Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

Landgericht Kiel Urteil vom 07.05.2015 - 13 O 235/14 - Kein Anscheinsbeweis bei Aufspaltung in zwei Fahrstreifen

LG Kiel v. 07.05.2015: Kein Anscheinsbeweis für unachtsamen Spurwechsel bei Aufspaltung in zwei Fahrstreifen


Das Landgericht Kiel (Urteil vom 07.05.2015 - 13 O 235/14) hat entschieden:
Eine seitliche Kollision zweier Fahrzeuge begründet im Fall eines Fahrstreifenwechsels den Anscheinsbeweis des Alleinverschuldens des Wechslers. Dies gilt jedoch nicht, wenn sich ein Fahrstreifen in größerer Entfernung vor einer Kreuzung in zwei Fahrstreifen aufteilt und beide breit genug für das Nebeneinanderfahren zweier Fahrzeug sind.


Siehe auch Fahrstreifenwechsel - Spurwechsel und Anscheinsbeweis - Beweis des ersten Anscheins - Beweis prima facie


Tatbestand:

Der Kläger beantragt die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Verkehrsunfallschaden. Der in Rede stehende Verkehrsunfall vom 11.07.2014 ereignete sich in Kaltenkirchen auf der Abwegung des Parkplatzes des Supermarktes Famila zum Kisdorfer Weg. Diese Abwegung befindet sich auf Privatgelände, ist aber mit Verkehrszeichen entsprechend StVO versehen, u.a. als Einbahnstraße in Richtung Kisdorfer Weg. Die Einmündung der Abwegung in den Kisdorfer Weg ist mit einer Lichtzeichenanlage versehen. Zum Unfallzeitpunkt befuhr der Kläger mit seinem Mercedes-​Benz Vito diese Abwegung Richtung der Lichtzeichenanlage. Gleichzeitig befuhr auch der Beklagte mit seinem Pkw Opel Meriva die entsprechende Abwegung. Beide wollten an der Lichtzeichenanlage nach links in den Kisdorfer Weg einbiegen. Hinsichtlich der Örtlichkeiten wird auf die Fotoanlage B 2 zur Klagerwiderung (Blatt 29-​33 der Akte) Bezug genommen. An zwischen den Parteien streitiger Stelle zog der im rechten Bereich der Abwegung fahrende Kläger sein Fahrzeug nach links und kollidierte dabei mit dem Fahrzeug des Beklagten.

Der Kläger behauptet, der Beklagte sei mit unzulässig hoher Geschwindigkeit gefahren, nämlich mit mindestens 50 km/h, der Beklagte habe überholt und sein, des Klägers Fahrzeug, berührt. Die Kollision habe sich an einer Stelle circa 50 - 60 m von der Lichtzeichenanlage entfernt und 3 - 4 Autolängen vom Beginn der gestrichelten Mittellinie entfernt ereignet, welch letztere den letzten Streckenabschnitt des auf die Ampel zuführenden Weges sichtbar in zwei Fahrstreifen teilt. Der Kläger behauptet, einen Netto-​Reparaturschaden laut Kostenvoranschlag in Höhe von 7.809,74 € und verlangt darüber hinaus neben Nebenkosten und Kosten der vorprozessualen Rechtsverfolgung einen Wertminderungausgleich in Höhe von 1.000,00 €. Er beruft sich zur Verursachung des Unfalls durch den Beklagten und zur Höhe des Schadens auf ein einzuholendes Sachverständigengutachten.

Der Kläger beantragt,
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, 8.829,74 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 08.10.2014 an ihn zu zahlen,

ferner,

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, zu Händen seiner Prozessbevollmächtigten 803,13 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Sie bestreiten, dass der Beklagte zu 1) mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei. Er sei vielmehr durchgehend im linken Bereich der Abwegung gefahren, als plötzlich das Fahrzeug des Klägers nach links herübergezogen worden sei und das die Kollision auslöste. Der Kläger habe einen Fahrspurwechsel vorgenommen, woraus sich seine Alleinverursachung und sein alleiniges Verschulden ergebe. Unabhängig davon sei es auch auf der Abwegung keineswegs zum Überholen zu eng, vielmehr führen dort regelmäßig zwei Fahrzeuge, sogar Lkws, nebeneinander.

Die Beklagten bestreiten im Übrigen die Behauptung des Klägers, dass auf der Abwegung vom Parkplatz eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 20 km/h bestehe. Es sei vielmehr eine Beschränkung auf 30 km/h angeordnet, wie dies ihres Erachtens auch aus einem der mit der Anlage B 2 vorgelegten Fotos hervorgehe.

Die Beklagten bestreiten die Höhe des behaupteten Schadens.

Wegen weiterer Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und auf die Erklärungen der Parteien zur Sitzungsniederschrift vom 26.03.2015 Bezug genommen.


Entscheidungsgründe:

Die Klage ist unbegründet.

Dem Kläger stehen keine Schadensersatzansprüche aus §§ 7, 17 StVG, 823, 249 ff BGB zu. Nach den Umständen des Unfalls ist auf den ersten Anschein davon auszugehen, dass der Unfall allein von dem Kläger durch einen regelwidrigen Fahrtrichtungswechsel verursacht worden ist, der sich für den Beklagten als unabwendbares Ereignis und höhere Gewalt im Sinne des § 7 Abs. 2 StVG darstellt. Die sich somit für den Beklagten grundsätzlich allein aus seiner Beteiligung am Unfall ergebende Haftbarkeit gemäß § 7 Abs. 1 StVG ist durch die sich aus der gleichen Vorschrift ergebende Verantwortlichkeit des Klägers selbst ausgeschlossen. Gemäß §§ 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG hängt bei Beteiligung mehrerer Kraftfahrzeuge am Unfallgeschehen die Haftung der beteiligten Fahrzeughalter zueinander und die Verpflichtung zum Schadensersatz von den Umständen des Einzelfalles ab.

Der Kläger hat den sich aus dem Wechsel des benutzten Teiles des Straßenkörpers zu seinem Nachteil ergebenden Anscheinsbeweis nicht ausgeräumt. Eine seitliche Kollision zweier Fahrzeuge begründet im Fall eines Fahrstreifenwechsels, worauf die Beklagten zutreffend hingewiesen haben, den Anscheinsbeweis des Alleinverschuldens des Wechslers.

Vorliegend ist zwar nach den beiderseitigen Angaben davon auszugehen, dass die Kollision beider Fahrzeuge sich, in Fahrtrichtung der Beteiligten gesehen, noch vor Beginn der gestrichelten Mittellinie des Wegekörpers ereignete, die den Weg bis zur Lichtzeichenanlage in zwei Hälften teilt, von denen die linke für den linksabbiegewilligen Verkehr bestimmt ist, zu dem beide Verkehrsteilnehmer gehörten.

Gleichwohl von den Grundsätzen für die Haftungsverteilung im Fall eines Fahrstreifenwechsels auszugehen. An der in Rede stehenden Unfallstelle war zum einen die sodann eine geraume Wegstrecke vor der Lichtzeichenanlage einsetzende, auch optisch markierte Teilung des Straßenkörpers in zwei Spuren bereits - auch aus 50-​60 m Entfernung von der Lichtzeichenanlage, nicht vom Beginn der Strichelung - sichtbar . Zum anderen lassen die vorgelegten Fotos deutlich erkennen, dass die sodann optisch markierten Hälften ohne Weiteres für den in die jeweilige Fahrtrichtung - links und geradeaus/rechts - führenden Verkehr der Breite nach ausreichen, und die Straße sich zum anderen im Bereich der optischen Teilung durch den Mittelstrich keineswegs verbreitert, sondern bereits auf der Länge der Zuwegung auf die Lichtzeichenanlage in gleichbleibender Breite verläuft. Somit gibt es bereits vor dem Mittelstrich eine insgesamt so breite Fahrbahn, dass eine Benutzung durch ein Fahrtzeug im linken Bereich und die Benutzung durch ein anderes Fahrzeug im rechten Bereich ohne Weiteres möglich ist. Die Benutzung dieses Straßenkörpers war ausweislich der Fotoanlage mit 30 km/h zulässig. Es waren auch, für Gegenteiliges ist weder etwas vorgetragen noch sonst ersichtlich, keine Einengungen durch abgestellte Container, Bauarbeiten oder dergleichen vorhanden. Die von den Beklagten vorgelegte Fotoanlage ist nicht unmittelbar nach dem Unfallgeschehen aufgenommen worden, so dass der vorstehende Hinweis vorsorglich erfolgt, obwohl die Fotos Container pp nur entfernt von der Unfallstelle zeigen.

Auf dieser Grundlage ist unstreitig, dass der Kläger sein Fahrzeug nach links hinüberzog, um auf den Linksabbiegerstreifen zu gelangen. Dieser Umstand führte dazu, dass es dann "auch schon gescheppert" hat. Der Kläger hatte seiner Darstellung zufolge vor der Lenkbewegung nach links durch den Fahrzeugspiegel nach hinten gesehen, ohne ein Gefahrenpotential wahrzunehmen. Der einfache Spiegelblick ist in entsprechenden Situationen im Zweifel allein ohnehin nicht ausreichend. Vorliegend ist darüber hinaus jedoch davon auszugehen, dass der Spiegelblick nicht hinreichend sorgfältig erfolgte, da er anderenfalls dazu geführt hätte, dass der Kläger das unstreitig bereits zuvor im linken Straßenbereich geführte Fahrzeug des Beklagten gesehen hätte, das ausweislich des Unfallereignisses vorhanden war. Selbst wenn der Beklagte mit 50 km/h, wie es der Kläger ohne nachvollziehbare Anhaltspunkte behauptet, herangekommen wäre, hätte der Kläger ihn durch einen hinreichend sorgfältigen Spiegelblick wahrnehmen müssen.

Entsprechendes würde erst recht für den Fall gelten, dass der Beklagte zum Zeitpunkt der Linkslenkung des Klägers sich mit diesem bereits auf etwa gleicher Höhe oder gar bereits eher vor dem Fahrzeug des Klägers befunden hätte, da dieser ggf. erst recht nicht nach links hätte lenken dürfen.

Das Gebot jeder nur erdenklichen Vorsicht im Rahmen des Fahrtrichtungswechsels galt in einer Verkehrssituation, in der ersichtlich zwei Fahrzeuge nebeneinander fahren können, für die einerseits noch keine optische Zuweisung des zu benutzenden bzw. "geschützten" Fahrbeinbereichs durch Mittelstrich erreicht war, diese Zuweisung andererseits jedoch bereits im Blickfeld war, umso mehr. Dass grundsätzlich mit Verkehr im Bereich der linken Wegehälfte zu rechnen war und auch der Kläger das so gesehen hat, geht daraus hervor, dass er sich eigener Darstellung zufolge vor der Linkslenkung im Spiegel zu vergewissern versucht hatte, dass der Richtungswechsel gefahrlos möglich sei.

Der Beklagte hat ausweislich der von beiden Parteien herangezogenen Angaben gegenüber den unfallaufnehmenden Polizeibeamten auch bereits seinerzeit bekundet, dass er den Teil des von ihm benutzten Fahrbahnkörpers Richtung Linksabbiegerspur gewechselt habe, was im noch optisch nicht geteilten Bereich der Straße noch höhere Vorsicht erforderte, als sie ohnehin im Straßenverkehr bei Vorhandensein optisch getrennter Fahrbahnen geboten ist.

Zwar hat auch der Beklagte ausgeführt, bis unmittelbar zum oder vor dem Zeitpunkt der Kollision das Fahrzeug des Klägers nicht gesehen zu haben. Das kann daran gelegen haben, dass der Beklagte vollständig unaufmerksam gewesen wäre, oder aber daran, dass er den Kläger mit seinem Fahrzeug zwar unbewußt gesehen, aber nicht wahrgenommen hatte. Der Grund kann jedoch auch darin liegen, dass der Kläger von hinten gekommen wäre, somit von außerhalb des Blickfelds des Beklagten. Im letztgenannten Falle hätte der Kläger keinesfalls einen Wechsel der Fahrbahnhälfte auf Höhe des Beklagten vornehmen dürfen, da er seinerseits den Beklagten im Blickfeld gehabt hätte, jedenfalls hätte haben können und müssen. In diesem Fall wäre somit, wie ausgeführt, erst recht davon auszugehen, dass dem Kläger die Alleinhaftung träfe.

Hätte indessen der Beklagte wegen Unaufmerksamkeit etwa den vor ihm fahrenden Kläger bzw. dessen Fahrzeug nicht wahrgenommen, ergäbe sich grundsätzlich die Frage einer Mithaftung der Beklagten in Höhe der Mindestbetriebsgefahr. Von einer derartigen Mithaftung der Beklagten ist jedoch nicht auszugehen, da der Beklagte auch in einem derartigen Fall von der Linkslenkung des Klägers überrascht worden wäre. Auch bei Unaufmerksamkeit des Beklagten wäre der Tatsache, dass die Kollision sich ereignete , zu entnehmen, dass der Beklagte unmittelbar zuvor zumindest annähernd auf gleicher Höhe fuhr und der Kläger keinesfalls noch den Wechsel des benutzten Fahrbahnbereiches einleiten durfte.

Dies gilt umso mehr, als nichts dafür ersichtlich ist, dass der Kläger vor dem Hinüberziehen seines Fahrzeuges nach links überhaupt und überdies rechtzeitig für die anderen Verkehrsteilnehmer den Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hätte. In der Klageschrift hatte der Kläger den Vorgang zunächst so dargestellt, dass ausschließlich ein Überholmanöver bei überhöhter Geschwindigkeit des Beklagten und damit verbunden eine seitliche Berührung der Fahrzeuge unfallursächlich geworden sei, was ggf. auch lediglich mit einer - nach Vorstehendem ausgeschlossen - Enge des Fahrbahnkörpers oder damit zu erklären gewesen wäre, dass der Beklagte eine Rechtslenkung vollzogen hätte. Auch für die Letztere ist weder etwas vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Für einen Aufklärungsversuch durch Einholung eines Gutachten fehlt es an hinreichenden Anknüpfungspunkten. Der Kläger verweist insoweit lediglich in unbestimmter Weise auf die Schadensbilder an den beteiligten Fahrzeugen. Hierzu legt er zwar Ausdrucke von Fotos seines Fahrzeuges vor, die für sich genommen indessen keinesfalls Schlussfolgerungen zulassen, solange nicht jedenfalls im Mindestmaß Anknüpfungspunkte auch aus dem Bereich des seinerzeit vom Beklagten gefahrenen Fahrzeugs vorhanden sind. Hierzu fehlt es an jeglichem Vortrag oder anderweitigen Anhaltspunkten , etwa zum Anstoßwinkel der Fahrzeuge und zur Stellung des Winkels im Verkehrsraum. Ob das Fahrzeug des Beklagten zu 1) noch im unfallbeschädigten Zustand zur Verfügung steht, nachdem die Haftpflichtversicherung des Klägers den Schaden des Beklagten vollständig reguliert hat, ist zudem offen.

Mangels Anspruchs in der Hauptsache steht dem Kläger auch kein Anspruch auf Ersatz vorprozessualer Kosten der Rechtsverfolgung zu.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91, 709 ZPO.