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OLG Hamm Urteil vom 27.02.2015 - I-20 U 26/15 - Offenbarungsobliegenheit des Versicherungsnehmers für versicherungsrelevante Gefahrumstände
OLG Hamm v. 27.02.2015: Offenbarungsobliegenheit des Versicherungsnehmers für versicherungsrelevante Gefahrumstände
Das OLG Hamm (Urteil vom 27.02.2015 - I-20 U 26/15) hat entschieden:
- Eine Pflicht zur Anzeige von durch den Versicherer nicht erfragten Gefahrumständen kommt allenfalls in Betracht bei solchen Gefahrumständen, die so selten und fernliegend sind, dass dem Versicherer nicht vorzuwerfen ist, diese nicht abgefragt zu haben.
- Eine Anzeigepflicht besteht nur bei solchen Gefahrumständen, nach denen der Versicherer in Textform (§ 126b BGB) gefragt hat, wobei die Wahrung des Textformerfordernisses voraussetzt, dass die Fragen in einer Urkunde oder in einer anderen zur dauerhaften Wiedergabe in Schriftzeichen geeigneten Weise gestellt wurden. Zudem muss dem Antragsteller das Antragsformular auch in Textform zur Verfügung gestellt werden, da nur so der Dokumentationsfunktion des § 126b BGB hinreichend Rechnung getragen wird.
Siehe auch Obliegenheitsverletzungen / Leistungsfreiheit und Regress der Kfz-Versicherung und Stichwörter zum Thema Kfz-Versicherung
Gründe:
Die Berufung der Beklagten hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung und es erfordern auch nicht die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Senats auf Grund mündlicher Verhandlung. Eine mündliche Verhandlung ist schließlich auch sonst nicht geboten.
Das Landgericht hat der Klage mit dem angefochtenen Urteil zu Recht stattgegeben und den Fortbestand der von der Klägerin bei der Beklagten genommenen Dread-Disease-Versicherung festgestellt.
Der Versicherungsvertrag ist weder durch die mit Schreiben der Beklagten vom 08.04.2013 erklärte Anfechtung wegen arglistiger Täuschung gem. §§ 22 VVG, 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB noch durch den zugleich erklärten Rücktritt wegen Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht gem. § 19 Abs. 1, Abs. 2 VVG beendet worden.
Das Landgericht hat angenommen, es könne nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin bei Antragstellung am 27.04.2000 gegenüber dem Versicherungsvermittler und Zeugen I im Rahmen der erfragten Gefahrumstände erklärt habe, sie habe sich vor längerer Zeit im Krankenhaus befunden, weil sie auf dem linken Auge nichts mehr gesehen habe, wobei eine Sehnervenstörung festgestellt und sie als gesund entlassen worden sei. Diese Feststellungen werden von der Berufung nicht angegriffen und sind für den Senat bindend.
Das Landgericht hat auf dieser Grundlage auch zu Recht angenommen, dass die Beklagte bereits den Nachweis einer objektiven Verletzung der Anzeigepflicht durch die Klägerin nicht geführt habe. Denn dasjenige, was der Versicherungsvermittler im Zusammenhang mit der Aufnahme des Versicherungsantrags erfährt, ist gem. § 70 Satz 1 VVG dem Versicherer zuzurechnen. Der Versicherer muss dabei beweisen, dass alle Fragen im schriftlichen Formular dem Antragsteller tatsächlich gestellt und so wie niedergelegt von ihm beantwortet worden sind (vgl. nur BGH, Versäumnisurt. v. 24.11.2010, IV ZR 252/08, juris, Rn. 26, VersR 2011, 737; Senat, Urt. v. 31.01.2015, 20 U 108/14, n.v.; Urt. v. 09.07.2008, 20 U 195/07, VersR 2009, 1649 = zfs 2010, 32). Bis zum Beweis des Gegenteils (BGH, Urt. v. 14.07.1993, IV ZR 153/92, juris, Rn. 32, BGHZ 123, 224 = VersR 1993, 1089) ist dem Versicherer daher zuzurechnen, was dem Vermittler im Gespräch mit dem späteren Versicherungsnehmer bekannt geworden ist, auch wenn es im schriftlichen, vom Vermittler ausgefüllten Antrag keinen Ausdruck gefunden hat.
Keiner abschließenden Entscheidung durch den Senat bedarf in diesem Zusammenhang die Frage, ob eine Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht durch die Klägerin unabhängig vom Ergebnis der Beweisaufnahme nicht bereits deshalb ausscheidet, weil es entgegen § 19 Abs. 1 Satz 1 VVG an einer Fragestellung in Textform fehlt. Allerdings besteht eine Anzeigepflicht nur bei solchen Gefahrumständen, nach denen der Versicherer in Textform (§ 126b BGB) gefragt hat, wobei die Wahrung des Textformerfordernisses voraussetzt, dass die Fragen in einer Urkunde oder in einer anderen zur dauerhaften Wiedergabe in Schriftzeichen geeigneten Weise gestellt wurden (OLG Saarbrücken, Urt. v. 10.10.2012, 5 U 408/11, zfs 2013, 223; Langheid, in: Römer/Langheid, VVG, 4. Aufl. 2014, § 19 Rn. 56). Zudem muss dem Antragsteller das Antragsformular auch in Textform zur Verfügung gestellt werden, da nur so der Dokumentationsfunktion des § 126b BGB hinreichend Rechnung getragen wird (vgl. KG, Beschl. v. 23.05.2014, 6 U 210/13, juris, Rn. 16, VersR 2014, 1357; Karczewski, r+s 2012, 521, 526; Looschelders, VersR 2011, 697, 698). Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass in Textform gefragt worden ist, trifft wiederum gem. § 69 Abs. 3 Satz 2 VVG den Versicherer (vgl. LG Berlin, Urt. v. 25.01.2013, juris, Rn. 50, 23 O 238/11, r+s 2014, 7). Die Klägerin hat insoweit unwidersprochen behauptet, bei Aufnahme des Antrags keine Kopie des Antragsformulars erhalten zu haben.
Soweit die Berufung rügt, die Klägerin sei verpflichtet gewesen, einen im Jahre 2005 im Zusammenhang mit ihrem stationären Aufenthalt im Universitätsklinikum C2 wegen der Sehnervenentzündung bestehenden und ihr gegenüber geäußerten Verdacht auf Multiple Sklerose anzugeben, weshalb das Landgericht ein diesbezügliches entscheidungserhebliches Beweisangebot der Beklagten übergangen habe, verhilft dies dem Rechtsmittel nicht zum Erfolg.
Denn kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin den stationären Aufenthalt wegen der Sehnervenstörung angezeigt hat, bedurfte es weitergehender Erklärungen zu einem in diesem Zusammenhang geäußerten Verdacht auf Multiple Sklerose nicht. Insoweit kann die unter Beweis gestellte Behauptung der Beklagten, der Klägerin sei im Zusammenhang mit dem stationären Aufenthalt der Verdacht auf Multiple Sklerose mitgeteilt worden, als wahr unterstellt werden. Keine der Gefahrfragen der Beklagten erstreckt sich nämlich für sich genommen auf eine solche Verdachtsdiagnose, wohingegen in Ansehung der mit der Frage 18. erfragten Erkrankungszeichen nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Klägerin die Sehnervenentzündung objektiv zutreffend angegeben hat.
Es mag hierbei zutreffen, dass sich der Antragsteller, der durch bagatellisierende oder verharmlosende Angaben den Eindruck erweckt hat, lediglich an einem belanglosen und alsbald vergehenden Missempfinden gelitten zu haben, unter gewissen Umständen auf die objektive Erfüllung der Anzeigepflicht nicht berufen kann (vgl. insoweit nur OLG Saarbrücken, Urt. v. 12.10.2005, 5 U 31/05, VersR 2007, 93). So liegt der Fall hier nicht, wenn die Klägerin dem Vermittler sowohl die Diagnose einer Sehnervenentzündung als auch den damit in Zusammenhang stehenden stationären Aufenthalt mitgeteilt hat. Denn den Hinweis auf eine über dieses Krankheitsbild hinausgehende Diagnose enthält auch der Arztbericht vom 25.05.2005 (GA 61) gerade nicht.
Wollte man von der Klägerin darüber hinausgehend verlangen, eine nicht abgefragte und unstreitig unbestätigte Verdachtsdiagnose mitzuteilen, liefe dies zudem auf die (Wieder-) Einführung einer weitgehenden spontanen Anzeigepflicht hinaus. Der Senat verkennt bei alledem nicht, dass nach der Gesetzesbegründung zu § 19 Abs. 1 VVG das Verschweigen eines gefahrerheblichen Umstandes, den der Versicherer nicht oder nur mündlich abgefragt hat, bei Arglist des Versicherungsnehmers ein Anfechtungsrecht des Versicherers nach § 123 BGB begründen können soll (BT-Drs. 16/3945, S. 64). Eine solche sich aus Treu und Glauben ergebende spontane Anzeigepflicht kommt aber allenfalls dann in Betracht, wenn es sich um die Mitteilung außergewöhnlicher und besonders grundlegender Informationen handelt, die das Aufklärungsinteresse des Versicherers so grundlegend berühren, dass sich dem Versicherungsnehmer ihre Mitteilungsbedürftigkeit aufdrängen musste (BGH, Beschl. v. 19.05.2011, IV ZR 254/10, VersR 2011, 1549 zu § 28 VVG). Um die mit § 19 Abs. 1 VVG bezweckte Abschaffung der spontanen Anzeigepflicht nicht zu unterlaufen, bedarf es hierbei solcher Gefahrumstände, die so selten und fernliegend sind, dass dem Versicherer nicht vorzuwerfen ist, sie nicht abgefragt zu haben (vgl. Knappmann, VersR 2011, 724, 726; in diese Richtung – mit weiteren Nachweisen zum Meinungsstand – auch LG Dortmund, Urt. v. 24.02.2012, 2 O 144/11, juris, Rn. 49 ff., r+s 2012, 426). Dies kommt bei einer unbestätigten Verdachtsdiagnose schon im Ansatz nicht in Betracht. Dies gilt umso mehr, als es sich vorliegend um den Verdacht gerade einer von 28 Erkrankungen handelt, für welche die Beklagte bedingungsgemäßen Versicherungsschutz verspricht. Die Beklagte selbst hätte es daher in der Hand gehabt, durch eine eindeutige Formulierung ihrer Antragsfragen ihr Informationsbedürfnis zu befriedigen. Der Sinn und Zweck des § 19 Abs. 1 Satz 1 VVG geht nämlich gerade dahin, dem Versicherungsnehmer das Risiko einer Fehleinschätzung hinsichtlich der Gefahrrelevanz abzunehmen (Senat, Urt. v. 03.11.2010, 20 U 38/10, juris, Rn. 57 mit weiteren Nachweisen, VersR 2011, 469 = r+s 2011, 198).
Auf die Gebührenermäßigung für den Fall der Berufungsrücknahme (KV Nr. 1222) wird hingewiesen.
Aufgrund des Hinweisbeschlusses ist die Berufung zurückgenommen worden.