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BGH Urteil vom 30.06.2005 - 3 StR 122/05 - Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung im Revisionsverfahren

BGH v. 30.06.2005: Rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung im Revisionsverfahren


Der BGH (Urteil vom 30.06.2005 - 3 StR 122/05) hat entschieden:
Ist nach Erlass des angefochtenen Urteils das Verfahren in rechtsstaatswidriger Weise verzögert worden, so ist dies vom Revisionsgericht von Amts wegen zu berücksichtigen. Es kann die danach gebotene Herabsetzung der verwirkten Strafen entsprechend dem Antrag des Generalbundesanwalts analog § 354 Abs. 1a Satz 2 StPO selbst vornehmen.


Siehe auch Lange Verfahrensdauer - Verletzung des Beschleunigungsgebots und Rechtsmittel im Strafverfahren


Gründe:

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes und wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes unter Einbeziehung einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen aus einem Strafbefehl des Amtsgerichts Mönchengladbach vom 5. Februar 2002 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt und ihn im übrigen von dem Vorwurf, drei weitere Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern begangen zu haben, freigesprochen. Gegen dieses Urteil haben sowohl der Angeklagte als auch die Nebenklägerin Revision eingelegt.

I.

Die Revision des Angeklagten Der Angeklagte macht geltend, die als sexueller Missbrauch eines Kindes nach § 176 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 StGB i. d. F. des 4. StrRG abgeurteilte Tat sei nicht angeklagt gewesen; im übrigen erhebt er verfahrensrechtliche Beanstandungen und wendet sich mit der Sachrüge gegen die Beweiswürdigung des Landgerichts. Das Rechtsmittel hat lediglich zum Strafausspruch einen Teilerfolg.

1. Entgegen der Ansicht des Angeklagten fehlt es für den ersten der beiden abgeurteilten Missbrauchsfälle nicht an der Verfahrensvoraussetzung einer zugelassenen Anklage.

Nach der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklageschrift vom 12. Juli 2002 hatte sich die Mutter der Nebenklägerin Ende Mai 1996 von ihrem Ehemann getrennt und war der Angeklagte bald darauf in deren Wohnung in der B. straße in M. eingezogen. Kurz danach ist es dort zu dem ersten sexuellen Missbrauch zum Nachteil der Nebenklägerin gekommen, bei dem der Angeklagte den Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss in die Scheide der Nebenklägerin vollzogen hat. Nach den Urteilsfeststellungen fand die erste Missbrauchshandlung dagegen kurz nach dem Einzug des Angeklagten im August 1997 statt und brach der Angeklagte den Geschlechtsverkehr auf Bitten der Nebenklägerin ab.

Die um mehr als ein Jahr differierende Tatzeit sowie die Modifikationen im Tatablauf stellen die Identität zwischen angeklagter und abgeurteilter Tat hier nicht in Frage (§ 264 Abs. 1 StPO); denn die zeitliche Verknüpfung der Tat mit dem Einzug des Angeklagten sowie ihre Kennzeichnung als erste der Missbrauchsserie zum Nachteil der Nebenklägerin lassen keinen Zweifel aufkommen, dass das abgeurteilte Geschehen vom Verfolgungswillen der Staatsanwaltschaft umfasst war, zumal der Tatort und der Kern des Missbrauchsgeschehens (Geschlechtsverkehr) unverändert geblieben sind (vgl. BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 8, 19, 22). Hierbei darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass es sich bei den angeklagten Taten laut Anklageschrift um Einzelfälle eines sich serienmäßig über einen längeren Tatzeitraum erstreckenden Missbrauchsgeschehens handelte, das die Nebenklägerin im Ermittlungsverfahren wegen seiner weitgehenden Gleichförmigkeit nur in Grundzügen zu konkretisieren vermochte, weswegen die Staatsanwaltschaft in weitem Umfang von der Möglichkeit der Verfahrensbeschränkung nach § 154 Abs. 1 Nr. 1 StPO Gebrauch machte. Ebenso wie in derartigen Fällen an die Individualisierung der Einzeltaten in der Anklageschrift einerseits und den Urteilsgründen andererseits keine zu strengen Anforderungen zu stellen sind, da ansonsten wegen der begrenzten Erinnerungsfähigkeit des regelmäßig einzigen Tatzeugen nicht mehr vertretbare Strafbarkeitslücken entstünden (vgl. BGHSt 40, 44, 46), dürfen auch Modifikationen und Ergänzungen, die das Tatbild im Vergleich von Urteil zu Anklage erfährt, keiner zu strengen Betrachtung unterworfen werden.

2. Die Verfahrensrügen haben keinen Erfolg.

a) Das Landgericht hat nicht gegen seine Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) verstoßen, weil es die jüngere Schwester der Nebenklägerin -Tamara G. -nicht als Zeugin gehört hat; denn es musste sich zu deren Vernehmung nicht gedrängt sehen.

Zwar können die Urteilsgründe dahin verstanden werden, dass die -zu diesem Zeitpunkt sechsjährige -Schwester der Nebenklägerin jedenfalls bei der ersten abgeurteilten Tat in dem Kinderzimmer anwesend war, wo der Angeklagte im oberen der beiden Stockbetten den Geschlechtsverkehr mit der Nebenklägerin vollzog. Jedoch ist weder ersichtlich, dass sie zum Zeitpunkt des Tatgeschehens noch wach war oder durch dieses notwendig aufgeweckt werden musste, noch liegt es angesichts ihres damals noch kindlichen Alters nahe, dass sie im Falle der Wahrnehmung des Geschehens dessen Bedeutung erkannt und es daher als außergewöhnliches Ereignis in ihrem Gedächtnis bewahrt haben könnte. Angesichts dessen musste sich das Landgericht nicht veranlasst sehen, nahezu fünfeinhalb Jahre nach den fraglichen Vorgängen die Schwester der Nebenklägerin anzuhören, zumal auch die Verteidigung ein hierauf gerichtetes Begehren nicht erhoben hat.

b) Es kann dahinstehen, ob das Landgericht gegen seine Aufklärungspflicht aus § 244 Abs. 2 StPO verstoßen hat, weil es zum Nachweis bestimmter Mängel in der Aussagekonstanz der Nebenklägerin weder die zunächst mit der Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin beauftragte Sachverständige Dr. A. als (sachverständige) Zeugin vernommen noch deren vorbereitendes schriftliches Gutachten in der Hauptverhandlung verlesen hat. Denn auf diesem Verfahrensmangel würde das Urteil jedenfalls nicht beruhen, weil das Landgericht bei seiner Beweiswürdigung ausdrücklich die Abweichungen der Aussage der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung von ihren Angaben in früheren Vernehmungen berücksichtigt und bei seiner Überzeugungsbildung erwogen hat (UA S. 19).

3. Der Schuldspruch hält revisionsrechtlicher Prüfung auf die Sachrüge stand. Insbesondere lässt, wie der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift vom 6. April 2005 zutreffend dargelegt hat, die Beweiswürdigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erkennen.

Auch die Strafzumessung des Landgerichts ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Dennoch kann der Strafausspruch keinen Bestand haben, denn nach Erlass des angefochtenen Urteils ist das Verfahren in rechtsstaatswidriger Weise verzögert worden (vgl. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK). Zwischen dem 3. September 2003 und dem 6. September 2004 wurde es nicht weiterbetrieben, da die Akten verschwunden waren; obwohl nach dem Wiederauftauchen der Akten deren Bearbeitung mit äußerster Beschleunigung hätte vorangetrieben werden müssen, sind im Zeitraum vom 16. November 2004 bis zur Fertigung des Revisionsübersendungsberichts am 29. März 2005 keine verfahrensfördernden Schritte vorgenommen worden. Das Verfahren wurde daher nach Erlass des angefochtenen Urteils um insgesamt ein Jahr und viereinhalb Monate rechtsstaatswidrig verzögert. Dies hat der Senat von Amts wegen zu berücksichtigen (BGH NStZ 2001, 52). Er kann die danach gebotene Herabsetzung der verwirkten Strafen entsprechend dem Antrag des Generalbundesanwalts analog § 354 Abs. 1 a Satz 2 StPO selbst vornehmen (zur Würdigung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerungen vor Verkündung des tatrichterlichen Urteils im Rahmen des § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO vgl. Senat NJW 2005, 1813); denn Sinn dieser Regelung ist auch die Beschleunigung des Verfahrens, der besonderes Gewicht gerade dann zukommt, wenn es bereits zu rechtsstaatswidrigen Verzögerungen gekommen ist (s. dazu Peglau JR 2005, 143, 145). Gemäß dem Antrag des Generalbundesanwalts reduziert der Senat die beiden Einzelfreiheitsstrafen von zwei Jahren und sechs Monaten sowie von drei Jahren und sechs Monaten um jeweils vier Monate, so dass sich neue Einzelstrafen von zwei Jahren und zwei Monaten sowie von drei Jahren und zwei Monaten ergeben, die im Hinblick auf die Dauer der Verfahrensverzögerung angemessen erscheinen. Hieraus bildet er unter Einbeziehung der Geldstrafe von 90 Tagessätzen aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts Mönchengladbach vom 5. Februar 2002 eine neue Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten.

II.

Die Revision der Nebenklägerin Die Nebenklägerin beanstandet mit der Sachrüge, dass der Angeklagte in den abgeurteilten Fällen nicht auch der Vergewaltigung schuldig gesprochen wurde; darüber hinaus wendet sie sich dagegen, dass das Landgericht den Angeklagten von dem Vorwurf freigesprochen hat, er habe in der Wohnung in V. mit der Nebenklägerin den Analverkehr bis zum Samenerguss durchgeführt. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg.

1. Es lässt keinen Rechtsfehler erkennen, dass das Landgericht den Angeklagten neben dem sexuellen Missbrauch eines Kindes nicht jeweils auch tateinheitlich der Vergewaltigung schuldig gesprochen hat. Die Revision meint, der Angeklagte habe in beiden Fällen Gewalt im Sinne des § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB deswegen angewandt, weil er nach den Feststellungen die Beine der Nebenklägerin auseinandergedrückt und ihr den Mund zugehalten habe, bevor es zum Geschlechtsverkehr kam.

Die Rüge dringt nicht durch. Das Landgericht hat nicht verkannt, dass sowohl das Auseinanderdrücken der Beine des Tatopfers, als auch das Zuhalten des Mundes Gewalt im Sinne des Vergewaltigungstatbestandes darstellen kann. Es hat -wenn auch nicht im Rahmen der Beweiswürdigung, sondern bei der rechtlichen Würdigung (UA S. 29/30) -ausdrücklich dargelegt, dass es nicht festzustellen vermocht hat, der Angeklagte habe diese Handlungen zur Überwindung eines von der Nebenklägerin tatsächlich geleisteten oder von ihm auch nur erwarteten Widerstandes vorgenommen. Dies ist hier angesichts der sonstigen Tatumstände ausreichend; denn diese lassen weder Anhaltspunkte dafür erkennen, dass aus Sicht des Angeklagten eine gewaltsame Durchsetzung seiner Absichten erforderlich gewesen wäre, noch dass der Angeklagte einen entgegenstehenden Willen der Nebenklägerin missachtet und sich gewaltsam durchgesetzt hätte. Im Gegenteil hat er im Fall 1 auf entsprechende Aufforderung der Nebenklägerin den weiteren Vollzug des Geschlechtsverkehrs letztlich abgebrochen. Seine drohende Äußerung diente dagegen allein der Verhinderung einer späteren Aufdeckung der Tat.

Danach kann dahinstehen, ob den Feststellungen überhaupt entnommen werden kann, dass der Angeklagte der Nebenklägerin auch im Fall 2 bei Tatbegehung zeitweise den Mund zuhielt.

2. Der Freispruch des Angeklagten vom Anklagevorwurf des sexuellen Missbrauchs der Nebenklägerin in der Form von Analverkehr hält revisionsrechtlicher Prüfung stand. Zwar hat das Landgericht seine diesbezügliche Beweiswürdigung im Urteil nur äußerst knapp dargestellt. Der Senat vermag den Urteilsgründen aber noch mit ausreichender Sicherheit zu entnehmen, dass das Landgericht sich aufgrund der Angaben der Nebenklägerin nicht hinreichend von einem Geschehen zu überzeugen vermochte, das den Mindestanforderungen an die Konkretisierung einer abzuurteilenden Tat genügt. Dies ist aus Rechtsgründen hinzunehmen.

III. Der geringfügige Erfolg der Revision des Angeklagten, der ohnehin nicht seinem Rechtsmittel geschuldet ist, gibt keinen Anlass, bei der Kostenentscheidung zu seiner Revision von § 473 Abs. 4 StPO Gebrauch zu machen.

Eine Auslagenerstattung zwischen dem Angeklagten und der Nebenklägerin findet nicht statt, da beide Rechtsmittel erfolglos geblieben sind (vgl. BGHR StPO § 473 Abs. 1 Satz 3 Auslagenerstattung 1). Die Reduzierung der Strafe des Angeklagten ist insoweit ohne Bedeutung (s. § 400 Abs. 1 StPO).