Das Verkehrslexikon

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OVG Hamburg Beschuss vom 16.11.2015 - 4 Bs 207/15 - Übergangsregelung im neuen Fahreignungsbewertungssystem

OVG Hamburg v. 16.11.2015: Zur Übergangsregelung im neuen Fahreignungsbewertungssystem


Das OVG Hamburg (Beschuss vom 16.11.2015 - 4 Bs 207/15) hat entschieden:
  1. Entscheidungen, die bis zum Ablauf des 30. April 2014 begangene Zuwiderhandlungen ahnden, aber erst ab dem 1. Mai 2014 im Fahreignungsregister gespeichert werden, können im Rahmen der Umrechnung des Punktestandes nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG nicht berücksichtigt werden.

  2. Die Übergangsregelungen in § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 und Nr. 4 Satz 1 StVG treffen eine Sonderregelung, die eine Ausnahme von dem ansonsten nach neuem Recht geltenden Tattagprinzip (§ 4 Abs. 2 Satz 3, Abs. 5 Satz 5 StVG) normiert.

  3. Die Übergangsregelungen in § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 und Nr. 4 Satz 1 StVG unterliegen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

  4. Aus § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG ergibt sich für die Anwendung von § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG, dass nach altem Recht vorgenommene Maßnahmen insoweit "angerechnet" werden, als sie einer der nunmehr zu ergreifenden Maßnahme vorgelagerten Maßnahmestufe entsprechen.

Siehe auch Das Fahreignungs-Bewertungssystem - neues Punktsystem und Die Entziehung der Fahrerlaubnis durch die Verwaltungsbehörde


Gründe:

I.

Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis. Der Antragsteller ist Inhaber einer Fahrerlaubnis. Nach dem ihm zuletzt am 21. November 2014 ausgestellten Führerschein besitzt er die Fahrerlaubnis der Klassen AM, A1, A, B, BE und L.

Mit Bescheid vom 11. Januar 2008 verwarnte die Antragsgegnerin den Antragsteller gemäß § 4 Abs. 3 Nr. 1 StVG in der vor dem 1. Mai 2014 geltenden Fassung (im Folgenden: StVG a.F.), weil er aufgrund mehrerer Verkehrsverstöße eine Gesamtpunktzahl im Verkehrszentralregister von acht Punkten erreicht habe. Der Bescheid wurde dem Antragsteller am 15. Januar 2008 zugestellt. Mit Bescheid vom 16. Januar 2014 ordnete die Antragsgegnerin an, dass der Antragsteller an einem Aufbauseminar nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 StVG a.F. teilzunehmen habe, weil er wegen mehrerer Verkehrsverstöße eine Gesamtpunktzahl von 14 Punkten im Verkehrszentralregister erreicht habe. Dieser Bescheid wurde dem Antragsteller am 18. Januar 2014 zugestellt.

Zum 1. Mai 2014 rechnete die Antragsgegnerin den bis dahin erreichten Punktestand von 15 Punkten im Verkehrszentralregister auf der Grundlage von § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG in der seit dem 1. Mai 2014 geltenden Fassung (im Folgenden: StVG n.F.) um und ordnete den Antragsteller mit einem Punktestand von sechs Punkten im Fahreignungs-​Bewertungssystem ein.

Mit Bescheid vom 3. Dezember 2014 entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller die Fahrerlaubnis auf der Grundlage von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n.F.: Er habe nach dem Fahreignungs-​Bewertungssystem einen Punktestand von acht Punkten erreicht. Es seien über die bei der Umrechnung berücksichtigten Taten zwei weitere Ordnungswidrigkeiten zu berücksichtigen, die der Antragsteller am 7. März 2013 (Geschwindigkeitsüberschreitung) und am 10. März 2014 (unzulässige Benutzung eines Mobiltelefons) begangen habe und deren Ahndung am 9. Juli 2014 bzw. am 3. Mai 2014 rechtskräftig geworden sei. Beide Taten seien nach neuem Recht jeweils mit einem Punkt zu bewerten.

Hiergegen erhob der Antragsteller Widerspruch: Er sei nicht ermahnt worden. Den Bescheid vom 16. Januar 2014 habe er nicht erhalten. Es verstoße gegen das Tattagprinzip, die Verstöße vom 7. März 2013 und vom 10. März 2014 nach dem bei Rechtskraft geltenden Recht zu bewerten, obwohl sie vor der Rechtsänderung zum 1. Mai 2014 begangen worden seien. Wären die genannten Verstöße im Rahmen der Umrechnung nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 StVG n.F. berücksichtigt worden, ergäbe sich eine Gesamtpunktzahl von nur sieben Punkten nach dem Fahreignungs-​Bewertungssystem. Im Übrigen habe er den Verkehrsverstoß am 7. März 2013 nicht selbst begangen.

Den Widerspruch wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 13. Mai 2015 zurück. Hiergegen ist eine Klage bei dem Verwaltungsgericht anhängig (15 K 3514/15).

Den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes, mit dem der Antragsteller insbesondere beanstandet hat, es könne nicht angehen, dass er wegen der Inanspruchnahme von Rechtsschutz gegen die Ahndung der am 7. März 2013 und am 10. März 2014 begangenen Taten Nachteile erfahre, hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 25. September 2015 abgelehnt: Die Fahrerlaubnisentziehung sei aller Voraussicht nach rechtmäßig auf der Grundlage von §§ 3 Abs. 1 Satz 1, 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n.F. Im Fahreignungs-​Bewertungssystem seien für den Antragsteller acht Punkte eingetragen gewesen. Die erst nach dem 1. Mai 2014 rechtskräftig geahndeten, aber bereits vorher begangenen Verkehrsverstöße seien bei der Umrechnung wegen § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG n.F. nicht zu berücksichtigen gewesen, weil die betreffenden Taten noch nicht im Verkehrszentralregister gespeichert gewesen seien. Sie seien wegen § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 StVG n.F. nach Maßgabe des neuen Rechts zu berücksichtigen und zutreffend mit jeweils einem Punkt bewertet worden. Dem stehe das in § 4 Abs. 2 Satz 3, Abs. 5 Satz 5 StVG n.F. normierte und wegen § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 StVG n.F. grundsätzlich auch für die vor dem 1. Mai 2014 begangenen Taten geltende Tattagprinzip nicht entgegen. Insoweit treffe § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG n.F. eine Sonderregelung für die Umrechnung des vormaligen Punktestandes im Verkehrszentralregister in Punkte nach dem Fahreignungs-​Bewertungssystem. § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 StVG n.F. begegne keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Mit ihr sei eine bloße sog. unechte Rückwirkung verbunden. Die Umrechnungsvorschrift diene der Praktikabilität und sei zu diesem Zweck geeignet, erforderlich und angemessen. Das Vertrauen von wiederholt im Straßenverkehr auffällig gewordenen Verkehrsteilnehmern darauf, weitere Verkehrszuwiderhandlungen begehen zu können, ohne dass sich die daran anknüpfende Bewertung der von ihnen ausgehenden Gefahr für die Verkehrssicherheit ändere, sei nicht oder allenfalls in geringem Umfang schutzwürdig. Ferner seien Härten, die mit Stichtagsregelungen verbunden seien, grundsätzlich hinzunehmen. Der Entziehung der Fahrerlaubnis stehe auch § 4 Abs. 6 StVG n.F. nicht entgegen. Auf der Grundlage des alten Rechts sei der Antragsteller verwarnt und es sei seine Teilnahme an einem Aufbauseminar angeordnet worden. Ausweislich der Zustellungsnachweise in der Akte seien die betreffenden Bescheide auch zugegangen. Die Antragsgegnerin habe den Antragsteller daher zu Recht in die Maßnahmestufe 2 („Verwarnung“) gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG n.F. eingeordnet. Nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 2 und 3 StVG n.F. werde die nach altem Recht erreichte Maßnahmestufe beibehalten. Der am 7. März 2013 begangene Verkehrsverstoß sei schließlich auch nicht deshalb außer Betracht zu lassen, weil der Antragsteller, wie er angebe, ihn nicht begangen habe. Diesem Einwand stehe § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG n.F. entgegen.


II.

Die Beschwerde ist zulässig, hat aber in der Sache keinen Erfolg.

Es kann offen bleiben, ob der Antragsteller mit den in seiner Beschwerdebegründung dargelegten Gründen (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO) die tragenden Erwägungen der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts ernsthaft in Zweifel gezogen hat. Zugunsten des Antragstellers geht der Senat hiervon aus.

Die hiernach grundsätzlich zulässige vollständige Überprüfung der Sach- und Rechtslage durch das Beschwerdegericht führt im Ergebnis indes zu keiner Änderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung. Das Verwaltungsgericht hat es zu Recht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die von der Antragsgegnerin verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis mit dem Bescheid vom 3. Dezember 2014 und dem Widerspruchsbescheid vom 13. Mai 2015 anzuordnen. Das öffentliche, in § 4 Abs. 9 StVG n.F. zum Ausdruck kommende Interesse an der sofortigen Vollziehung einer auf § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n.F. gestützten Entziehung der Fahrerlaubnis überwiegt das Interesse des Antragstellers daran, bis zur Unanfechtbarkeit der Fahrerlaubnisentziehung hiervon verschont zu bleiben. Denn die hiergegen gerichtete, in der Hauptsache anhängige Klage wird aller Voraussicht nach ohne Erfolg bleiben, weil sich die angefochtenen Bescheide bei der im Eilverfahren vorzunehmenden summarischen Überprüfung als offensichtlich rechtmäßig erweisen (hierzu 1.). Gründe, aus denen das Aufschubinteresse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse gleichwohl überwiegt, liegen nicht vor (hierzu 2.).

1. Der Bescheid der Antragsgegnerin vom 3. Dezember 2014 und der Widerspruchsbescheid vom 13. Mai 2015 sind aller Voraussicht nach rechtmäßig. Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n.F. Danach gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und es ist die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte im Fahreignungs-​Bewertungssystem ergeben. Diese Voraussetzungen waren im Fall des Antragstellers erfüllt. Im Fahreignungs-​Bewertungssystem ergaben sich für ihn acht Punkte.

Seinen aufgrund von im Verkehrszentralregister eingetragenen Entscheidungen zuletzt erreichten Punktestand von 15 Punkten hatte die Antragsgegnerin zum 1. Mai 2014 auf der Grundlage der Tabelle in § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG n.F. zutreffend mit sechs Punkten im Fahreignungs-​Bewertungssystem übernommen. Zwei zusätzliche Punkte hat die Antragsgegnerin aufgrund der am 7. März 2013 – der Einwand fehlender Täterschaft greift hier wegen § 4 Abs. 5 Satz 4 StVG n.F. nicht durch – bzw. am 10. März 2014 begangenen, aber erst später im Register eingetragenen Taten berücksichtigt. Auch dies erfolgte zu Recht. Denn das Straßenverkehrsgesetz in seiner seit dem 1. Mai 2014 geltenden Fassung und die aufgrund von § 6 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe s) StVG n.F. erlassenen Rechtsverordnungen in den seit dem 1. Mai 2014 geltenden Fassungen – hierzu gehört auch Anlage 13 zu § 40 FeV – sind gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 StVG n.F. (auch) auf Entscheidungen anzuwenden, die bis zum Ablauf des 30. April 2014 begangene Zuwiderhandlungen ahnden, aber erst ab dem 1. Mai 2014 im Fahreignungsregister gespeichert werden. Diese Taten konnten deshalb nicht, wie der Antragsteller meint, beim Punktestand nach altem Recht und im Rahmen der Umrechnung nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG n.F. berücksichtigt werden. Dies ergibt sich im Umkehrschluss aus § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 StVG n.F. sowie aus § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG n.F. Nach dieser Vorschrift sind für die Übertragung des Punktestandes aufgrund der Eintragungen im Verkehrszentralregister in den Punktestand nach dem Fahreignungs-​Bewertungssystem (nur) solche Entscheidungen maßgeblich, die bis zum 30. April 2014 im Verkehrszentralregister gespeichert worden sind. Die Entscheidungen, mit denen die von dem Antragsteller am 7. März 2013 bzw. am 10. März 2014 begangenen Ordnungswidrigkeiten geahndet worden sind, sind aber nie im Verkehrszentralregister, sondern – da sie erst nach dem 30. April 2014 rechtskräftig geworden sind – nur im Fahreignungsregister gespeichert worden. Sie waren daher bei der Umrechnung unberücksichtigt zu lassen.

Etwas anderes ergibt sich nicht mit Blick auf das nunmehr in § 4 Abs. 2 Satz 3, Abs. 5 Satz 5 StVG n.F. normierte sog. Tattagprinzip. Zwar ist dort – in § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG n.F. – geregelt, dass sich Punkte mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben, sofern sie rechtskräftig geahndet wird, und hat die zuständige Behörde dementsprechend – nach § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG n.F. – für das Ergreifen von Maßnahmen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG n.F. auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat. Hieraus ergibt sich indes nichts für die Frage, wie die Punktestände nach altem Recht in das neue Recht überführt werden und nach welchen Maßgaben Punkte zu berücksichtigen sind, die auf unter Geltung des alten Rechts begangenen Taten beruhen und erst unter Geltung des neuen Rechts in das (Fahreignungs-​) Register eingetragen werden. Insoweit treffen die Übergangsregelungen in § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 und Nr. 4 Satz 1 StVG n.F. eine Sonderregelung, die der Verwaltungspraktikabilität dienen soll (vgl. dazu die Gesetzesbegründung in BT-​Drs. 17/12636, S. 50) und die gerade eine Ausnahme von dem ansonsten nach neuem Recht geltenden Tattagprinzip normiert (i.E. ebenso OVG Berlin-​Brandenburg, Beschl. v. 2.6.2015, OVG 1 S 90.14, juris Rn. 4, 7; OVG Münster, Beschl. v. 15.4.2015, 16 B 81/15, NJW 2015, 2138, juris Rn. 4 f.).

Die von dem Verwaltungsgerichtshof Mannheim (Beschl. v. 31.3.2015, 10 S 2417/14, NJW 2015, 2134, juris Rn. 7) zum Ausdruck gebrachten Zweifel am systematischen Verhältnis von § 4 Abs. 2 Satz 3, Abs. 5 Satz 5 StVG n.F. einerseits und § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 und Nr. 4 Satz 1 StVG n.F. andererseits teilt der beschließende Senat vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen nicht. Er hält auch die diesen Zweifeln zugrunde liegenden Erwägungen nicht für überzeugend: Der Einwand, die Übergangsregelungen in § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 und Nr. 4 Satz 1 StVG n.F. erwiesen sich wegen des ansonsten geltenden Tattagprinzips als inkonsistent (so VGH Mannheim, a.a.O.), ist nicht gerechtfertigt, weil § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 und Nr. 4 Satz 1 StVG n.F. eine Sonderregelung aus Anlass einer Rechtsänderung trifft und damit ein anderes Regelungsziel als die (Neu-​) Regelungen in § 4 Abs. 2 Satz 3, Abs. 5 Satz 5 StVG n.F. verfolgt. Und dass die gesetzliche Normierung des Tattagprinzips der Transparenz und Vorhersehbarkeit dienen soll (so VGH Mannheim, a.a.O.), spricht eher für als gegen die Eignung einer starren Stichtagsregelung bei der Überleitung der Punktestände, wie sie in § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 und Nr. 4 Satz 1 StVG n.F. vorgesehen ist.

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Übergangsregelungen in § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 und Nr. 4 Satz 1 StVG n.F. bestehen ebenfalls nicht. Soweit in § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 StVG n.F. der Sache nach normiert ist, dass das neue Recht auch auf Taten anzuwenden ist, die bereits vor seiner Geltung begangen worden sind, ist hiermit zwar eine sog. unechte Rückwirkung verbunden. Eine unechte Rückwirkung oder tatbestandliche Rückanknüpfung liegt vor, wenn die Rechtsfolgen einer Norm zwar erst nach ihrer Verkündung eintreten, deren Tatbestand aber Sachverhalte erfasst, die bereits vor der Verkündung "ins Werk gesetzt" worden sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2010, 1 BvR 2628/07, BVerfGE 128, 90, juris Rn. 47, m.w.N.). So liegt es hier, weil die von § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 StVG n.F. erfassten Taten bereits vor Inkrafttreten der Norm begangen worden sind, ohne dass ihre (verkehrs-​) rechtliche Bewertung bereits in der Vergangenheit abgeschlossen worden ist.

Indes ist eine unechte Rückwirkung mit den Grundsätzen grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes vereinbar, wenn bei einer Gesamtabwägung zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der Zumutbarkeit gewahrt bleibt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.7.2010, 2 BvL 14/02 u.a., BVerfGE 127, 31, juris Rn. 79 f., m.w.N.). Dies ist vorliegend der Fall, weil – wie bereits das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung zu Recht ausgeführt hat und worauf Bezug genommen wird – das Vertrauen eines wiederholt in Erscheinung tretenden Verkehrsteilnehmers darauf, dass sich die gefahrenabwehrrechtliche Bewertung seiner Verkehrsverstöße für die Zukunft nicht ändert, nicht oder jedenfalls nicht überwiegend schutzwürdig ist.

Dem kann der Antragsteller nicht mit Erfolg entgegen halten, dass er benachteiligt werde, weil er von seinem Recht auf Inanspruchnahme von Rechtsschutz gegen die Ahndung der ihm vorgeworfenen Verkehrsverstöße Gebrauch gemacht habe. Dass in seinem Fall die Voraussetzungen für die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht vorgelegen hätten, wenn auch die am 7. März 2013 bzw. am 10. März 2014 begangenen Taten noch in das Verkehrszentralregister eingetragen worden wären, spricht nicht gegen die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der hier relevanten gesetzlichen Übergangsregelungen. Die Übergangsregelungen in § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 StVG n.F. sehen keinerlei Differenzierungen vor, sondern sie stellen nach Art einer Stichtagsregelung unterschiedslos und ohne Rücksicht auf die hierfür maßgeblichen Gründe auf den Zeitpunkt der Eintragung von Taten im (Verkehrszentral- bzw. Fahreignungs-​) Register ab. Sie machen die Anwendung des neuen Rechts insbesondere nicht davon abhängig, dass der Betroffene zuvor gegen die Ahndung einer Tat Rechtsmittel eingelegt hat. Gerade die damit verbundene Zufälligkeit (kritisch VGH Mannheim, Beschl. v. 31.3.2015, 10 S 2417/14, NJW 2015, 2134, juris Rn. 7) zeigt, dass es sich bei den für den Antragsteller nachteiligen Folgen der Anwendung der Übergangsregelung nicht um eine in der Vorschrift angelegte Benachteiligung wegen der Inanspruchnahme von Rechtsschutz handelt, sondern um eine Folge, die mit einer Stichtagsregelung stets verbunden sein kann.

Der Entziehung der Fahrerlaubnis steht schließlich auch nicht § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG n.F. entgegen. Danach darf die zuständige Behörde eine Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 oder 3 StVG n.F. erst ergreifen, wenn die Maßnahme der jeweils davor liegenden Stufe bereits ergriffen worden ist. Dies war vorliegend der Fall.

Nach der Umrechnungstabelle in § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG n.F. war der Antragsteller zum 1. Mai 2014 im Fahreignungs-​Bewertungssystem – zutreffend – auf der Maßnahmestufe 2 („Verwarnung“) eingeordnet worden. Gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 2 StVG n.F. wird diese Stufe für Maßnahmen nach dem Fahreignungs-​Bewertungssystem zugrunde gelegt. Gemäß § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 3 StVG n.F. führt die Einordnung nach § 65 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 StVG n.F. allerdings noch nicht zu einer Maßnahme nach dem Fahreignungs-​Bewertungssystem. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll mit dieser Regelung gewährleistet werden, dass nicht allein die Umstellung des Systems und die dadurch bewirkte erstmalige Einordnung in die neuen Maßnahmenstufen, sondern erst eine Zuwiderhandlung und das hierauf folgende erstmalige Erreichen einer Maßnahmenstufe dazu führen können, dass eine Maßnahme ergriffen wird (vgl. BT-​Drs. 17/12636, S. 50). Mit Blick auf § 4 Abs. 6 Satz 1 StVG n.F. wird hierdurch umgekehrt aber auch zum Ausdruck gebracht, dass nach dem alten Recht vorgenommene Maßnahmen insoweit „angerechnet“ werden, als sie einer der nunmehr zu ergreifenden Maßnahme vorgelagerten Maßnahmestufe entsprechen (i.E. ebenso OVG Bautzen, Beschl. v. 7.7.2015, 3 B 118/15, SächsVBl. 2015, 255, juris Rn. 8; VGH München, Beschl. v. 7.1.2015, 11 CS 14.2653, juris Rn. 9; OVG Berlin-​Brandenburg, Beschl. v. 2.6.2015, OVG 1 S 90.14, juris Rn. 6).

Die nach altem Recht auf den der Maßnahmestufe 3 vorgelagerten Stufen vorgesehenen Maßnahmen hatte die Antragsgegnerin gegen den Antragsteller verfügt, denn sie hatte ihn mit Bescheid vom 11. Januar 2008 verwarnt und sie hatte mit Bescheid vom 16. Januar 2014 angeordnet, dass der Antragsteller an einem Aufbauseminar teilzunehmen habe. Sein Einwand, er habe den Bescheid vom 16. Januar 2014 nicht erhalten, greift angesichts des Zustellungsnachweises in der Sachakte der Antragsgegnerin nicht durch.

2. Gründe, aus denen das Aufschubinteresse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse gleichwohl überwiegt, liegen nicht vor. Soweit der Antragsteller mit seiner Beschwerdebegründung darauf verweist, dass die auch in diesem Verfahren zentrale Rechtsfrage des systematischen Verhältnisses von § 4 Abs. 2 Satz 3, Abs. 5 Satz 5 StVG n.F. einerseits und § 65 Abs. 3 Nr. 3 Satz 1 und Nr. 4 Satz 1 StVG n.F. andererseits in der Rechtsprechung nicht abschließend geklärt sei, rechtfertigt dies allein nicht die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der anhängigen Klage. Der beschließende Senat kann diese Rechtsfrage für das vorliegende Eilverfahren abschließend beurteilen (s.o.). Dass es nicht ausgeschlossen ist, dass die Rechtsfrage im Hauptsacheverfahren schließlich anders entschieden wird, ändert hieran nichts und liegt in der Natur der Sache. Davon abgesehen überwöge das private Aufschubinteresse das öffentliche Vollzugsinteresse nicht bereits dann, wenn die Rechtslage als offen angesehen würde. Für die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG n.F. hat der Gesetzgeber mit § 4 Abs. 9 StVG n.F. vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass er dem öffentlichen Interesse daran, ungeeignete Verkehrsteilnehmer vom Straßenverkehr frühzeitig auszuschließen, gegenüber dem Interesse der betreffenden Verkehrsteilnehmer daran, ihre Fahrerlaubnis bis zur abschließenden Klärung der Voraussetzungen für eine Fahrerlaubnisentziehung weiternutzen zu können, im Grundsatz Vorrang einräumt.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 47 Abs. 1, 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Für die Fahrerlaubnisklassen A und BE legt der beschließende Senat jeweils den vollen Auffangwert zugrunde (vgl. Nr. 46.1 und 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit). Die ferner vorhandene Fahrerlaubnisklasse L wirkt sich wegen § 6 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV nicht streitwerterhöhend aus. Der danach für das Hauptsacheverfahren festzusetzende Wert in Höhe von insgesamt 10.000,00 Euro ist für das vorliegende einstweilige Rechtsschutzverfahren zu halbieren.