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OLG Düsseldorf Urteil vom 15.02.2011 - I-1 U 103/10 - Vertrauensgrundsatz für einen von rechts kommenden, vorfahrtberechtigten Kraftfahrzeugführer bei "halber Vorfahrt"
OLG Düsseldorf v. 15.02.2011: Vertrauensgrundsatz für einen von rechts kommenden, vorfahrtberechtigten Kraftfahrzeugführer bei "halber Vorfahrt"
Das OLG Düsseldorf (Urteil vom 15.02.2011 - I-1 U 103/10) hat entschieden:
- Der von rechts kommende, in eine Kreuzung einfahrende, vorfahrtsberechtigte Fahrzeugführer braucht nicht die ihm gegenüber wartepflichtigen von links kommenden Verkehrsteilnehmer zu beobachten, sondern kann sein Augenmerk bei Annäherung an die Kreuzung allein auf den ihm gegenüber bevorrechtigten Verkehr von rechts richten. - Ausnahmsweise können aber die gegebenen Umstände (hier: schmale, nasse und leicht verschmutzte Fahrbahn, nicht optimale Sichtverhältnisse) bei der gebotenen Abwägung im Rahmen des § 17 StVG einen Haftungsanteil des Vorfahrtberechtigten (hier: 25%) durch Zurechnung der Betriebsgefahr begründen.
- Eine schlecht einsehbare Kreuzung, an der die Vorfahrt nicht besonders geregelt ist, ist stets eine unübersichtliche und gefährliche Straßenstelle, deren besonderen Bedingungen der Fahrzeugführer seine Fahrgeschwindigkeit anzupassen hat (§ 3 Abs. 1 S. 2 StVO). Demgegenüber gilt der Vertrauensgrundsatz, der es dem Vorfahrtberechtigten gestattet, mit der örtlich zulässigen Geschwindigkeit "auf Sicht" zu fahren, ohne auf die immer möglichen Verletzungen seiner Vorfahrt durch für ihn nicht sichtbare Wartepflichtige Bedacht zu nehmen, an derartigen Kreuzungen nicht uneingeschränkt.
Siehe auch Vorfahrtrecht und Linksabbiegen - Annäherung bei schlechter Einsehbarkeit des Kreuzungs- bzw. Einmündungsbereichs und Stichwörter zum Thema Vorfahrt
Gründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten zu 1. ist teilweise begründet.
I.
Der Beklagte zu 1. kann von den Widerbeklagten wegen des Verkehrsunfalls vom 05.12.2007 gemäß §§ 7, 18 StVG, 3 PflVG 25 % seines Schadens in zuerkannter Höhe nebst Zinsen und Rechtsanwaltskosten ersetzt verlangen. Ein weitergehender Anspruch steht ihm jedoch nicht zu; insoweit hat das Landgericht die Widerklage zu Recht abgewiesen.
Zu Recht und mit zutreffender Begründung, auf die wegen der Einzelheiten verwiesen werden kann, hat das Landgericht ein erhebliches unfallursächliches Verschulden des Beklagten zu 1. festgestellt. Der Senat folgt dem Landgericht ferner darin, dass demgegenüber ein unfallursächliches Verschulden des Drittwiderbeklagten ... nicht festzustellen ist; der Senat ist allerdings der Auffassung, dass es unter den gegebenen Umständen nicht gerechtfertigt ist, die Betriebsgefahr des Pkw VW Lupo vollständig hinter den Verursachungsbeitrag des Beklagten zu 1. zurücktreten zu lassen. Vielmehr ist bei der gebotenen Abwägung im Rahmen des § 17 StVG insoweit ein Haftungsanteil der Widerbeklagten von 25 % gerechtfertigt.
Zu Unrecht rügt der Beklagte zu 1., dass das Landgericht die Grundsätze der sogenannten "halben Vorfahrt" unzutreffend angewendet habe. Insoweit gilt folgendes: Ist die Vorfahrt an einer Kreuzung nicht besonders geregelt, so stellt sich für jeden Verkehrsteilnehmer, der sich dieser Kreuzung nähert, die Verkehrslage so dar, dass er zwar gegenüber dem von links kommenden vorfahrtberechtigt, gegenüber Verkehrsteilnehmern von rechts aber wartepflichtig ist. Um deren Vorfahrt beachten zu können, muss er deshalb, wie es § 8 Abs. 2 S. 1 StVO ausdrücklich bestimmt, mit mäßiger Geschwindigkeit an die Kreuzung heranfahren und sich darauf einstellen, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, um die ihm gegenüber Vorfahrtberechtigten durchfahren zu lassen. Dabei kann die Verpflichtung des Bevorrechtigten, seine Fahrgeschwindigkeit soweit zu vermindern, dass er ihm gegenüber bevorrechtigte Fahrzeuge vorbeilassen kann, auch Auswirkungen auf sein Verhältnis zum Wartepflichtigen haben. Andernfalls verstößt er nämlich grundsätzlich diesem gegenüber gegen § 3 Abs. 1 S. 2 StVO, weil er an einer unübersichtlichen Stelle zu schnell gefahren ist. Diese Vorschrift verfolgt ganz allgemein den Zweck, Zusammenstöße an gefährlichen und unübersichtlichen Straßenstellen, wie sie Kreuzungen ohne ausreichende Sicht auf die einmündenden Straßen immer darstellen, zu verhindern; sie dient damit auch dem Schutz des an sich wartepflichtigen, jeweils von links kommenden Verkehrsteilnehmers (vgl. BGH VersR 1977, 917). Eine schlecht einsehbare Kreuzung, an der die Vorfahrt nicht besonders geregelt ist, ist stets eine unübersichtliche und gefährliche Straßenstelle, deren besonderen Bedingungen der Fahrzeugführer seine Fahrgeschwindigkeit anzupassen hat (§ 3 Abs. 1 S. 2 StVO). Demgegenüber gilt der Vertrauensgrundsatz, der es dem Vorfahrtberechtigten gestattet, mit der örtlich zulässigen Geschwindigkeit "auf Sicht" zu fahren, ohne auf die immer möglichen Verletzungen seiner Vorfahrt durch für ihn nicht sichtbare Wartepflichtige Bedacht zu nehmen, an derartigen Kreuzungen nicht uneingeschränkt. Zwar braucht der "halb Vorfahrtberechtigte" nicht die ihm gegenüber wartepflichtigen, von links kommenden Verkehrsteilnehmer zu beobachten, sondern kann sein Augenmerk bei Annäherung an die Kreuzung allein auf den ihm gegenüber bevorrechtigten Verkehr von rechts richten; kann er die für ihn von rechts einmündende Straße rechtzeitig und weit genug einsehen, so ist die Lage aber für ihn ähnlich übersichtlich, wie wenn er eine Vorfahrtsstraße befährt, so dass er auf die Beachtung seines Vorfahrtsrechtes ohne Verringerung der zulässigen Geschwindigkeit vertrauen kann. Dies liegt nur anders, wenn er seinerseits wegen der schlechten Einsehbarkeit der Kreuzung von rechts nur langsam an sie heranfahren darf. An solchen Kreuzungen vertraut auch der jeweils von links kommende Verkehrsteilnehmer darauf, dass sich der ihm gegenüber Bevorrechtigte verkehrsgerecht verhält und mit mäßiger Geschwindigkeit fährt, die ihm die Beachtung seiner Verpflichtungen nach rechts hin ermöglicht. Er wird sich in seiner Fahrweise darauf einstellen. Deshalb kann ihm in diesen Fällen auch nicht der Einwand versagt werden, der ihm gegenüber Vorfahrtberechtigte habe den Kreuzungszusammenstoß durch überhöhte Geschwindigkeit mitverschuldet (vgl. BGH aaO; BGH VersR 1985, 784).
Vorliegend lag der Fall nach den unbeanstandet gebliebenen Feststellungen des Landgerichts aber gerade so, dass die Sicht für den vorfahrtberechtigten Drittwiderbeklagten zu 1. nach rechts aus mehreren 100 Metern Entfernung vollständig frei und übersichtlich war. Er konnte daher in vollem Umfang den Vertrauensgrundsatz für sich in Anspruch nehmen.
Demzufolge kann der Beklagte zu 1. als Wartepflichtiger nicht mit dem Einwand gehört werden, der Widerbeklagte zu 1., der sich unstreitig im Rahmen der zulässigen Höchstgeschwindigkeit gehalten hat, habe sich der Kreuzung mit unangemessener Geschwindigkeit angenähert. Den Drittwiderbeklagten zu 1. traf im Übrigen auch aus den sonstigen Umständen des Falles keine Verpflichtung gemäß § 3 StVO seine Geschwindigkeit unter die hier feststellbare Annäherungsgeschwindigkeit von 78 km/h herabzusetzen. Insoweit hat er den Witterungsbedingungen und den sonstigen Umständen der Unfallörtlichkeit durch die Herabminderung von über 20 km/h unterhalb der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h bereits hinreichend Rechnung getragen.
Weil der Drittwiderbeklagte ... - wie hier erwiesen - auf die Beachtung seines Vorfahrtsrechts durch den Beklagten zu 1. vertrauen durfte, kann er dies grundsätzlich auch einer Zurechnung der Betriebsgefahr nach §§ 7, 17 StVG entgegensetzen. Auch die gesteigerten Sorgfaltspflichten eines "Idealfahrers", auf die die Feststellung eines unabwendbaren Ereignisses nach § 17 Abs. 3 StVG abzuheben hat, vermögen den Vertrauensgrundsatz hier nicht einzuschränken, so dass sich insoweit regelmäßig der Schutz des Vorfahrtberechtigten auch im Rahmen der Gefährdungshaftung voll durchsetzen muss (vgl. BGH VersR 1985, 784). Der Senat hält es unter den gegebenen Umständen aber - ausnahmsweise - für geboten, den Widerbeklagten die Betriebsgefahr des bevorrechtigten Pkw Lupo mit einem Haftungsanteil von 25 % zuzurechnen. Die Betriebsgefahr des Pkw Lupo war durch die gefahrene Geschwindigkeit von mindestens 78 km/h auf der relativ schmalen, nassen, mit Lehm und Mist leicht verschmutzten (Land-)Straße nämlich deutlich erhöht. Zudem haben die um 06:35 Uhr im Dezember noch nicht optimalen Sichtverhältnisse das Gefährdungspotential erhöht, das sich in der Summe auf das Zustandekommen des Unfalls auch ausgewirkt hat.
Der Beklagte zu 1. kann daher von den Widerbeklagten 25% seines unfallbedingten Schadens in Höhe von 16.147,43 €, also 4.036,86 € nebst den zuerkannten Zinsen gemäß §§ 286, 288 BGB sowie aus diesem Wert die geltend gemachten Rechtsanwaltskosten (Freistellung), also 446,13 € (1,3 fache Geschäftsgebühr: 354,90 € + 20 € Auslagen + 71,23 € USt.) ersetzt verlangen. Ein weitergehender "deliktischer" Anspruch auf Zinsen seit dem Unfalltag besteht nicht. Zwar greift § 849 BGB auch im Rahmen der Gefährdungshaftungstatbestände nach §§ 7, 18 StVG ein; dort aber nur bei einer - hier nicht vorliegenden - Schadensabwicklung auf Totalschadensbasis (vgl. Senat, U. v. 23.04.2007, I-1 U 204/06; BGH NJW 1983, 1614).
II.
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92, 97, 708 Nr. 10, 713 ZPO.
Es bestand kein Anlass, die Revision zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen.
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 8.073,71 € festgesetzt.