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OLG Brandenburg Urteil vom 22.12.2015 - 12 U 20/12 - Schmerzsymptomatik und neurotische Fehlverarbeitung

OLG Brandenburg v. 22.12.2015: Schmerzsymptomatik und neurotische Fehlverarbeitung des Unfallgeschehens


Das OLG Brandenburg (Urteil vom 22.12.2015 - 12 U 20/12) hat entschieden:
Ob eine Schmerzsymptomatik als Folge einer Primärverletzung auf einen Unfall zurückzuführen ist, ist eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität, die dem Beweismaß des § 287 ZPO unterliegt, so dass insoweit geringere Anforderungen an die Überzeugungsbildung zu stellen sind. Es genügt, je nach Lage des Einzelfalls, eine höhere oder deutlich höhere Wahrscheinlichkeit. Eine psychische Fehlverarbeitung schließt den Kausalzusammenhang zwischen einer Schmerzsymptomatik und dem Unfallgeschehen nicht aus, denn eine zum Schaden neigende Konstitution des Geschädigten, die den Schaden ermöglicht oder wesentlich erhöht, berührt den Zurechnungszusammenhang grundsätzlich nicht, so dass auch für seelisch bedingte Folgeschäden, die auf einer neurotischen Fehlverarbeitung oder einer psychischen Prädisposition des Geschädigten beruhen, der Schädiger einzustehen hat.


Siehe auch Fehlverarbeitung von Unfallfolgen - Begehrensneurose und Psychische Unfallfolgen und Fehlverarbeitung traumatischer Erlebnisse


Gründe:

I.

Der Kläger verlangt von den Beklagten Schadensersatz und Schmerzensgeld im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall vom 18.10.2008 auf der … Straße in W…, bei dem die Beklagte zu 2. auf das vorausfahrende Fahrzeug, in dem sich der Kläger als Beifahrer befand, auffuhr. Eine Haftung der Beklagten dem Grunde nach ist unstreitig. Der Kläger wurde bei dem Unfall verletzt. Die Parteien streiten im Wesentlichen über die Unfallbedingtheit des beim Kläger vorliegenden Schmerzsyndroms, das entsprechend dem Klägervorbringen zu einer dauerhaften Arbeitsunfähigkeit geführt habe. Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachverhalt wird Bezug genommen auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils.

Das Landgericht hat die Beklagten zur Zahlung eines Betrages von 20.721,93 € materielle Schäden betreffend und zur Zahlung eines weiteren Betrages von 3.000,00 € Schmerzensgeld verurteilt und die Feststellung ausgesprochen, dass die Beklagten verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche künftigen materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis zu erstatten. Schließlich hat das Landgericht außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 837,52 € ausgeurteilt. Es hat gemeint, dass nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vom Vorliegen einer unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit des Klägers auszugehen sei. Dies ergebe sich insbesondere aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. H…, der unfallfremde Erkrankungen für die bestehende Schmerzsymptomatik nicht habe feststellen können. Der nach dem Unfall aufgetretene Schmerz sei für maximal drei Monate plausibel. Für die weitere Entwicklung komme ein komplizierender psychischer Einfluss beim Kläger zum Tragen, so dass aus einem ursprünglich nicht sehr schweren Trauma ein chronisches Schmerzsyndrom mit vegetativen Begleitreaktionen habe werden können. Bei der Ermittlung des Verdienstausfallschadens könne der Nettolohn aus dem vorangegangenen Arbeitsverhältnis des Klägers zugrunde gelegt werden und der Ursachenzusammenhang sei auch nicht durch die Kündigung des Klägers vom 12.12.2008 unterbrochen worden, da davon auszugehen sei, dass dem Kläger wegen der eingetretenen Arbeitsunfähigkeit gekündigt worden sei. Als Schmerzensgeld sei ein Betrag von 3.000,00 € angemessen, wobei die Anlage des Klägers zur Entwicklung der Schmerzsymptomatik schmerzensgeldmindernd zu berücksichtigen sei. Das Schleudertrauma als solches sei mit den bereits gezahlten 2.500,00 € angemessen abgegolten.

Gegen das den Beklagten am 12.01.2012 zugestellte Urteil haben sie mit einem am 27.01.2012 beim Brandenburgischen Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit einem am 12.03.2012 eingegangenen Schriftsatz begründet.

Sie machen im Wesentlichen geltend, dass das Landgericht den medizinischen Sachverständigen eine Kollisionsgeschwindigkeit von mindestens 50 km/h vorgegeben habe, obwohl ihrerseits eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung von mehr als 13 km/h bestritten worden sei. Das Landgericht habe verfahrensfehlerhaft kein Unfallrekonstruktionsgutachten in Auftrag gegeben, so dass der Sachverständige Dr. H… von falschen Tatsachen ausgegangen sei. Außerdem seien die Behauptungen des Klägers durch das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht bestätigt worden, wobei nicht verständlich sei, dass das Landgericht kurzerhand mit dem Sachverständigen Dr. H… den Vorzug gegenüber den anders lautenden Feststellungen des Sachverständigen Dr. K… gegeben habe. Fehlerhaft sei das Landgericht auch zu der Annahme gelangt, dass dem Kläger wegen dessen Arbeitsunfähigkeit gekündigt worden sei.

Die Beklagten beantragen,
das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 10.01.2012 abzuändern und die Klage abzuweisen;

hilfsweise,

das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 10.01.2012 aufzuheben und den Rechtsstreit an das Landgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene Urteil und meint, das Landgericht habe hinsichtlich der Verletzungsfolgen sich zu Recht auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. H… als Neurologen gestützt, während dem Sachverständigen Dr. K… als Orthopäden hierfür der erforderliche Sachverstand fehle.

Der Senat hat ergänzend Beweis erhoben durch Einholung eines biomechanischen Unfallrekonstruktionsgutachtens des Sachverständigen Dr. S…, durch ergänzende Anhörung der Sachverständigen Dr. K… und Dr. H…, durch Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens des Dr. Sc… sowie durch Vernehmung des F… Ho… als Zeugen zur Frage des Kündigungsgrundes. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. S… vom 19.03.2013 (Bl. 621 ff), auf die ergänzende schriftliche Stellungnahme des Sachverständigen Dr. H… vom 29.04.2014 (Bl. 713 ff), auf das Sitzungsprotokoll betreffend die mündliche Verhandlung vom 04.12.2014 (Bl. 786 - 788), auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. Sc… vom 15.05.2015 (Bl. 830 ff) sowie auf dessen ergänzende schriftliche Stellungnahme vom 12.08.2015 (Bl. 872/873) Bezug genommen.


II.

Die zulässige Berufung hat in der Sache nur zum Teil Erfolg. Die Klage ist im erkannten Umfang begründet. Dem Kläger stehen ein Verdienstausfallschaden in Höhe von 13.042,50 € sowie ein Betrag in Höhe von 129,48 € für verauslagte Physiotherapiekosten und Praxisgebühren und schließlich das vom Landgericht ausgeurteilte weitere Schmerzensgeld von 3.000,00 € zu.

Der Kläger hat den von ihm zu führenden Vollbeweis (§ 286 Abs. 1 ZPO) in Bezug auf das Vorliegen einer unfallbedingten Primärverletzung erbracht. Zwischen den Parteien sogar unstreitig, dass der Kläger durch den Unfall eine Zerrung der HWS und eine Prellung des Rückens erlitten hat. Ob auch die beim Kläger bestehende Schmerzsymptomatik als Folge der Primärverletzung auf den Unfall zurückzuführen ist, ist eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität, die dem Beweismaß des § 287 ZPO unterliegt, so dass insoweit geringere Anforderungen an die Überzeugungsbildung zu stellen sind. Es genügt, je nach Lage des Einzelfalls, eine höhere oder deutlich höhere Wahrscheinlichkeit (BGH VersR 2005, 945; NJW 2004, 777; NJW 1994, 3295; OLG München, Urt. v. 25.06.2010, Az.: 10 U 1847/10; OLG Saarbrücken, Urt. v. 21.07.2009, Az.: 4 U 649/07). Mit einer solchen Wahrscheinlichkeit kann im vorliegenden Fall davon ausgegangen werden, dass das beim Kläger bestehende Schmerzsyndrom jedenfalls über einen gewissen Zeitraum auf das Unfallgeschehen zurückzuführen ist. Zwar hat der Sachverständige Dr. K… aus orthopädischer Sicht aus der Tatsache, dass bei dem Unfall keine schwerwiegenden Verletzungen der HWS aufgetreten seien und deshalb grundsätzlich mit Beschwerdefreiheit innerhalb von sechs bis acht Wochen zu rechnen sei, geschlossen, dass zwischen der traumatisch erlittenen Zerrung der HWS und dem aktuellen komplexen Schmerzsyndrom kein Zusammenhang bestehe, wobei er dem Kläger eine deutlich gestörte Schmerzverarbeitung mit einem verselbständigten Schmerzsyndrom attestiert. In seinem Ergänzungsgutachten führt er aus, es sei eine Schmerzverarbeitungsstörung anzunehmen, die individuell verschieden und durch unterschiedliche Begleitumstände z. B. in der Umgebung des Patienten (Arbeit, Familie, Konflikte etc.) aber auch durch individuelle Eigenschaften des Klägers ausgelöst werden könne und wegen der mannigfaltigen Kausalität sei die Entstehung einer Schmerzverarbeitungsstörung nicht vorhersehbar und somit auch nicht nach jeder Verletzung zu erwarten. Soweit der Sachverständige eine Ursächlichkeit der Schmerzsymptomatik mit dem Unfallgeschehen vor allem deswegen verneint, weil sich der Schmerz durch eine körperliche Störung oder ein physiologisches Geschehen nicht erklären lasse, greift dies aber zu kurz. Aus der Sicht eines Orthopäden erscheint es nachvollziehbar, wenn dieser sich zur Frage der Ausheilung einer HWS-​Verletzung in körperlicher Hinsicht äußert und insoweit den Zeitraum auf zwei bis drei Monate eingrenzt. Eine mögliche psychisch bedingte fehlerhafte Schmerzverarbeitung vermag der Sachverständige Dr. K… als Orthopäde jedoch nicht sicher zu beurteilen, wie er auch auf Nachfrage des Senats in der mündlichen Verhandlung vom 04.12.2014 bestätigt hat. Eine solche Fehlverarbeitung schließt den Kausalzusammenhang zwischen der bestehenden Schmerzsymptomatik und dem Unfallgeschehen nicht aus, denn eine zum Schaden neigende Konstitution des Geschädigten, die den Schaden ermöglicht oder wesentlich erhöht, berührt den Zurechnungszusammenhang grundsätzlich nicht, so dass auch für seelisch bedingte Folgeschäden, die auf einer neurotischen Fehlverarbeitung oder einer psychischen Prädisposition des Geschädigten beruhen, der Schädiger einzustehen hat (ständige Rechtsprechung des BGH, vgl. u. a. Urt. v. 10.07.2012, Az.: VI ZR 127/11). Von einer solchen Fehlverarbeitung ist vorliegend mit der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit auszugehen. Der Sachverständige Dr. H… als Neurologe stellt in seinem Gutachten zunächst noch etwas zurückhaltend fest, dass ein Zusammenhang der aktuell geschilderten Beschwerden mit dem Auffahrunfall „nicht ausgeschlossen“ werden könne. Er führt aber weiter aus, dass der Unfall zunächst einmal als auslösender Mechanismus für den unmittelbaren Schmerz über einen Zeitraum von maximal drei Monaten angesehen werden könne und mit hoher Wahrscheinlichkeit ein komplizierender psychischer Einfluss beim Kläger zum Tragen komme. Soweit im Bericht des …-​Klinikums von einer Anpassungsstörung und einer somatischen Depression die Rede sei, sei die Entwicklung einer Anpassungsstörung nur bei einer vorbestehenden entsprechenden Persönlichkeit zu erwarten, die beim Kläger vorliege. Somit habe aus einem ursprünglich nicht sehr schweren Trauma ein chronisches Schmerzsyndrom mit vegetativen Begleitreaktionen werden können. Insofern lasse sich ein Kausalzusammenhang nur für eine ursprünglich angeschobene Schmerzsituation erkennen, die anschließende Chronifizierung der Beschwerden sei einerseits von der Persönlichkeit des zu Begutachtenden als auch von privaten, finanziellen sowie juristischen Begleitumständen abhängig. In seinem Gutachten vom 29.04.2014 bleibt der Sachverständige auch unter Zugrundelegung der Erkenntnisse aus dem Unfallrekonstruktionsgutachten des Sachverständigen Dr. S… bei der Einschätzung, dass ein organisch bedingtes Schmerzsyndrom allenfalls für einen maximalen Zeitraum von drei Monaten als Unfallfolge anerkannt werden könne und es sich bei dem darüber hinausgehenden chronifizierten Schmerzerleben um eine Unfallfehlverarbeitung im Sinne einer psychischen Reaktionsbildung handelt. Daraus folgt, dass eine psychische Fehlverarbeitung des Unfalls vorliegt, die zwar ihre Grundlage in einer seelischen Anomalie oder Disposition des Klägers hat, die aber aus Rechtsgründen gleichwohl dem Schädiger zuzurechnen ist, zumal der Sachverständige Dr. H… in seiner ergänzenden Stellungnahme ausgeführt hat, es handele sich um eine psychische Reaktionsbildung auf dem Boden eines Traumas. Unter Heranziehung der Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften sei in Bezug auf das Trauma höchstens von einem Schweregrad II auszugehen, während für den Schweregrad III objektivierbare neurologische Ausfälle gefordert würden, die es hier nicht gegeben habe. Daraus wird deutlich, dass eine Zurechnung des Schadens auch nicht etwa schon deshalb entfällt, weil eine etwaige psychische Fehlverarbeitung sich aus einer Bagatellverletzung ableitet und deshalb die psychische Folgereaktion des Geschädigten wegen ihres groben Missverhältnisses zum Anlass schlechterdings nicht mehr verständlich wäre. Ein Unfallereignis, dass ein Halswirbelsäulenbeschleunigungstrauma mit Schmerzen und Bewegungseinschränkungen zur Folge hat, ist keine Bagatelle im Sinne einer Beeinträchtigung, die sowohl von der Intensität als auch der Art der Primärverletzung her nur ganz geringfügig ist und üblicherweise den Verletzten nicht nachhaltig beeindruckt, weil er schon aufgrund des Zusammenlebens mit anderen Menschen daran gewöhnt ist, vergleichbaren Störungen seiner Befindlichkeit ausgesetzt zu sein (vgl. BGH NJW 2004, 1945, 1946; OLG Saarbrücken, Urt. v. 21.07.2009, Az.: 4 U 649/07). Mögen die Verletzungen vorliegend nicht besonders schwerwiegend gewesen sein, stellen sich gleichwohl das Unfallgeschehen und die sich daraus ergebenden nachgewiesenen Verletzungen nicht als Bagatelle dar, wobei die Tatsache, dass es sich nicht um einen Bagatellunfall gehandelt hat, auch daraus hervorgeht, dass nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. S… die Kollisionsgeschwindigkeit wahrscheinlich 50 - 55 km/h betragen hat, und durch den Aufprall des Klägerfahrzeugs eine unfallbedingte Geschwindigkeitsänderung von 20 - 27 km/h erfahren hat. Auch unter Berücksichtigung dieser Informationen ist der Sachverständige Dr. H… bei seiner Einschätzung geblieben, dass es sich bei dem erlittenen organischen Trauma um ein solches mit einem Schweregrad von höchstens II handelt. Dies stellt sich aber nicht als Bagatellverletzung dar und auch von der Intensität her handelte es sich bei dem Unfallgeschehen nicht um eine solche, denn nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. S… bewirkte die von ihm berechnete unfallbedingte Geschwindigkeitsänderung von 20 - 27 km/h bereits allgemein anerkannte verletzungsgefährliche Belastungen, wobei der Kläger bei dem Unfall nicht nur durch den Aufprall des Beklagtenfahrzeugs belastet wurde, sondern eine zusätzliche Belastung ging vom Aufprall auf das davor befindliche Fahrzeug aus. Hierdurch wurde der Kläger zusätzlich nach vorn geschleudert, aufgefangen durch den angelegten Sicherheitsgurt, wobei dieses Auffangen der Körperbewegungen nach vorn sowohl infolge des Rückpralls von der Rücklehne als auch infolge des Aufpralls auf das davor befindliche Fahrzeug die Wirbelsäulen- und Halsmuskulatur der Insassen zusätzlich belastet hat. Auch vor dem Hintergrund dieser Ausführungen kann vom Vorliegen eines Bagatellgeschehens keine Rede sein.

Grundsätzlich haben damit die Beklagten für die psychischen Folgeschäden des Klägers einzustehen, wobei allerdings der Zurechnungszusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und der psychischen Fehlverarbeitung ausscheidet, wenn zwischen dem Unrechtsgehalt der Körperverletzung und der daran anknüpfenden Begehrensneurose keine einleuchtende Zweckverbindung besteht (BGH VersR 1979, 718, 719). Es widerspricht dem Normzweck eines Schadensersatzanspruches, wenn der Schädiger für Schadensfolgen aufkommen muss, die zwar äquivalent kausal auf dem Unfallgeschehen beruhen, bei denen aber ein neurotisches Streben nach Versorgung und Sicherheit prägend im Vordergrund steht (BGH, Urt. v. 10.07.2012, Az.: VI ZR 127/11). In solchen Fällen realisiert sich das allgemeine Lebensrisiko und nicht mehr das vom Schädiger zu tragende Risiko der Folgen einer Körperverletzung. Ob ein solcher Fall vorliegt, hat der Schädiger zu beweisen, wobei ausreichend für die Verneinung des Zurechnungszusammenhangs ist, dass die Beschwerden entscheidend durch eine neurotische Begehrenshaltung geprägt sind. Diese Wertungsfrage hat das Gericht auf der Grundlage von zu treffenden Feststellungen zu den bestehenden Beschwerden, den primären Unfallverletzungen und ihren Folgen, dem Unfallereignis, der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen und eventuellen sekundären Motiven zu beantworten, wozu es grundsätzlich sachverständiger Beratung bedarf (BGH a.a.O.). Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann - jedenfalls inzwischen - davon ausgegangen werden, dass beim Kläger ein neurotisches Streben nach Versorgung und Sicherheit prägend im Vordergrund steht. Der Sachverständige Dr. Sc… hat in seinem psychiatrischen Sachverständigengutachten festgestellt, dass es im Verlauf von sechseinhalb Jahren seit dem Unfall zu einer Chronifizierung und Generalisierung des Schmerzsyndroms gekommen ist und er diagnostiziert eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Die über den üblichen Heilungsverlauf von drei Monaten hinausgehende Chronifizierung des Schmerzsyndroms sei nur durch psychosoziale aufrechterhaltende Faktoren zu erklären, die nicht als direkte Unfallfolge anzusehen seien. Der Kläger sei durch gravierende psychosoziale Belastungen (Verlust des Arbeitsplatzes, Trennung von der Lebensgefährtin, Rückzug ins Elternhaus, Verlust von Kontakten und Interessen, fehlende Lebensperspektive) in eine Lebenskrise geraten, die er aufgrund fehlender Anpassungsstrategien nicht habe bewältigen können und infolge seines einseitig somatischen Krankheitskonzepts habe er sich nicht ausreichend auf die Psychotherapie einlassen können. Die vom Kläger angestrengten Klageverfahren seien als weiterer wesentlicher aufrechterhaltender Faktor anzusehen, insofern die Notwendigkeit des Nachweises seiner Beschwerden im Rahmen der wiederholen Begutachtungen ein schwerwiegendes Therapiehindernis darstelle. Zusammenfassend führt der Sachverständige das gegenwärtige bestehende Schmerzsyndrom und die darauf zurückzuführende dauerhafte Erwerbsunfähigkeit als nicht mehr kausal auf den Auffahrunfall zurück.

In seiner ergänzenden Stellungnahme ist der Sachverständige zunächst einmal der Auffassung des Klägers, ausweislich des Gutachtens sei von einer (ersatzfähigen) Konversionsneurose auszugehen, entgegengetreten und hat ausgeführt, bei einer Konversionsneurose handele es sich um eine Störung, bei der ein unlösbarer intrapsychischer Konflikt in Körpersymptome umgewandelt werde, die den Konflikt symbolhaft darstellten und diese Konstellation liege beim Kläger nicht vor. Die Aufrechterhaltung des Schmerzsyndroms sei auf eine Reihe von psychosozialen Faktoren zurückzuführen. Es handele sich um ein komplexes biopsychosoziales Ursachengefüge, wobei sich das Gewicht im Verlauf von der initialen körperlichen Verletzung zu den später hinzutretenden psychosozialen Faktoren verschoben habe. Vielmehr befinde sich der Kläger in einem so genannten Zielkonflikt, der darin bestehe, dass der Wunsch nach Kompensation für das erlittene Unrecht im Rahmen der verschiedenen Rechtstreitigkeiten dem Wunsch nach Genesung entgegenstehe. Es sei davon auszugehen, dass der Wunsch nach Kompensation - neben den weiteren beschriebenen unfallunabhängigen psychosozialen Faktoren - wesentlich zur Aufrechterhaltung der aktuellen vorhandenen Beschwerden beigetragen habe. Damit hat der Sachverständige überzeugend zum Ausdruck gebracht, dass der Kläger den Unfall in einem neurotischen Streben nach Versorgung und Sicherheit nur noch zum Anlass nimmt, den Schwierigkeiten des Erwerbslebens auszuweichen. Zweifel an der Richtigkeit der in jeder Hinsicht gut nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen ergeben sich nicht. Sie wurden auch von den Parteien nicht ernsthaft in Zweifel gezogen. Die Feststellungen decken sich auch im Wesentlichen mit den Feststellungen der Vorgutachter, insbesondere auch des Neurologen Dr. H…. Das Gutachten des Sachverständigen Dr. Sc… setzt sich mit der objektiven Schwere der Unfallverletzungen und deren Erleben durch den Kläger auseinander, wobei der Sachverständige auch näher auf die Persönlichkeitsstruktur des Klägers eingeht und offenlegt, woraus er die Begehrenshaltung herleitet. So hatte der Kläger gegenüber dem Sachverständigen u. a. angegeben, er habe etwa ein Jahr nach dem Unfall insgesamt vier Klageverfahren angestrengt und dabei die Klage gegen die private Unfallversicherung verloren. Eine Erwerbsminderungsrente sei vom Sozialgericht bewilligt worden und in Bezug auf das vorliegende Klageverfahren gehe es ihm weniger um Gerechtigkeit, denn die erlittenen Schmerzen seien ohnehin nicht bezahlbar. Er müsse jedoch seine zukünftige finanzielle Absicherung sicherstellen.

Nicht eindeutig zu beantworten vermochte der Sachverständige allerdings die Frage, ab wann konkret es zu der von ihm beschriebenen „Verschiebung der Wesensgrundlage“ gekommen ist. Davon, dass sie schon von Beginn der psychischen Fehlverarbeitung an vorgelegen hat, kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgegangen werden. Soweit der Sachverständige abschließend feststellt, es sei hierfür eine neurologische Beurteilung maßgeblich und der Vorgutachter habe insoweit einen Zeitraum von drei Monaten angegeben, folgt daraus nur, dass nach Ablauf dieses Zeitraums die psychosozialen Faktoren „die Oberhand“ bekam. Allein dies hindert aber, wie eingangs näher dargelegt, die Annahme eines Zurechnungszusammenhangs der psychischen Fehlverarbeitung zum Unfallgeschehen nicht. Hinsichtlich der sogenannten Verschiebung der Wesensgrundlage hat der Sachverständige jedenfalls klargestellt, dass sich dieser Übergang nicht abrupt vollziehe, sondern fließend, wobei eine prozentuale Quantifizierung des Übergangs aus psychiatrischer Sicht nicht möglich sei. Dass eine das Beschwerdebild prägende Begehrenshaltung auch erst im Laufe der Zeit angenommen werden kann, ist in der Rechtsprechung anerkannt (BGH a.a.O.; OLG Hamm, Urt. v. 25.02.2003, Az.: 27 U 211/01). Soweit sich der Sachverständige zu einer klaren Zäsur nicht in der Lage gesehen hat, bilden die Ausführungen des Sachverständigen in ihrer Gesamtheit durchaus eine Grundlage für eine entsprechende Wertung, die dahin geht, dass nach Ablauf der üblichen Ausheilungsphase der Primärverletzung von drei Monaten die sich im Anschluss daran ergebende psychische Fehlverarbeitung nach Ablauf eines Zeitraums von zweieinhalb Jahren dahin gewandelt hat, dass sich die Begehrenshaltung des Klägers als prägend erwiesen hat. Nach den Feststellungen des Sachverständigen war wesentlich für die Begehrenshaltung des Klägers die Durchführung verschiedener Rechtsstreitigkeiten gegenüber der Versicherung, dem Sozialversicherungsträger und den Geschädigten. Der Sachverständige Dr. Sc… hat nachvollziehbar zum Ausdruck gebracht, dass der Wunsch nach Kompensation für das erlittene Unrecht im Rahmen der verschiedenen Rechtstreitigkeiten dem Wunsch nach Genesung entgegenstand und die Notwendigkeit, den Kompensationsanspruch im Rahmen der Begutachtungen immer wieder durch Beschwerden rechtfertigen zu müssen, einen Erfolg der Psychotherapie verhinderte. Hinzu gekommen sind psychosoziale Faktoren wie Trennung von der Lebensgefährtin und Verlust des Arbeitsplatzes. Ausgehend davon, dass der vorliegende Rechtsstreit im Jahre 2009 begonnen wurde und in der Folge Gutachten eingeholt wurden einerseits des Dr. K… aus April 2010 und überdies des Dr. H… aus Juli 2011 und auch davon, dass bis dahin weitere Gutachten eingeholt wurden wie z. B. ein Gutachten des ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit im Februar 2010, kann davon ausgegangen werden, dass sich der vom Sachverständigen als fließend beschriebene Übergang jedenfalls im Laufe des Jahres 2011 vollzogen hat. Auf der Grundlage der sachverständigen Feststellungen schätzt der Senat mithin den Zeitraum einer unfallbedingten psychischen Fehlverarbeitung auf zweieinhalb Jahre. Unter Hinzurechnung einer dreimonatigen Heilungszeit der Primärverletzung endete mithin eine unfallbedingte psychische Beeinträchtigung des Klägers am 18.07.2011.

Für den vom Kläger geltend gemachten Erwerbsschaden bedeutet dies, dass der von ihm bis zum 31.08.2011 berechnete Schaden um 44 Tage zu kürzen ist. Eine weitere Kürzung ergibt sich aus der unzutreffenden Schadensberechnung des Klägers, der das Landgericht zu Unrecht gefolgt ist. Insoweit wird zunächst Bezug genommen auf den Hinweis des Senats vom 16.09.2014. Auszugehen ist mithin zunächst von einem monatlichen Einkommen von 1.501,74 €, woraus sich pro Tag ein Betrag von 50,06 € ergibt. Unter Abzug des Krankengeldes in Höhe von 33,84 € verbleibt ein Differenzbetrag von 16,22 € pro Tag. Dabei kann auch davon ausgegangen werden, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses auf der Erkrankung des Klägers, der sich seinerzeit noch in der Probezeit befand, beruhte. Demgegenüber kann von einer betriebsbedingten Kündigung nicht ausgegangen werden, auch wenn eine solche zu einem etwas späteren Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden kann, weil ein wichtiger Geschäftspartner des neuen Arbeitgebers des Klägers weggefallen war. Der Zeuge Ho… hat hinreichend plausibel deutlich gemacht, dass gerade die nicht absehbare Genesung des Klägers die Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Wesentlichen herbeigeführt hat.

Zu berücksichtigen ist allerdings, worauf der Senat ebenfalls bereits hingewiesen hat, dass nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden kann, dass der Kläger bei seinem neuen Arbeitgeber denselben Verdienst erzielt hätte, wie bei seinem früheren Arbeitgeber. Die das neue Arbeitsverhältnis betreffenden Einkommensnachweise ergeben Schwankungen, die eher für ein etwas geringeres Einkommen sprechen. Hinzu kommt, dass sich der Kläger die Einsparung berufsbedingter Aufwendungen anrechnen lassen muss, die der Senat unter Einbeziehung der Unwägbarkeiten hinsichtlich der künftigen Einkommensentwicklung im Wege der Schätzung mit einem Prozentsatz von insgesamt 15 Prozent bemisst (§ 287 Abs. 1 ZPO). Ausgehend von einem Erwerbsausfallschaden bis zum 17.07.2011 in Höhe von zunächst 15.344,12 € verbleibt unter Abzug eines Betrages von 2.301,62 € (= 15 Prozent vorgenannten Betrages) eine Forderung von 13.042,50 €, der ein Betrag von 129,48 € für Physiotherapiekosten hinzuzurechnen ist, so dass sich eine Gesamtforderung von 13.171,98 € für materielle Schäden ergibt.

Für die Schmerzensgeldbemessung ist der vom Landgericht ausgeurteilte Betrag von weiteren 3.000,00 € - jedenfalls zulasten der Beklagten - nicht zu beanstanden, ausgehend davon, dass unfallbedingte Beeinträchtigungen bis Mitte 2011 vorgelegen haben. Mithin bleibt die Berufung der Beklagten in diesem Punkt ohne Erfolg.

Der Feststellungsantrag ist unbegründet. Künftige unfallbedingte Schadensfolgen erscheinen ausgeschlossen. Die Primärverletzung ist ausgeheilt und vor dem Hintergrund der vorherigen Ausführungen besteht eine unfallbedingte psychische Fehlverarbeitung ebenfalls - jedenfalls inzwischen - nicht mehr, so dass künftige Schadensfolgen nicht mehr zu erwarten sind.

Hinsichtlich der außergerichtlichen Anwaltskosten ergibt sich ein Anspruch aus §§ 286 Abs. 1, 280 Abs. 1 BGB in Höhe von 661,16 €, ausgehend von einem der Berechnung zugrunde zu legenden Gegenstandswert von 7.086,76 €. Dieser Wert bestimmt sich nach der Forderung, die im Zeitpunkt der gerichtlichen Geltendmachung begründet war. Dies war hinsichtlich des Schmerzensgeldes in Höhe eines Betrages von 3.000,00 €, der Physiotherapiekosten in Höhe eines Betrages von 129,48 € und in Bezug auf den Erwerbsschaden in Höhe eines Betrages von 3.957,68 € der Fall.

Der Zinsanspruch folgt aus §§ 291, 288 Abs. 1 BGB.

Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 543 Abs. 2 ZPO bestehen nicht. Es handelt sich um eine Entscheidung, die unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls ergeht und die zu grundsätzlichen Rechtsfragen auch nicht von höchst- oder obergerichtlicher Rechtsprechung abweicht.

Der Streitwert für die erste Instanz wird abweichend von der landgerichtlichen Streitwertfestsetzung auf insgesamt 48.221,93 € festgesetzt (20.721,93 € für die materiellen Schäden, 17.500,00 € Schmerzensgeld und 10.000,00 € für das Feststellungsbegehren).

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf insgesamt 33.721,93 € festgesetzt (20.721,93 € für die materiellen Schäden, 3.000,00 € Schmerzensgeld und 10.000,00 € für das Feststellungsbegehren).