Das Verkehrslexikon

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OLG Frankfurt am Main Urteil vom 29.04.1994 - 10 U 82/93 - Sorgfaltspflicht des Vorfahrtberechtigten gegenüber Wartepflichtigen an schwer einsehbaren Einmündungen

OLG Frankfurt am Main v. 29.04.1994: Vorfahrtverletzung und Sorgfaltspflicht des Vorfahrtberechtigten gegenüber Wartepflichtigen an schwer einsehbaren Einmündungen


Das OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 29.04.1994 - 10 U 82/93) hat entschieden:
Grundsätzlich darf der Vorfahrtberechtigte darauf vertrauen, daß ein Wartepflichtiger die Vorfahrt beachtet, was auch gegenüber den für ihn nicht sichtbaren Wartepflichtigen sowie denen gilt, die als Wartepflichtige die Vorfahrtstraße nur schwer einsehen können (so auch BGH, 1985-05-21, VI ZR 201/83, NJW 1985, 2757). - An einer für den Wartepflichtigen schwer einsehbaren Einmündung verhält sich der Vorfahrtberechtigte nur dann sorgfältig und mit genügendem Weitblick, wenn er rechtzeitig den Abstand zum rechten Fahrbahnrand einhält, den der Wartepflichtige benötigt, um sich zentimeterweise in die Vorfahrtstraße hineinzutasten und den erforderlichen Überblick zu gewinnen.


Siehe auch Vorfahrtrecht und Linksabbiegen - Annäherung bei schlechter Einsehbarkeit des Kreuzungs- bzw. Einmündungsbereichs und Stichwörter zum Thema Vorfahrt


Gründe:

Der Kläger hat den Unfall schuldhaft verursacht. Entgegen der Auffassung des LG hat er nicht alles getan, was die Verkehrsordnung unter den obwaltenden Umständen von ihm erwartete, sondern hat das Vorfahrtsrecht des Beklagten zu 3) schuldhaft verletzt.

Grundsätzlich darf der Vorfahrtsberechtigte darauf vertrauen, daß ein Vorfahrtspflichtiger die Vorfahrt beachtet(vgl. Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 32. Aufl., § 2 StVO Rn. 50 m.w.N.), was auch ggü. den für ihn nicht sichtbaren wartepflichtigen Verkehrsteilnehmern sowie denen gilt, die als Wartepflichtige die Vorfahrtsstraße nur schwer einsehen konnten (vgl. Jagusch/Hentschel a.a.O. sowie BGH NJW 1985, 2757).

Dies bedeutet, daß die Verantwortung für die Vermeidung eines Zusammenstoßes den wartepflichtigen Kläger traf (vgl. BGH DAR 1981, 86), so daß er die Darlegungs- und Beweislast dafür trägt, daß entweder dem vorfahrtsberechtigten Beklagten zu 3) eine dessen Vertrauensgrundsatz aufhebende Verkehrswidrigkeit, z.B. eine Übertretung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit unterlaufen ist (vgl. Jagusch/Hentschel a.a.O., Rn. 51) oder aber er - der Kläger - die zur Vermeidung des Unfalles zumutbare Sorgfalt aufgewendet hat.

Beides hat der Kläger nicht beweisen können. Zum einen trägt er selbst vor, daß der Beklagte zu 3) mit einer Geschwindigkeit von ca. 40 - 50 km/h gefahren sei, die nach der Straßenverkehrsordnung zulässige Höchstgeschwindigkeit somit auch auf nassem Asphalt nicht überschritten hat. Entgegen der Auffassung des Klägers kann die vom Beklagten zu 3) eingehaltene Geschwindigkeit nicht deshalb als unangepaßt oder zu risikoreich angesehen werden, weil er - der Kläger - die Vorfahrtsstraße schlecht einsehen konnte (vgl. BGH NJW 1985, 2757 und VersR 1977, 524). Zwar kann in Fällen der "halben Vorfahrt", wenn die Sicht nach rechts frei ist, gleichwohl eine Pflicht zur Verlangsamung der Geschwindigkeit bestehen, doch lag eine solche Situation hier nicht vor, da der Beklagte zu 3) ausgeschildert die "volle" Vorfahrt hatte.

Der Kläger hat auch nicht bewiesen, daß er zur Vermeidung eines Zusammenstoßes alles Zumutbare beachtet hat. Zwar kann vorliegend nicht verlangt werden, daß er sich in Ansehung der erschwerten Sichtverhältnisse durch Hilfspersonen in den fließenden Verkehr hätte einweisen lassen müssen (vgl. hierzu Jagusch/Hentschel a.a.O.), doch hätte er sich mit äußerster Vorsicht zentimeterweise vortasten müssen (vgl. Jagusch/Hentschel a.a.O., Rn. 58) mit der Bremsbereitschaft, bei Ansichtigwerden eines vorfahrtsberechtigten Verkehrsteilnehmers auf der Stelle anhalten zu können (vgl. BGH NJW 1985, 2757). Dies hat der Kläger nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme indes nicht getan, vielmehr ist er nach der Bekundung der Zeugin Dr. K. so gefahren, "wie man das normalerweise macht", nämlich "vorsichtig, etwa im Schrittempo", ca. 1,5 m weit in die vorfahrtsberechtigte Fahrbahn hinein. Danach hat sich der Kläger nicht mit äußerster Vorsicht zentimeterweise vorgetastet, sondern ist dem Beklagten zu 3) im Schrittempo in den Anhalteweg gefahren, was eine Vorfahrtsverletzung darstellt.

Andererseits ist von den Beklagten der Nachweis nicht geführt, daß der Unfall für den Beklagten zu 3) unabwendbar war. Auch als Vorfahrtsberechtigter unterlag der Beklagte zu 3) dem allgemeinen Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme (§ 1 I StVO), so daß der Idealfahrer mit entsprechendem Weitblick bei Annäherung an die für den Wartepflichtigen sichterschwerte Einmündung rechtzeitig den Abstand zum rechten Fahrbahnrand eingehalten hätte, den der Kläger als Wartepflichtiger benötigte, um sich in die Vorfahrtsstraße hineinzutasten und den erforderlichen Überblick zu gewinnen (vgl. BGH DAR 1981, 86). Dies hat der Beklagte zu 3) nicht beachtet, denn zwischen den Parteien ist unstreitig, daß er auch in Ansehung der für den Kläger schlechten Sichtverhältnisse dem Gebot des § 2 II 1 StVO folgend scharf rechts fuhr und dadurch die Möglichkeit des Klägers erschwerte, sich in den fließenden Verkehr hineinzutasten. Die Beklagten müssen sich daher die unter Abwägung aller Umstände mit 25 % zu bewertende Betriebsgefahr des Fahrzeugs des Beklagten zu 3) anrechnen lassen (§§ 7, 17 StVG).



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