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OLG Bamberg Beschluss vom 29.07.2015 - 2 Ss OWi 727/15 - Kein Absehen vom Fahrverbot wegen drohender Entziehung der Fahrerlaubnis

OLG Bamberg v. 29.07.2015: Kein Absehen vom Fahrverbot wegen drohender Entziehung der Fahrerlaubnis oder wegen Teilnahme an einem Fahreignungsseminar


Das OLG Bamberg (Beschluss vom 29.07.2015 - 2 Ss OWi 727/15) hat entschieden:
  1. Von einem bußgeldrechtlichen Fahrverbot kann nicht mit der Begründung abgesehen werden, dass der Betroffene wegen des (bevorstehenden) Erreichens der "Punktegrenze" mit dem Entzug der Fahrerlaubnis zu rechnen habe, weshalb von einem Fahrverbot kein über eine gegebenenfalls erhöhte Geldbuße hinausgehender verkehrserzieherischer Effekt zu erwarten sei.

  2. Aus der Natur des bußgeldrechtlichen Fahrverbots als Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme folgt, dass die Notwendigkeit seiner Anordnung regelmäßig nicht allein dadurch in Frage gestellt wird, dass der Betroffene an einem freiwilligen Fahreignungsseminar teilnimmt (u.a. Festhaltung OLG Bamberg, 17. März 2008, 2 Ss OWi 265/08, VRS 114 [2008], 379 = VerkMitt 2008, Nr. 54 = OLGSt StVG § 4 Nr. 1 = VRR 2008, 272; Anschluss OLG Saarbrücken, 12. Februar 2013, Ss [B] 14/13 [bei juris]).

Siehe auch Absehen vom Fahrverbot wegen besonderer Umstände bzw. wegen des Nachtatverhaltens und Stichwörter zum Thema Fahrverbot


Gründe:

I.

Gegen den Betroffenen erging am 15.09.2014 ein Bußgeldbescheid, der wegen fahrlässigen Überschreitens der nach § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVO innerhalb geschlossener Ortschaften zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 21 km/h eine Geldbuße von 160 Euro und ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats vorsah. Der Betroffene legte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 22.09.2014, eingegangen am selben Tag, gegen den am 18.09.2014 zugestellten Bußgeldbescheid Einspruch ein. Das Amtsgericht verurteilte den Betroffenen daraufhin am 05.03.2015 wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit (um mindestens 21 km/h) innerhalb geschlossener Ortschaft zu einer Geldbuße von 300 Euro und sah von dem im Bußgeldbescheid angeordneten Fahrverbot ab. Zur Begründung seiner Rechtsfolgenentscheidung hat das Amtsgericht u.a. ausgeführt:
„Gemäß Nr. 11.3.4 BKatV ist für den verfahrensgegenständlichen Verstoß eine Geldbuße von 80 Euro vorgesehen. Aufgrund der zahlreichen und größtenteils einschlägigen Vorahndungen des Betroffenen reicht dieser Betrag keinesfalls zur angemessenen Ahndung aus. Die Geldbuße ist daher erheblich zu erhöhen. Aufgrund der zahlreichen und größtenteils einschlägigen Vorahndungen stellt sich auch die Frage der Verhängung eines Fahrverbots wegen beharrlichen Verstoßes gegen die Pflichten eines Kraftfahrzeugführers (§ 25 Abs. 1 StVG). Beharrlichkeit im Sinne dieser Vorschrift liegt hier vor. Die Anordnung des Fahrverbots liegt im Ermessen des Gerichts, das nicht durch § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV eingeschränkt ist. Die Vorschrift ist ihrem Wortlaut nach nicht erfüllt. Allerdings ist unter Berücksichtigung der Vorahndungen und der Umstände der verfahrensgegenständlichen Übertretung von einem ebenso gewichtigen Verkehrsverstoß auszugehen wie im Regelbeispiel des § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV. Ein Fahrverbot ist daher ernsthaft in Betracht zu ziehen. Seine Verhängung liegt nicht fern.

Das Gericht ist hier aber trotzdem der Ansicht, dass bei einer erheblichen Erhöhung der Geldbuße auf 300 Euro von einem Fahrverbot Abstand genommen werden kann. Von einem Fahrverbot ist kein über eine hohe Geldbuße hinaus gehender verkehrserzieherischer Effekt zu erwarten. Denn aufgrund der zahlreichen Vorahndungen des Betroffenen droht diesem bei erneutem Verstoß ohnehin die Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erreichens der Punktegrenze. Folglich bedarf es zur Einwirkung auf ihn hier ausnahmsweise keines Fahrverbots.

Wegen Vorliegens eines Härtefalls könnte hier hingegen vom Fahrverbot nicht abgesehen werden. Das Fahrverbot wäre für den Betroffenen keine existenzgefährdende Härte, zumal dieser Gesichtspunkt angesichts der durch zahlreiche Vorahndungen belegten Beharrlichkeit ohnehin zurücktreten müsste.“
Mit ihrer Rechtsbeschwerde rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung materiellen Rechts. Sie beanstandet, dass das Amtsgericht kein Fahrverbot verhängt hat. Die Gegenerklärung der Verteidigung zur Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft lag dem Senat bei seiner Entscheidung vor.

II.

Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde erweist sich als erfolgreich.

1. Die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist zulässigerweise auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Die Beschränkung eines Rechtsmittels muss nicht ausdrücklich erklärt werden; sie kann sich aus Wortlaut und Sinn eines Schriftsatzes ergeben (Meyer-Goßner/Schmitt StPO 58. Aufl. § 344 Rn. 6). Bereits die mit Verfügung vom 20.03.2015 erfolgte Rechtsbeschwerdeeinlegung enthält nur Ausführungen zum Rechtsfolgenausspruch. In der mit Verfügung vom 27.03.2015 vorgetragenen Rechtsbeschwerdebegründung, die ebenfalls nur das Unterbleiben der Verhängung eines Fahrverbots beanstandet, wird beantragt, das angefochtene Urteil vom 05.03.2015 im Rechtsfolgenausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufzuheben. Es ist daher von einer entsprechenden Beschränkung der Rechtsbeschwerde auszugehen. Von einer weitergehenden Beschränkung der Rechtsbeschwerde allein auf die Frage der Anordnung eines Fahrverbots kann nicht ausgegangen werden, weil es sich insoweit nicht um einen innerhalb des Rechtsfolgenausspruchs abtrennbaren Entscheidungsteil handelt. Geldbuße und Fahrverbot stehen in einer so engen Wechselbeziehung zueinander, dass sie nicht losgelöst voneinander beurteilt werden können.

2. Die Rechtsfolgenentscheidung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

a) Zunächst ist das Amtsgericht allerdings zutreffend davon ausgegangen, dass der Betroffene angesichts der Vorahndungslage beharrlich im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG gegen seine Pflichten als Kraftfahrzeugführer verstoßen hat. Das Amtsgericht hat auch gesehen, dass eine beharrliche Pflichtverletzung nicht ohne weiteres, zumal dann, wenn - wie hier - kein Regelfall nach § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV vorliegt, die Verhängung eines Fahrverbots nach sich zieht (BayObLGSt 2003, 5). Es hat dann ausgeführt, es sei im vorliegenden Fall von einem „ebenso gewichtigen Verkehrsverstoß auszugehen, wie im Regelbeispiel des § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV“. Wenn aber - wovon das Amtsgericht in nicht zu beanstandender Weise ausgeht - die Beharrlichkeit der Pflichtverletzung von ähnlich starkem Gewicht ist wie im Regelfall des § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV, der Verkehrsverstoß also wertungsmäßig dem Regelfall eines beharrlichen Pflichtenverstoßes im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV gleichzusetzen ist, dann wird es geboten sein, durch die Anordnung eines Fahrverbots als Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme auf den Betroffenen einzuwirken. Von der Verhängung eines Fahrverbots kann dann nur unter den Voraussetzungen abgesehen werden, die auch bei Vorliegen des in der Bußgeldkatalog-Verordnung normierten Regelfalls ein Absehen rechtfertigen (BayObLG a.a.O.).

b) Unter Berücksichtigung der vorstehenden Rechtsgrundsätze hält die Begründung, mit der das Amtsgericht von der Verhängung eines Fahrverbots bei Erhöhung der Geldbuße Abstand genommen hat, rechtlicher Überprüfung nicht stand.

aa) Unabhängig davon, ob dem Betroffenen tatsächlich „bei erneutem Verstoß“, also offenbar erst bei einem weiteren, künftigen Verstoß, „wegen Erreichens der Punktegrenze“ durch die Verwaltungsbehörde die Fahrerlaubnis entzogen werden wird - das Amtsgericht spricht nur davon, dass diese Sanktion dem Betroffenen drohe - und ob die Feststellungen des Amtsgerichts überhaupt die Voraussetzungen eines solchen Entzugs erkennen lassen, erscheint bereits der Ansatzpunkt des Tatrichters, angesichts einer drohenden Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erreichens der Punktegrenze bedürfe es der Verhängung eines Fahrverbots ausnahmsweise nicht, weil hiervon kein über eine hohe Geldbuße hinausgehender verkehrserzieherischer Effekt zu erwarten sei, verfehlt.

(1) Dies zum einen schon deshalb, weil Eintragungen im Fahreignungsregister (FAER), die zu einer Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 4 Abs. 5 Satz Nr. 3 StVG führen können, nicht zu den Sanktionen gehören, die das Gesetz als Folge der Begehung einer Ordnungswidrigkeit vorsieht, weshalb diesbezüglich grundsätzlich kein tauglicher Aspekt der Rechtsfolgenbemessung vorliegt. Registereintragungen sind verwaltungsinterne Maßnahmen, die als Materialsammlung für etwaiges späteres Verwaltungshandeln dienen (KK/Senge OWiG 4. Auflage § 79 Rn. 17).

(2) Zum anderen bleiben sowohl der Umstand, ob es zur Entstehung und Eintragung weiterer Punkte kommen wird wie auch der zeitliche Ablauf bis zu einer ggf. erfolgenden Eintragung weiterer Punkte, die zu einer Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG führen könnten, ungewiss (vgl. auch die Tilgungsmöglichkeit des § 29 Abs. 3 Nr. 2 StVG); dies insbesondere dann, wenn erst aufgrund eines weiteren, künftigen Verkehrsverstoßes eine Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erreichens der Punktegrenze drohen sollte.

bb) Schließlich sind es primär den Betroffenen entlastende Gesichtspunkte, die ein Absehen von einer an sich gebotenen Verhängung eines Fahrverbots rechtfertigen können. Dem Umstand, dass dem Betroffenen der Entzug der Fahrerlaubnis durch die Verwaltungsbehörde drohen mag, kommt keinerlei den Betroffenen entlastende Bedeutung zu. Vielmehr bedarf es gerade dann, wenn - wie das Amtsgericht festgestellt hat - von einem beharrlichen Pflichtenverstoß auszugehen ist, der einem Regelfall des § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV gleichzusetzen ist, der Denkzettel- und Besinnungsfunktion des Fahrverbots, zumal dieses und seine Funktion hier sofort mit Rechtskraft greifen, da sich der Betroffene ein bereits mit am 10.09.2013 rechtskräftig gewordener Entscheidung verhängtes Fahrverbot nicht zur Warnung dienen ließ, weshalb die Voraussetzungen des § 25 Abs. 2a StVG nicht vorliegen. Diese Funktion kann nicht unter Erhöhung der Geldbuße mit dem Argument für entbehrlich erklärt werden, ein verkehrserzieherischer Effekt sei nicht zu erwarten, weil dem Betroffenen ohnehin die Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Erreichens der Punktegrenze „bei erneutem Verstoß“ drohe. Das Absehen von der Verhängung eines Fahrverbots mit dieser Begründung käme der Ausstellung eines,Fahrverbots-Freibriefs‘ für Verkehrsverstöße gleich, die einen Betroffenen in den Bereich einer Fahrerlaubnisentziehung gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG rücken.

III.

Aufgrund des aufgezeigten sachlich-rechtlichen Mangels ist das angefochtene Urteil auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft im Rechtsfolgenausspruch mit den diesem zugrundeliegenden Feststellungen sowie in der Kostenentscheidung aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 353 StPO). Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurückverwiesen (§ 79 Abs. 6 OWiG).

IV.

Für die neue Entscheidung des Amtsgerichts weist der Senat noch auf Folgendes hin:

1. Soweit vom Betroffenen in der Gegenerklärung der Verteidigung zur Rechtsbeschwerdebegründung der Staatsanwaltschaft ein sog.,Augenblicksversagen‘ eingewandt wird, dürfte ein hierdurch veranlasstes Absehen von der Verhängung eines Fahrverbots eher fern liegen. Zwar kann auch bei wiederholten Pflichtenverstößen das Kriterium der Beharrlichkeit im Sinne eines Handelns des Täters, das auf einem Mangel an rechtstreuer Gesinnung beruht, unter Umständen dann zu verneinen sein, wenn hinsichtlich des verfahrensgegenständlich zu beurteilenden Verhaltens Augenblicksversagen vorliegt, weil insofern dem Kraftfahrer nur leichte Fahrlässigkeit zur Last fällt. Hiervon wird allerdings dann nicht die Rede sein können, wenn ein Kraftfahrer, dem bekannt ist, dass er sein Fahrzeug innerhalb einer geschlossenen Ortschaft bewegt, sich ohne weiteres an der von einem Fahrzeug mit einheimischem Kennzeichen eingehaltenen Geschwindigkeit orientiert, ohne sich selbst zu vergewissern, dass durch Vorschriftzeichen eine höhere Geschwindigkeit erlaubt ist, als die innerorts zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h.

2. Schließlich kann auch nicht ohne weiteres angenommen werden, die Teilnahme des Betroffenen an einem freiwilligen Fahreignungsseminar mache die Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme eines Fahrverbots überflüssig (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 17.03.2008 - 2 Ss OWi 265/08 [zu sog.,Aufbauseminarc] = VRS 114 [2008], 379 = VerkMitt 2008, Nr. 54 = OLGSt StVG § 4 Nr. 1 = VRR 2008, 272 [Gieg]; OLG Saarbrücken, Beschluss vom 12.02.2013 - Ss [B] 14/13 [bei juris], jeweils m.w.N.). Zielrichtung und Intensität des Fahrverbots sind mit denen eines Fahreignungsseminars nicht vergleichbar; beide verfolgen zumindest teilweise unterschiedliche Zwecke. Durch ein Fahrverbot soll dem Betroffenen zum einen seine Verfehlung auch in Form eines Denkzettels deutlich vor Augen geführt werden. Zum anderen soll er nochmals nachdrücklich zur Beachtung der Verkehrsvorschriften angehalten werden. Die Verhängung eines Fahrverbots soll eindringlich auf den Täter dort einwirken, wo er gefehlt hat, nämlich bei der Ausübung der Berechtigung zur Führung eines Kraftfahrzeugs. In diesem Bereich ist ein Einschnitt in die persönliche Handlungsfreiheit bezweckt. Demgegenüber soll mit einem Fahreignungsseminar nicht nur erreicht werden, dass die Teilnehmer sicherheitsrelevante Mängel in ihrem Verkehrsverhalten und insbesondere in ihrem Fahrverhalten erkennen und abbauen (§ 4a Abs. 1 StVG), sondern - aus Sicht eines betroffenen Kraftfahrers - insbesondere auch eine Rückstufung der Punktezahl (§ 4 Abs. 7 StVG), wie auch die Ausführungen im Schriftsatz der Verteidigung vom 15.04.2015 belegen, der Betroffene habe an einem „Seminar zum Punkteabbau“ teilgenommen. Der Besuch eines solchen Seminars wird zwar als Zeichen von Einsicht und Reue gewertet werden können; er kann das Absehen von der Verhängung eines Fahrverbots jedoch allenfalls dann rechtfertigen, wenn zusätzlich eine Vielzahl anderer Gesichtspunkte zugunsten des Täters spricht (vgl. BayObLGSt 1996, 55; DAR 1999, 221).

V.

Der Senat entscheidet durch Beschluss gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG.

Gemäß § 80 a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.