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OLG Celle Urteil vom 27.01.2016 - 14 U 114/15 - Gemeinsame Betriebsstätte bei verbundenen Tätigkeiten
OLG Celle v. 27.01.2016: Gemeinsame Betriebsstätte bei verbundenen Tätigkeiten
Das OLG Celle (Urteil vom 27.01.2016 - 14 U 114/15) hat entschieden:
Eine gemeinsame Betriebsstätte i. S. d. § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII ist nur dann zu bejahen, wenn zwischen den Tätigkeiten der unterschiedlichen Bediensteten als solchen in der konkreten Unfallsituation eine Verbindung in dem Sinn besteht, dass betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinandergreifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen.
Siehe auch Betriebsweg - Werksverkehr - gemeinsame Betriebsstätte und Haftungsbeschränkung bei Wegeunfällen
Gründe:
(Abgekürzt gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a ZPO.)
Die zulässige Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg. Die Entscheidung des Landgerichts, wonach die Beklagte zu 1 neben dem bereits gesondert rechtskräftig verurteilten Beklagten zu 2 der Klägerin aus dem Unfallereignis vom 18. Oktober 2011 auf Schadensersatz haftet und sich nicht auf eine Haftungsprivilegierung gemäß § 106 Abs. 3 SGB VII berufen kann, ist nicht zu beanstanden.
1. Das Landgericht hat zu Recht angenommen, die Beklagte zu 1 könne sich nicht auf das Haftungsprivileg des § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII berufen.
Nach dieser Regelung sind Personen, auch wenn sie Versicherte verschiedener Unternehmen sind, aber vorübergehend betriebliche Tätigkeiten auf einer gemeinsamen Betriebsstätte verrichten, zum Ersatz des Personenschadens, der durch eine betriebliche Tätigkeit verursacht worden ist, nur dann verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder auf einem nach § 8 Abs. 2 Nrn. 1 bis 4 SGV VII versicherten Weg herbeigeführt haben.
Nach der Rechtsprechung des BGH erfasst der Begriff der gemeinsamen Betriebsstätte betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinandergreifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt. Erforderlich ist ein bewusstes Miteinander im Arbeitsablauf, das sich zumindest tatsächlich als ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen darstellt. Die Tätigkeit der Mitwirkenden muss im faktischen Miteinander der Beteiligten aufeinander bezogen, miteinander verknüpft oder auf gegenseitige Ergänzung oder Unterstützung ausgerichtet sein. Es muss die typische Gefahr bestehen, dass die Beteiligten sich „ablaufbedingt in die Quere kommen“; ein lediglich einseitiger Bezug genügt im Rahmen des § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII nicht (vergl. u. a. BGH MDR 2013, 590 ff.).
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Annahme einer gemeinsamen Betriebsstätte ist recht restriktiv. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass andernfalls dem Sinn und Zweck der Regelung des § 106 Abs. 3, 3. Alt. SGB VII nicht ausreichend Rechnung getragen würde, denn der darin enthaltene Haftungsausschluss beruht auf dem Gedanken der sog. Gefahrengemeinschaft (vgl. zum Ganzen: BGH, VersR 2004, 381 - juris, Rn. 17 sowie Rdnrn. 14 ff.).
Die vertraglichen oder sonstigen Beziehungen, die zu dem Tätigwerden der Arbeitnehmer der verschiedenen Unternehmen geführt haben, spielen für die Beurteilung, ob eine gemeinsame Betriebsstätte vorliegt, keine Rolle. Der Haftungsausschluss knüpft allein an die vorstehend dargestellten Merkmale an und ist allein im Hinblick auf die zwischen den Arbeitnehmern bestehende Gefahrengemeinschaft gerechtfertigt (BGH, VersR 2011, 882 - juris, Rn. 14). Für die Annahme einer gemeinsamen Betriebsstätte reicht ein zufälliges Aufeinandertreffen zweier Versicherter in ihrer betrieblichen Tätigkeit nicht aus. Es muss vielmehr eine Gefahrengemeinschaft in dem Sinne bestehen, dass der Versicherte des fremden Unternehmens durch die betriebliche Tätigkeit des Schädigers vorübergehend demselben typischen Risiko ausgesetzt ist, dem sonst insbesondere Arbeitskollegen desselben Betriebes ausgesetzt wären (OLG Hamm, NJW-Spezial 2012, 170 - juris, Rdnrn. 19, 20).
Der Bundesgerichtshof stellt zudem ganz entscheidend darauf ab, dass sich die Beurteilung, ob eine gemeinsame Betriebsstätte vorliegt, auf konkrete Arbeitsvorgänge beziehen muss (vergl. nur BGH MDR 2013, 590 ff. - juris Rdnr. 13).
Unter Beachtung dieser Grundsätze hat das Landgericht mit seinen Ausführungen auf S. 7 und 8 seines Urteils zutreffend das Vorliegen einer gemeinsamen Betriebsstätte verneint. Auf diese Ausführungen nimmt der Senat zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug.
Bezogen auf den konkreten Arbeitsvorgang ist im vorliegenden Fall nicht von dem erforderlichen bewussten Miteinander i. S. tatsächlich aufeinander bezogener Tätigkeiten auszugehen. Der Geschädigte L. und der Beklagte zu 2 wurden vielmehr parallel nebeneinander, aber beziehungslos zueinander tätig. Dass sich dabei ihre Arbeiten möglicherweise berührten, reicht zur Annahme einer gemeinsamen Betriebsstätte nicht aus.
Daran ändert auch das Vorbringen der Beklagten zu 1 in ihrer Berufungsbegründung unter Verweis auf ihren entsprechenden erstinstanzlichen Vortrag zu den von ihr geschilderten Besonderheiten des Nachtexpresses nichts. Im Gegenteil ergibt sich daraus in aller Deutlichkeit, dass der Geschädigte L. und der Beklagte zu 2 gerade nicht in irgendeiner Form beim konkreten Beladen des Lkw des Geschädigten L. zusammenwirkten, insbesondere der Beklagte zu 2 dem Zeugen L. nicht beim Be- bzw. Entladen seines Lkws behilflich war, sondern - entgegen den üblichen Gepflogenheiten - die Fahrer der Lkw selbst das Be- und Entladen vornahmen und nicht das Lagerpersonal.
Zu Recht hat das Landgericht auch dem Umstand keine Bedeutung beigemessen, dass der Beklagte zu 2 nach der Aussage des Zeugen O. zuvor die Gitterbox abgestellt haben soll, die anschließend der Geschädigte L. auf seine „Ameise“ geladen hatte. Hierbei handelt es sich lediglich um eine Berührung zweier voneinander getrennter Tätigkeiten, wobei das Abstellen der Gitterbox durch den Beklagten zu 2 ohnehin nicht speziell dem Beladen des vom Geschädigten L. gefahrenen Lkw galt.
Gleiches gilt für den von der Beklagten behaupteten Geschehensablauf, wonach die Fahrer der jeweiligen Lkw auch ihre Waren auf die Förderbänder legen und von diesen Bändern selbst entnehmen, sodass sie sich dabei unmittelbar „in die Quere“ kommen, denn bei dieser Tätigkeit hat sich der Unfall nicht ereignet.
Diese Bewertung folgt einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 10. Mai 2011 (MDR 2011, 786 f.). In diesem Fall hatte der Mitarbeiter eines Baumarktes gekaufte Ware mit einem Gabelstapler aus dem Lager in dem Bereich der Ladezone transportiert und dort zur Verladung durch den Käufer bereitgestellt. Der abgestellte Gabelstapler machte sich „selbständig“ und beschädigte den Pkw des Kunden. Der BGH hat das nicht für die Annahme eines aufeinander bezogenen betrieblichen Zusammenwirkens ausreichen lassen, sondern darauf abgestellt, dass es lediglich um das Bereitstellen der Ware zur Abholung durch den Käufer ging, ein etwaiges auf den Ladevorgang bezogenes Zusammenwirken der Parteien jedoch noch nicht begonnen gehabt habe. Dies gilt gleichermaßen für die hier zu beurteilende Fallkonstellation.
Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich insoweit entscheidend von dem von der Beklagten zu 1 herangezogenen Urteil des OLG Hamm vom 2. November 2011 (NJW-Spezial 2012, 170). Dort wurde das Vorliegen einer gemeinsamen Betriebsstätte bejaht in einem Fall, bei dem ein betriebsfremder Lkw-Fahrer und ein Beschäftigter des Unternehmens als Gabelstaplerfahrer auf dem Betriebsgelände gemeinsam damit befasst waren, einen Lkw mit Paletten zu beladen.
2. Ob sich die Beklagte zu 1 ggf. über § 831 BGB entlasten könnte, ist unerheblich, weil der zwischen der Beklagten zu 1 und der H. T. & K. GmbH geschlossene Vertrag, nach dem die H. T. & K. GmbH (im Folgenden Firma H.) für die Beklagte zu 1 Transporte durchführte und hierfür Fahrer der Firma H. die Umschlaghalle der Beklagten zu 1 betreten mussten, als Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter einzustufen ist.
Eine drittschützende Vertragswirkung ist anzunehmen, wenn eine ergänzende Vertragsauslegung dies gebietet. Dritte sind dann in den Vertrag als geschützter Personenkreis miteinzubeziehen, wenn sie bestimmungsgemäß mit der vertraglichen Leistung in Berührung kommen und den Gefahren von Schutzpflichtverletzungen ebenso ausgesetzt sind wie der Gläubiger selbst. Eine drittschützende Wirkung ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Leistungsgläubiger für das Wohl und Wehe des Dritten mitverantwortlich ist und dies für den Leistungsschuldner erkennbar ist. Darüber hinaus muss der Dritte insoweit schutzbedürftig sein, als er ohne Ausdehnung des Vertragsschutzes anderenfalls nicht ausreichend geschützt wäre. Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt.
Das Unfallereignis fand in einer Umschlaghalle der Beklagten zu 1 statt, deren Mitarbeiter der Beklagte zu 2 war. Aufgrund vertraglicher Vereinbarungen führte die Firma H., bei der wiederum der Geschädigte L. beschäftigt war, Transporte für die Beklagte zu 1 aus. Auch wenn der Geschädigte L. und der Beklagte zu 2 nicht im Sinne einer gemeinsamen Betriebsstätte ihre Tätigkeiten in Form eines bewussten Miteinanders im Betriebsablauf vollzogen, so kam es - auch nach der eigenen Darstellung der Beklagten zu 1 - zu tatsächlichen Berührungen durch die Nutzung desselben Betriebsgeländes. In dieser Bewertung liegt gerade kein Widerspruch zu der Verneinung des Vorliegens einer gemeinsamen Betriebsstätte, weil es dabei um die Verknüpfung der Tätigkeiten in Bezug auf die konkrete Unfallsituation geht.
Die Firma H. selbst war zwar als Vertragspartnerin der Beklagten zu 1 keinen Gefahren hinsichtlich ihres Rechtsgutes „Gesundheit“ ausgesetzt. Allerdings war für beide Vertragspartner erkennbar, dass jeweils eine überschaubare Anzahl von Mitarbeitern im Rahmen der Vertragserfüllung Gefahren ausgesetzt werden würde. Deshalb war es Nebenpflicht des zwischen der Firma H. und der Beklagten zu 1 geschlossenen Vertrages, bei der gemeinsamen Nutzung der Umschlaghalle und den dabei erforderlichen Be- und Entladetätigkeiten die erforderliche Sorgfalt einzuhalten, die notwendig ist, um eine Verletzung der Gesundheit der auf dem Betriebsgelände sich berechtigt aufhaltenden Mitarbeiter zu verhindern. Denn es ist stets als Nebenpflicht einer Vertragspartei anzusehen, die vertragliche Hauptpflicht in der Art und Weise zu erfüllen, dass dabei keine absoluten Rechte des Vertragspartners oder in den Vertrag einbezogener Dritter verletzt werden. Die vertraglichen Pflichten hat die Beklagte zu 1 zwar nicht selbst verletzt; sie hat sich zur Erfüllung ihrer Vertragspflicht vielmehr des Beklagten zu 2 bedient. Für dessen Verschulden hat die Beklagte zu 1 gemäß § 278 BGB jedoch einzustehen. Im Rahmen dieser Haftungsvorschrift ist keine Entlastung über den Nachweis einer ordnungsgemäßen Beaufsichtigung der tatsächlich handelnden Person möglich.
3. Die Beklagte zu 1 beanstandet auch zu Unrecht die zu ihren Lasten vom Landgericht angenommene Mithaftungsquote von 75 %.
Die Angriffe der Beklagten zu 1 gegen die Beweiswürdigung des Landgerichtes überzeugen nicht. Das Landgericht ist völlig zu Recht davon ausgegangen, dass die Aussage des Zeugen O. im Ergebnis unergiebig war, da er das Unfallgeschehen selbst überhaupt nicht beobachtet und ausweislich seiner protokollierten Aussage lediglich Rückschlüsse gezogen hat. Er hat nämlich aus dem Umstand, dass der Beklagte zu 2 seinen (des Zeugen) Lkw entladen wollte, geschlossen, dass er vorwärts gefahren sein müsse. Er hat dabei im Verlauf seiner Aussage dann eingeräumt: „Ob Herr F. unmittelbar vor dem Unfall vielleicht rückwärts gefahren ist, kann ich nicht sagen, da ich den Unfall selbst ja nicht gesehen habe.“ (Bl. 159 d. A. unten).
Im Ergebnis steht damit ´lediglich` fest, dass sowohl der Geschädigte L. als auch der Beklagte zu 2 nicht hinreichend aufmerksam bezüglich des jeweils anderen sich verhalten haben, den Beklagten zu 2 im vorliegenden Fall aber das deutlich überwiegende Verschulden schon im Hinblick auf den von ihm benutzten Gabelstapler traf. Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Beklagte zu 2 u. a. wegen des leise laufenden Elektromotors des Gabelstaplers im Hinblick auf den Lärmpegel in der Halle in besonderer Weise darauf achten musste, nicht mit einem der zu Fuß gehenden Fahrer oder anderen Mitarbeiter zu kollidieren.
4. Soweit die Beklagte zu 1 in der Berufungsbegründung nochmals auf den Vergleich in dem Verfahren 556 C 790/13 Amtsgericht Hannover verweist, bleibt dies ohne Erfolg. Ansprüche der Klägerin, die sie im vorliegenden Rechtsstreit geltend macht, sind durch den in dem Verfahren 556 C 790/13 AG Hannover unter dem 12. Juni 2013 geschlossenen Vergleich nicht berührt, denn die Klägerin verweist zu Recht darauf, dass Ansprüche auf Ersatz materieller Schäden des Geschädigten mit dem Unfallereignis auf sie übergegangen sind und der Geschädigte deshalb hierüber keine wirksame Verzichtserklärung abgeben konnte.
5. Zur Höhe erhebt die Beklagte zu 1 im Berufungsverfahren keine Einwendungen.
Nach alledem erweist sich die Berufung insgesamt als unbegründet.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO, die weiteren Nebenentscheidungen ergeben sich aus den §§ 708 Nr. 10, 713, 543 ZPO.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.