Das Verkehrslexikon
Kammergericht Berlin Beschluss vom 09.10.2015 - 3 Ws (B) 403/15 - 162 Ss 77/15 und 3 Ws (B) 404/15 - 162 Ss 77/15 - Doppelbestrafungsverbot
KG Berlin v. 09.10.2015: Vertikale Teilrücknahme des Einspruchs und Doppelbestrafungsverbot
Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 09.10.2015 - 3 Ws (B) 403/15 - 162 Ss 77/15 und 3 Ws (B) 404/15 - 162 Ss 77/15) hat entschieden:
- Das Doppelbestrafungsverbot setzt ein vollständig abgeschlossenes Verfahren voraus, in dem über den Vorwurf abschließend sachlich entschieden wurde. Es greift hingegen nicht ein, wenn beide Vorwürfe Gegenstand desselben, durch einen einheitlichen Bußgeldbescheid abgeschlossenen Vorverfahrens waren und die gerichtliche Entscheidung in (teilweiser) Fortsetzung dieses Verfahrens ergeht. Nur deshalb ist es auch zulässig, Rechtsbehelfe ohne Rücksicht auf den prozessualen Tatbegriff zu beschränken.
- Die Urteilsgründe müssen dem Rechtsbeschwerdegericht die Erkenntnis ermöglichen, ob das Amtsgericht über alle vom Einspruch erfassten Vorwürfe entschieden und zu Recht die Teilrücknahme des Einspruchs nach § 67 Abs. 2 OWiG als wirksam angesehen hat. Die „vertikale“ Beschränkung eines Rechtsbehelfs auf einen von mehreren Tatvorwürfen ist nur zulässig, wenn diese materiellrechtlich in Tatmehrheit zueinander stehen. Dabei ist das Gericht nicht an die Beurteilung im Bußgeldbescheid gebunden, sondern hat die Konkurrenzverhältnisse eigenständig zu bewerten.
Siehe auch Doppelverfolgungsverbot und Die Beschränkung des Einspruchs auf die Rechtsfolgen im Bußgeldverfahren
Gründe:
I.
Der Polizeipräsident in Berlin hat mit dem zugrunde liegenden Bußgeldbescheid gegen den Betroffenen wegen verbotswidrigen Rechtsüberholens eine Geldbuße und wegen einer als tatmehrheitlich bewerteten Geschwindigkeitsüberschreitung eine weitere Geldbuße sowie ein Fahrverbot festgesetzt. Seinen dagegen gerichteten Einspruch hat der Betroffene nachträglich auf den Vorwurf der Geschwindigkeitsüberschreitung beschränkt.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 29 km/h zu einer Geldbuße von 120 € verurteilt. Ein Fahrverbot hat es nicht verhängt. Mit ihrer Rechtsbeschwerde rügt die Amtsanwaltschaft die Verletzung sachlichen Rechts. Der Betroffene beantragt die Zulassung der Rechtsbeschwerde und beanstandet die Verletzung formellen und sachlichen Rechts.
II.
Die gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG zulässige Rechtsbeschwerde der Amtsanwaltschaft hat Erfolg. Der Senat hebt das Urteil mit den Feststellungen auf und verweist die Sache an das Amtsgericht zurück (§ 79 Abs. 6 OWiG).
1. Das Verfahren ist nicht gemäß §§ 354 Abs. 1, 206 a Abs. 1 StPO, §§ 79 Abs. 3 Satz 1, 71 Abs. 1 OWiG wegen eines Verfahrenshindernisses einzustellen. Die Rücknahme des Einspruchs gegen die Geldbuße wegen Rechtsüberholens führt nicht dazu, dass der Betroffene gemäß § 84 Abs. 1 OWiG, Art. 103 Abs. 3 GG wegen des Vorwurfs der Geschwindigkeitsübertretung nicht mehr belangt werden könnte. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich bei den beiden Vorwürfen aus dem Bußgeldbescheid um eine einheitliche prozessuale Tat handelt. Das Doppelbestrafungsverbot setzt ein vollständig abgeschlossenes Verfahren voraus, in dem über den Vorwurf abschließend sachlich entschieden wurde. Es greift hingegen nicht ein, wenn - wie hier - beide Vorwürfe Gegenstand desselben, durch einen einheitlichen Bußgeldbescheid abgeschlossenen Vorverfahrens waren und die gerichtliche Entscheidung in (teilweiser) Fortsetzung dieses Verfahrens ergeht (OLG Düsseldorf, Urteil vom 26. Juni 2009 - VI-2a Kart 2-6/08 OWi -, juris Rn. 376). Nur deshalb ist es auch zulässig, Rechtsbehelfe ohne Rücksicht auf den prozessualen Tatbegriff zu beschränken (OLG Düsseldorf, a. a. O., Rn. 377).
2. Die Sachrüge ist begründet und führt zur Aufhebung des Urteils.
a) Die Urteilsgründe lassen nicht erkennen, ob das Amtsgericht über alle vom Einspruch erfassten Vorwürfe entschieden hat. Sie ermöglichen dem Senat keine Prüfung, ob es zu Recht die Teilrücknahme des Einspruchs nach § 67 Abs. 2 OWiG als wirksam angesehen hat. Die „vertikale“ Beschränkung eines Rechtsbehelfs auf einen von mehreren Tatvorwürfen ist nur zulässig, wenn diese materiellrechtlich in Tatmehrheit zueinander stehen (BGH NStZ 2003, 264, 265; OLG Düsseldorf, a. a. O., Rn. 379; Meyer-Goßner, StPO, 58. Aufl. 2015, § 318 Rn. 10 f.). Dabei ist das Gericht nicht an die Beurteilung im Bußgeldbescheid gebunden, sondern hat die Konkurrenzverhältnisse eigenständig zu bewerten (OLG Düsseldorf, a. a. O., Rn. 381; Seitz in: Göhler, OWiG, 16. Aufl. 2012, § 67 Rn. 34 f.).
Ob hier Tateinheit oder Tatmehrheit anzunehmen ist, kann der Senat nicht prüfen, da das Urteil zum Vorwurf des Rechtsüberholens keine Tatsachen, insbesondere weder Tatzeit noch Tatort mitteilt. Die herrschende Ansicht in Rechtsprechung und Schrifttum nimmt zwar Tatmehrheit im materiellen Sinne in der Regel auch dann an, wenn mehrere Verkehrsverstöße im Laufe einer Fahrt begangen werden. Gleichwohl kann im Einzelfall, etwa bei einem nur sehr geringen zeitlichen Abstand und einer einheitlichen Willensrichtung des Betroffenen (vgl. OLG Celle, NZV 2012, 196, 197 m. w. N.), eine Tat im materiellrechtlichen Sinne vorliegen und nur eine einheitliche Geldbuße zu verhängen sein (§ 19 Abs. 1 OWiG).
b) Auch im Übrigen sind die Urteilsfeststellungen lückenhaft und tragen den Schuldspruch nicht ( §§ 261, 267 Abs. 1 StPO, § 71 Abs. 1 OWiG). Ein Urteil im Bußgeldverfahren muss weniger hohe Anforderungen als ein Strafurteil erfüllen, dem Rechtsbeschwerdegericht aber dennoch eine Überprüfung der Rechtsanwendung ermöglichen. Erforderlich ist jedenfalls die Angabe derjenigen für erwiesen erachteten Tatsachen, in denen die gesetzlichen Tatbestandsmerkmale gesehen werden (Seitz in Göhler, a. a. O., § 71 Rn. 42 a m. w. N.)
Das Urteil enthält bereits nicht die gebotenen Mindestfeststellungen zu Tatzeit, Tatort und der dort zulässigen Höchstgeschwindigkeit (vgl. Seitz in Göhler, a. a. O., § 71 Rn. 42 a m. w. N.). Allein die Wiedergabe des Vorwurfs aus dem Bußgeldbescheid genügt dafür nicht. Wenn die Voraussetzungen für eine abgekürzte Fassung (§ 267 Abs. 4 StPO, § 71 Abs. 1 OWiG) nicht vorliegen, ist die Bezugnahme auf den Bußgeldbescheid unzulässig (Senat, Beschluss vom 31. Oktober 2014 - 3 Ws (B) 487/14 -, juris Rn. 3). Inwieweit sich die Angaben aus dem Bußgeldbescheid in der Hauptverhandlung bestätigt haben, teilt das Urteil nicht ausdrücklich mit. Auch dem Gesamtzusammenhang des Urteils, das insoweit keine Beweiswürdigung enthält und insgesamt lückenhaft ist, lässt sich dies nicht mit der erforderlichen Zuverlässigkeit entnehmen.
3. Da das Urteil bereits deshalb insgesamt keinen Bestand haben kann, kommt es auf die weiteren Mängel des Urteils nicht mehr an. Der Senat weist aber auf Folgendes hin:
a) Wenn der Betroffene sich zu dem Vorwurf nicht äußert bzw. die Tat nicht in vollem Umfang einräumt, muss das Urteil die tragenden Beweismittel angeben und würdigen (Seitz in Göhler, a. a. O., § 71 Rn. 43 a m. w. N.). Aus Urteil ergibt sich bereits nicht, worauf das Amtsgericht seine Überzeugung gründet, der Betroffene habe das Fahrzeug zur Tatzeit geführt.
b) Die Feststellungen zur vorwerfbaren Geschwindigkeit müssen jedenfalls Angaben zur verwendeten Messmethode, zum Abzug der Messtoleranz und zu der danach ermittelten Geschwindigkeit enthalten. Weitere Einzelheiten sind in der Regel entbehrlich, wenn es sich um ein standardisiertes Messverfahren handelt. Das setzt aber voraus, dass das Gerät in geeichtem Zustand, seiner Bauartzulassung entsprechend und gemäß der vom Hersteller mitgegebenen Bedienungsanleitung verwendet wurde und sich auch sonst keine Anhaltspunkte für Fehlerquellen ergeben haben (Senat, Beschluss vom 2. April 2015 - 3 Ws (B) 39/15 -, juris Rn. 6 m. w. N.).
Die Zuverlässigkeit des Messergebnisses wird hier in Zweifel gezogen durch die Bekundung des Sachverständigen, die Zeugen hätten „die Auswertevorschriften nicht ganz konsequent befolgt“. Ohne nähere Informationen zur Art dieser Unregelmäßigkeit, zu deren Auswirkungen und zur Berechnung des vom Amtsgericht deshalb für erforderlich gehaltenen zusätzlichen Toleranzabzugs ist dem Rechtsbeschwerdegericht eine Überprüfung der Rechtsanwendung nicht möglich.
c) Unzureichend begründet ist auch die Annahme des Amtsgerichts, der Betroffene habe fahrlässig gehandelt. Bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung handelt vorsätzlich, wer die zulässige Höchstgeschwindigkeit kannte und bewusst missachtet hat. Dabei kann nach der Rechtsprechung des Senats der Grad der Überschreitung ein starkes Indiz für vorsätzliches Handeln sein: Je höher sie ist, desto eher wird sie von einem Kraftfahrer, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit kennt, auf Grund der stärkeren Fahrgeräusche und der schneller vorbeiziehenden Umgebung bemerkt (Senat, Beschlüsse vom 25. März 2015 - 3 Ws (B) 19/15 -, juris Rn. 5 m. w. N., und vom 21. Juni 2004 - 3 Ws (B) 186/04 -, juris Rn. 3).
Danach bietet die Überschreitung von mehr als 40 % regelmäßig Anlass zur Prüfung, ob von einer vorsätzlichen Begehung auszugehen ist (Senat, a. a. O.). Die hier vom Amtsgericht feststellte Überschreitung um 29 km/h liegt - wenn man die im Bußgeldbescheid angegebene zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h zugrunde legt - mit gut 36 % nicht weit darunter. Für eine vorsätzliche Begehungsweise kann es außerdem sprechen, wenn die noch zu treffenden Feststellungen zum Vorwurf des Rechtsüberholens ergeben sollten, dass der Betroffene links von ihm fahrende Fahrzeuge im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Geschwindigkeitsverstoß überholt hat (vgl. Senat, Beschluss vom 25. März 2015, a. a. O.).
d) Im Fall der erneuten Verurteilung wird der Tatrichter sich auch mit den Voraussetzungen eines - je nach Höhe des Toleranzabzugs gegebenenfalls nach § 4 Abs. 1 oder Abs. 2 Satz 2 BKatV indizierten (vgl. Senat, Beschluss vom 25. März 2015, a. a. O., Rn. 9) - Fahrverbots nach § 25 Abs. 1 StVG auseinandersetzen müssen.
III.
Der Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Die Verfahrensrüge ist unzulässig, weil sie nicht gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO ausgeführt ist. Bei den sachlichrechtlichen Mängeln des Urteils handelt es sich um Fehler im Einzelfall, die eine Zulassung der Rechtsbeschwerde weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung rechtfertigen (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG). Die hier aufgeworfenen Rechtsfragen sind obergerichtlich geklärt. Es gibt auch keinen Anhaltspunkt für die Befürchtung, dass das Amtsgericht an einer unrichtigen Rechtsauffassung festhalten oder sein Beschluss Vorbildfunktion für andere Gerichte haben und damit zu einer uneinheitlichen Rechtsprechung führen könnte (vgl. Senat, Beschluss vom 10. März 2014 - 3 Ws (B) 78/14 -, juris).
Die Entscheidung über die Kosten der Rechtsbeschwerde des Betroffenen beruht auf §§ 80 Abs. 4 Satz 4, Abs. 3 Satz 2, 46 Abs. 1 OWiG, § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.