derartiges Ausweichmanöver in vorwerfbarer Weise unterlassen hätte. Hierzu hat das Landgericht keine Feststellungen getroffen. Die Fahrbahnbreite von ca. 7 m bot der Beklagten zu 1) Platz genug, einem entgegenkommenden Fußgänger auszuweichen. Mehrere Fahrzeuglenker, die die Beklagte kurz vor dem Unfall überholt hatten, hatten offenbar keine Schwierigkeiten, am Kläger vorbei zu fahren.
Auch von einem ungünstig dunkel gekleideten Fußgänger kann nicht verlangt werden, sich vorsorglich vor jedem sich nähernden Kraftfahrzeug durch ein Verlassen der Fahrbahn in Sicherheit zu bringen, zumal sich dies bei den vorerwähnten Fahrzeuglenkern auch als völlig unnötig erwiesen hatte.
Dem Sachverständigen Ra... zufolge war die Beklagte mit mindestens 70 km/h völlig ungebremst auf den Kläger aufgefahren. Den Angaben des Zeugen Ba... zufolge war die Beklagte unkonzentriert gefahren und wiederholt an den äußersten rechten Fahrbahnrand gelangt. Wann jedoch der Kläger bzw. eine nicht alkoholisierte Person an seiner Stelle, die Situation als gefährlich erkennen konnte, lässt sich im nachhinein nicht mehr feststellen; ebenso wenig, ob zu diesem Zeitpunkt ein Ausweichen überhaupt noch möglich war.
2. Es verbleibt somit bei dem vom Landgericht zu Recht angenommen Beweis des ersten Anscheins für eine schuldhafte Verletzung der dem Kraftfahrer obliegenden Sorgfaltspflichten falls ein Fußgänger von einem Kfz angefahren wird, der sich bei Dunkelheit auf der Fahrbahn bewegt. Die Beklagte zu 1), die den Kläger offensichtlich vollständig übersehen hat, hat damit gegen die Grundregel des § 1 Abs. 1 StVO verstoßen und die im Straßenverkehr erforderliche ständige Vorsicht außer Acht gelassen.
Dass im Strafverfahren zugunsten der Beklagten davon ausgegangen war, dass der Kläger so unvermutet vor das Auto gelaufen war, dass sie nicht mehr hatte reagieren können, ist eine Folge der im Strafverfahren gänzlich anders gearteten Beweislage. Im Zivilverfahren wäre es Sache der Beklagtenpartei gewesen, für eine entsprechende Behauptung den Beweis zu erbringen, was im vorliegenden Verfahren jedenfalls nicht gelungen ist. Dies hat auch das das Landgericht Passau in seinem Urteil auf Seite 14 zutreffend bemerkt.
3. Für den dem Kläger entstandenen Schaden haften die Beklagten nach § 3 Nr. 2 PflVersG gesamtschuldnerisch sowohl aus Gefährdungshaftung, § 7 Abs. 1 StVG, als auch aus Verschuldenshaftung, § 823 BGB. Der Anspruch auf das hier geforderte Schmerzensgeld ergibt sich sowohl aus § 11 Satz 2 StVG, als auch aus § 253 Abs. 2 BGB.
Der Kläger hat bei dem Unfall unter anderem schwere Verletzungen innerer Organe und zahlreiche Knochenbrüche erlitten. Es wird insoweit auf die Darstellung auf Seite 3 des landgerichtlichen Urteils hingewiesen, ferner auf das vom Landgericht erholte Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. Pl... vom 15.05.2005 Seite 2, 3 und Seite 20 (Bl. 70/71 und 88 d. A.). Außer den im Urteil des Landgerichts auf Seite 3 des Urteils erwähnten stationären Aufenthalten war der Kläger im Jahr 2004 eine weitere Woche zur Entfernung des Osteosynthesematerials wegen des rechtsseitigen Oberschenkelbruchs stationär untergebracht. In der Berufungsbegründung ist ausgeführt, dass sich beim Kläger ein Narbenbruch eingestellt hatte, der am 17.01.2006 operativ behandelt worden war.
Was die dem Kläger verbliebenen Behinderungen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen anbelangt, wird auf die Aufstellung auf Seite 22 des Gerichtsgutachtens (Bl. 90 d. A.) Bezug genommen. Der Kläger hatte zwar keinen erlernten Beruf, musste vor dem Unfall aber auch weder Sozialhilfe noch Arbeitslosenhilfe in Anspruch nehmen, denn er konnte seinen Lebensunterhalt als Bauhelfer mit Gelegenheitsarbeiten bestreiten. Aufgrund der Unfallfolgen kann er jedoch nur noch leichtere Arbeiten ausführen. Er bezieht Arbeitslosengeld II.
Für den Kläger wurde am 02.05.2003 eine umfassende Betreuung eingerichtet. Dass dies infolge des Unfalls erfolgt wäre, wurde von Seiten der Klagepartei nicht geltend gemacht.
Unter Berücksichtigung der erheblichen Verletzungen des Klägers und der bleibenden Folgen erscheint dem Senat auch unter Einbeziehung des zögerlichen Regulierungsverhaltens der Beklagten zu 2) ein Schmerzensgeld von 35.000,00 € angemessen und ausreichend. Antragsgemäß war der Betrag nach § 291 BGB ab Rechtshängigkeit in gesetzlicher Höhe verzinslich auszusprechen, hinsichtlich eines Teilbetrags von 20.000,00 € jedoch aufgrund anwaltschaftlicher Mahnung und Fristsetzung ab 25.01.2003.
4. Was den Feststellungsantrag anbelangt, hat das Landgericht zu Recht ausgeführt, dass angesichts der gravierenden Unfallfolgen ein Feststellungsinteresse besteht. Die Verpflichtung der Beklagten als Gesamtschuldner dem Kläger den materiellen Zukunftsschaden zu ersetzen war jedoch entsprechend den vorstehenden Ausführungen zur Haftungsquote uneingeschränkt in voller Höhe auszusprechen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich der I. Instanz auf § 92 Abs. 1 ZPO und hinsichtlich des Berufungsverfahrens auf §§ 91 Abs. 1, 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ist auf §§ 708 Nr. 10, 709 Satz 2 und 711 ZPO gestützt.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da keiner der Gründe des §§ 543 Abs. 2 ZPO gegeben ist.