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Amtsgericht Michelstadt Urteil vom 06.07.2015 - 1 C 209/14 (02) - Keine Wartepflicht des Geschädigten auf Restwertangebot des Haftpflichtversicherers

AG Michelstadt v. 06.07.2015: Keine Wartepflicht des Geschädigten auf Restwertangebot des Haftpflichtversicherers


Das Amtsgericht Michelstadt (Urteil vom 06.07.2015 - 1 C 209/14 (02)) hat entschieden:
Ein Geschädigter kann die Veräußerung seines Unfallfahrzeugs sofort vornehmen, nachdem der Restwert durch einen Sachverständigen ordnungsgemäß ermittelt wurde. Eine Wartepflicht des Unfallgeschädigten bezüglich der Veräußerung des Unfallfahrzeugs oder eine Informationspflicht gegenüber dem regulierungspflichtigen Haftpflichtversicherer, um diesem die Unterbreitung eines Restwertangebotes zu ermöglichen, existiert nicht.


Siehe auch Totalschaden - Wiederbeschaffungswert und Der Restwert des unfallbeschädigten Fahrzeugs bei Totalschaden


Tatbestand:

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Schadensersatz aufgrund eines Verkehrsunfalls.

Die vorsteuerabzugsberechtigte Klägerin war Eigentümerin des Fahrzeugs Opel Insignia mit dem amtlichen Kennzeichen ... . Das Fahrzeug der Klägerin erlitt am 20.11.2013 durch einen von dem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug verursachten Verkehrsunfall einen wirtschaftlichen Totalschaden. Der Verkehrsunfall ereignete sich in ... . Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach ist unstreitig. Der Wiederbeschaffungswert des Fahrzeuges betrug netto 13.361,34 Euro. Der von der Klägerin beauftragte Sachverständige, der Zeuge ... ermittelte in seinem Gutachten vom 25.11.2013 einen Restwert netto von 1.403,36 Euro. Am 26.11.2013 verkaufte die Klägerin das Fahrzeug für 1.428,57 Euro netto. Am 06.12.2013 forderte die Klägerin durch Anwaltsschreiben die Beklagte zur Zahlung von 14 Tagen auf und teilte mit, dass der vorgerichtlich beauftragte Rechtsanwalt für den Erhalt von Restwertangeboten nicht zustellungsbevollmächtigt ist. Am 19.12.2013 sendete die Beklagte an den vorgerichtlich beauftragten Anwalt der Klägerin ein Restwertangebot in Höhe von 5.380,00 Euro und erteilte Abrechnung. Mit Anwaltsschreiben vom 21.01.2014 wurde die Beklagte abermals vergeblich zur Zahlung aufgefordert. Außergerichtlich regulierte die Beklagte 9.593,65 Euro. Mit der vorliegenden, der Beklagten am 08.05.2014 zugestellten Klage begehrt die Klägerin die Zahlung der Differenz aus realisiertem Restwert und Restwertangebot der Beklagten gemäß Schreiben vom 19.12.2013.

Die Klägerin behauptet, der Zeuge ... habe in seinem privaten Gutachten vom 25.11.2013 den Restwert des Unfallfahrzeugs-​ordnungsgemäß festgestellt, da die darin beinhalteten Angebote von Restwertaufkäufern auf dem regionalen Markt auf Grundlage der Darstellung der tatsächlichen Schäden am Fahrzeug eingeholt worden seien. Sie ist der Ansicht, sie sei auf Basis des eingeholten Gutachtens zur Veräußerung ermächtigt gewesen, ohne der Beklagten die Abgabe eines eigenen Restwertangebotes zu ermöglichen. Es habe keine Wartepflicht bestanden.

Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 3.951,43 Euro nebst fünf Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz ab dem 22.12.2013 sowie außergerichtlich entstandene Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 119,60 Euro nebst fünf Prozentpunkten Zinsen über dem Basiszinssatz hieraus ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Ansicht, die Klägerin habe ihre Schadensminderungspflicht im Sinne von § 254 BGB verletzt. Sie hätte der Beklagten ihr Gutachten zur Prüfung der Restwertangebote zur Verfügung stellen müssen und ein paar Tage mit dem Verkauf zuwarten müssen, da sie dann einen höheren Restwert erzielt hätte.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch die uneidliche Vernehmung des Zeugen .... Bezüglich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der öffentlichen Sitzung vom 15.06.2015 verwiesen.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien sowie alle sonstigen Bestandteile der Akte Bezug genommen.


Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 3.951,43 Euro gemäß §§ 823 Abs. 1 BGB, 115 VVG.

Die Einstandspflicht der Beklagten dem Grunde nach ist zwischen den Parteien unstreitig.

Die Beklagte hat an die Klägerin auch die Differenz aus dem tatsächlich erzielten Restwert durch den Verkauf vom 26.11.2013 und dem Restwertangebot der Beklagten gemäß Schreiben vom 19.12.2013 zu erstatten. Es bestand zu Lasten der Klägerin keine Wartepflicht. Die Klägerin hat zu Recht auf Grundlage eines ordnungsgemäß erstellten Sachverständigengutachtens den Restwert des Unfallfahrzeuges ermittelt und durch Verkauf am 26.11.2013 realisiert. Eine Wartepflicht des Unfallgeschädigten bezüglich der Veräußerung des Unfallfahrzeuges oder eine Informationspflicht gegenüber dem regulierungspflichtigen Haftpflichtversicherer, um diesem die Unterbreitung eines Restwertangebotes zu ermöglichen, existiert nicht (siehe Grüneberg in: Palandt, 74. Auflage 2015, § 249 Rd.Nr. 17 mwN.).

Das Gutachten, auf das die Klägerin ihre Abrechnung stützt, ist auch ordnungsgemäß eingeholt worden. Dieses steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zur Überzeugung des Gerichts fest. Der Sachverständige hat auf dem regionalen Markt drei Angebote eingeholt. Nach der Überzeugung des Gerichts lag den in das Gutachten eingeflossenen Angeboten auch die Kenntnis der potentiellen Käufer von den Schäden und dem Schadensumfang am streitgegenständlichen Fahrzeug zugrunde. Der Zeuge ..., welcher das maßgebliche Gutachten erstellt hat, hat im Rahmen seiner Vernehmung zur Überzeugung des Gerichts bekundet, dass er die professionellen potentiellen Aufkäufer vor Angebotsabgabe telefonisch über den Zustand des Fahrzeuges in Kenntnis gesetzt hat. Er hat bekundet, er habe den möglichen Restwertaufkäufern das Fahrzeug am Telefon inklusive der erlittenen Beschädigungen genau beschrieben, insbesondere hinsichtlich des Art und Umfangs des Schadens sowie der anstehenden Reparaturmaßnahmen. Die Schilderung des Zeugen war insofern in sich logisch, widerspruchsfrei und überzeugt das Gericht. Anhaltspunkte, die gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen sprechen, bestehen keine. Es erscheint durchaus realistisch, nachvollziehbar und praxisnah, dass der seit über 25 Jahren als Selbständiger agierende Sachverständige in der Lage ist, einem Gesprächspartner am Telefon den Zustand eines Fahrzeuges so genau zu beschreiben, dass der ebenfalls im Kfz-​Handel professional agierende Gesprächspartner ein gefestigtes Angebot abgeben kann. Hierbei spielt es nach Auffassung des Gerichts keine Rolle, dass den potentiellen Restwertaufkäufern vorab möglicherweise keine Lichtbilder des Fahrzeuges zur Verfügung gestellt wurden. Denn in dieser besonderen Konstellation zweier Profis im Geschäft des Kfz-​Handels, auf der einen Seite der Zeuge ... als Kfz-​Sachverständiger und auf der anderen Seite ein professioneller Auf- und Verkäufer, ist es überhaupt nicht notwendig, dass Lichtbilder übermittelt werden. Aufgrund einer ausführlichen mündlichen Fahrzeugbeschreibung inklusive Nennung vorhandener Schäden kann, gegebenenfalls unter weiterer Nachfrage, der potentielle Fahrzeugkäufer sich ein genaues Bild vom Fahrzeug machen und damit den aus seiner Sicht noch vorhandenen Fahrzeugwert kalkulieren. Dieses allein ist maßgeblich.

Der Anspruch auf die Zinsen und auf den Ersatz der außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten ergibt sich jeweils aus dem Gesichtspunkt des Verzuges, §§ 280 Abs. 1, Abs 2, 286, 288, 291 BGB.

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO, die über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 709 Satz 2 ZPO.