Das Verkehrslexikon
VGH München Urteil vom 21.03.2012 - 11 B 10.1657 - Anspruch auf verkehrsbeschränkende Lärmschutz-Maßnahmen
VGH München v. 21.03.2012: Anspruch eines Straßenanliegers auf verkehrsbeschränkende Lärmschutz-Maßnahmen
Der VGH München (Urteil vom 21.03.2012 - 11 B 10.1657) hat entschieden:
Nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen beschränken oder verbieten oder den Verkehr umleiten. Dabei bestimmt kein bestimmter Schallpegel oder Abgaswert die Grenze der Zumutbarkeit. Abzustellen ist vielmehr auf die gebietsbezogene Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit der betroffenen Anlieger sowie auf eine eventuell gegebene Vorbelastung. Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind ferner die Belange des Straßenverkehrs und der Verkehrsteilnehmer zu würdigen.
Siehe auch Straßenverkehrsrechtliche Anordnungen und Lärmschutz
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt den Erlass einer verkehrsrechtlichen Anordnung.
Sie grenzt mit ihrem seit 1989 bezogenen Wohngrundstück (FlNr. 283/35 der Gemarkung Töging) im Gemeindeteil Töging, Stadt Dietfurt a.d. Altmühl, im Osten an die einseitig bebaute Ottmaringer Straße an, die von Töging über Ottmaring nach Beilngries führt. Im Bereich des klägerischen Grundstücks handelt es sich bei der Ottmaringer Straße noch um eine innerorts gelegene Straße, nach ca. 100 m in nördlicher Richtung endet die geschlossene Ortschaft.
Während die Straße früher nur eine relativ geringe Verkehrsbelastung aufwies, nahm der Verkehr infolge des Rhein-Main-Donau-Kanalausbaus zu. Die Gemeindeverbindungsstraße wurde zunehmend als Abkürzung in Richtung Beilngries benutzt. Ab dem Jahr 2002 beklagten sich Anwohner der Ottmaringer Straße über hohe Lärmbelastungen und häufige Geschwindigkeitsübertretungen. Im Jahr 2003 durchgeführte Verkehrsmessungen ergaben eine Verkehrsbelastung von ca. 1.400 Kfz/Tag und eine Vielzahl von Geschwindigkeitsüberschreitungen. Die Beklagte beschloss daraufhin noch im Jahr 2003 die probeweise Einführung von verkehrsberuhigenden Maßnahmen, nämlich der Errichtung von fünf Seiteninseln und der Anordnung einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h für zunächst ein Jahr im streitgegenständlichen Bereich.
In der Folgezeit beschwerten sich Verkehrsteilnehmer über die Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h. In seiner Sitzung vom 20. September 2004 beschloss der Stadtrat der Beklagten, die Verkehrsregelung in der Ottmaringer Straße zu ändern. Die bestehende Beschränkung auf 30 km/h im fraglichen Bereich wurde mit Ausnahme für den unmittelbaren Umgriff der bestehenden Bushaltestelle aufgehoben. Die im Innerortsbereich vorhandenen Straßenpfosten wurden ersatzlos entfernt. Die Bepflanzung entlang der Ottmaringer Straße im Grünstreifen zum Gehweg hin wurde aufgelichtet, gleichzeitig wurden auf der gegenüberliegenden Straßenseite einzelne Pflanzgruppen geschaffen. Ausweislich der Niederschrift über die Stadtratssitzung sollte damit der Innerortscharakter der Straße auch optisch unterstützt werden. Mit dieser Regelung werde es ermöglicht, dass von Seiten der Polizei im Innerortsbereich Geschwindigkeitskontrollen durchgeführt werden könnten.
Wegen weiterer Beschwerden und Anträgen zu einer Verkehrsberuhigung der Ottmaringer Straße beschloss der Stadtrat der Beklagten am 26. April 2005, dass die Verwaltung zusammen mit allen Fachstellen Lösungsmöglichkeiten der Verkehrsproblematik erarbeiten solle. Am 28. November 2005 beriet der Stadtrat zusammen mit Fachstellenvertretern die Verkehrsproblematik; Ergebnisse wurden nicht erzielt. Am 23. Oktober 2006 wurde erneut im Stadtrat über eine Verringerung der Verkehrsbelastung u.a. der Ottmaringer Straße beraten. Nach intensiver Diskussion trug der erste Bürgermeister vor, dass die Ottmaringer Straße im streitgegenständlichen Bereich verkehrssicher sei. Weder liege eine besondere Verkehrsgefährdung vor noch handle es sich um einen Unfallschwerpunkt. Eine über das übliche und zulässige Maß hinausgehende Lärmbelästigung sei nicht gegeben. Der Stadtrat beschloss, dass eine Verlagerung der Ottmaringer Straße nicht erforderlich sei, da alle in Frage kommenden Varianten nur zu einer Verlagerung der Verkehrsbelastung in andere bewohnte Bereiche führen würden. Auch die erhobenen Verkehrszahlen, die Lärmbelastung und Kosten-Nutzen-Verhältnisse sprächen dagegen.
Auf weitere Beschwerden der Klägerin hin wurde eine Stellungnahme der zuständigen Polizeiinspektion eingeholt, die u.a. ausführt, die Ottmaringer Straße mache objektiv den Eindruck einer Außerortsstraße. Gerade das Beschleunigen zum Ortsende hin verursache eine höhere Lärmbelästigung und wirke durch den Kurvenbereich besonders deutlich. Eine Fahrzeugbelastung von ca. 2.000 bis 2.500 Kfz/Tag werde für realistisch gehalten.
Die Anzahl der im streitgegenständlichen Bereich vorhandenen Seiteninseln wurde mittlerweile von fünf auf drei reduziert.
Mit Schreiben ihres Bevollmächtigten vom 14. Mai 2007 ließ die Klägerin bei der Beklagten den Erlass "einer geeigneten, erforderlichen und angemessenen straßenverkehrsrechtlichen Anordnung gemäß § 45 StVO" für die Ottmaringer Straße beantragen. Zu denken sei insbesondere an eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h, die Anbringung baulicher Elemente wie Verkehrsinseln und Schwellen, das Verbot von Schwerlastverkehr und gegebenenfalls eine Verlagerung des Verkehrs. Die Schlafräume ihres Anwesens seien zur Ottmaringer Straße hin ausgerichtet. Die Verkehrsbelastung habe sich von 1.200 Kfz/Tag auf mehr als das Doppelte erhöht. Die Immissionsgrenzwerte nach der 16. BImSchV würden überschritten.
Mit Schreiben vom 21. Mai 2007, das keine Rechtsbehelfsbelehrung enthält, teilte die Beklagte dem Bevollmächtigten der Klägerin mit, es bestehe kein fachlicher Grund, dem Antrag vom 14. Mai 2007 auf straßenverkehrsrechtliche Anordnungen vollständig oder teilweise stattzugeben.
Am 24. Juli 2007 legten die Bevollmächtigten der Klägerin Widerspruch ein, der bis heute nicht verbeschieden wurde. Am 19. Dezember 2007 erhoben sie Untätigkeitsklage.
Mit Urteil vom 11. August 2008 wies das Verwaltungsgericht Regensburg die Klage ab. Es bestehe kein Anspruch der Klägerin auf Vornahme der beantragten verkehrsrechtlichen Maßnahmen. Die geltend gemachte Lärmbelastung ihres Anwesens überschreite jedenfalls nicht die Zumutbarkeitsgrenze. Diese sei nicht durch Gesetz festgelegt. Nachdem jedoch die Beurteilungspegel deutlich unter den in den Verkehrsschutzrichtlinien 1997 für den Lärmschutz durch bauliche Maßnahmen an bestehenden Straßen (Lärmsanierung) festgelegten Immissionsgrenzwerten von 70 dB(A) tagsüber und 60 dB(A) nachts für allgemeine Wohngebiete lägen, bestehe keine Pflicht der Beklagten zum Einschreiten. Weder ein Ermessensausfall noch ein Ermessensdefizit sei zu erkennen.
Mit der vom Senat zugelassenen Berufung verfolgt die Klägerin ihr Rechtsschutzziel weiter. Zur Begründung trägt sie vor, entgegen der Ansicht des Erstgerichts sei die Zumutbarkeitsschwelle hier überschritten. Die maßgeblichen Beurteilungspegel ergäben sich zwar nicht direkt aus dem Gesetz, allerdings könne in den Grenzwerten der 16. BImSchV die Wertung des Normgebers erkannt werden, von welcher Schwelle an eine nicht mehr hinzunehmende Beeinträchtigung der jeweiligen Gebietsfunktion anzunehmen sei. Diese Grenzwerte seien deutlich überschritten. Im Übrigen habe die Beklagte ihr Ermessen bei der Verbescheidung des Antrags der Klägerin nicht ausgeübt. Insbesondere sei eine Bezugnahme auf in der Vergangenheit erfolgte Geschwindigkeitsbeschränkungen widersinnig, nachdem diese mittlerweile wieder aufgehoben worden seien. Eine qualifizierte Auseinandersetzung mit dem Vorbringen der Klägerin sei nicht erfolgt.
Die Bevollmächtigten der Klägerin beantragen,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag der Klägerin auf Erlass einer geeigneten, erforderlichen und angemessenen straßenverkehrsrechtlichen Anordnung gemäß § 45 StVO zur Begrenzung von Lärm- und Abgasimmissionen hinsichtlich der Ottmaringer Straße in Töging unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie habe sich hinreichend mit den Beschwerden der Klägerin befasst und auseinandergesetzt. Die zu treffende Lösung könne sich nicht allein an der Interessenlage der Klägerin ausrichten. Vielmehr seien auch insbesondere Aspekte der Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs zu berücksichtigen. Außer der Klägerin habe sich bislang nie ein Anlieger der Ottmaringer Straße beschwert. Die Beklagte habe auch die Verkehrszahlen zutreffend ermittelt. Aus Zählungen vom 11./12. Juli 2005 und 8. bis 15. Oktober 2005 ergebe sich ein Mittelwert von 2.488 Kfz/Tag. Hinsichtlich der Lärmbelastung sei auf die Stellungnahme der zuständigen Polizeiinspektion vom 25. Juli 2006 zu verweisen. Hieraus ergebe sich der ausdrückliche Hinweis, dass die Klägerin bei ihren Beschwerden überziehe. Ein Ermessensdefizit ihrerseits liege nicht vor. Insoweit sei zum einen auf die Art. 45 und 46 BayVwVfG, vor allem aber darauf hinzuweisen, dass der Einzelne nur dann einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung habe, wenn die Lärm- oder Abgasbelastung die Zumutbarkeitsschwelle überschreite. Diese sei hier nicht überschritten. Im Übrigen müsse das Gericht ein Sachverständigengutachten zu dieser Frage einholen, wenn man davon ausgehen wolle, dass das klägerische Vorbringen insoweit hinreichend substantiiert sei.
Das Gericht hat am 4. Juli 2011 einen Erörterungstermin durchgeführt. Insoweit wird auf die Niederschrift des Erörterungstermins Bezug genommen. Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Am 17. August 2011 erließ der Senat folgenden Beweisbeschluss:
„Es ist Beweis zu erheben zu der Frage, ob auf dem Grundstück der Klägerin (FlNr. 283/35 Gemarkung Töging, postalische Anschrift ... Straße, 92345 Dietfurt a.d. Altmühl, Ortsteil Töging) durch den von der Ottmaringer Straße herrührenden Verkehrslärm die Grenzwerte des § 2 Abs. 1 Nr. 2 der 16. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verkehrslärmschutzverordnung) erreicht oder überschritten werden durch die Einholung eines schalltechnischen Sachverständigengutachtens der Steger und Partner GmbH, Frauendorfer Straße 87, 81247 München. Dabei ist von einer durchschnittlichen Verkehrsbelastung der Ottmaringer Straße von 2.488 KfZ/h auszugehen.“
Das Gutachten wurde am 20. Dezember 2011 erstellt und den Beteiligten unter Anheimgabe einer Stellungnahme am 27. Dezember 2011 übermittelt. Beide Parteien nahmen Stellung und wiederholten ihre Verzichtserklärung auf mündliche Verhandlung.
Im Übrigen wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Auf die begründete Berufung hin ist das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag der Klägerin vom 14. Mai 2007 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
1. Nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO können die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken zum Schutz der Wohnbevölkerung vor Lärm und Abgasen beschränken oder verbieten oder den Verkehr umleiten. Die Vorschrift gibt dem Einzelnen einen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein straßenverkehrsrechtliches Einschreiten, wenn Lärm oder Abgase Beeinträchtigungen mit sich bringen, die jenseits dessen liegen, was unter Berücksichtigung der Belange des Verkehrs im konkreten Fall als ortsüblich hingenommen und damit zugemutet werden muss (BVerwG vom 4.6.1986 BVerwGE 74, 234). Die Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift sind erfüllt (a); eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Beklagten über den Antrag der Klägerin liegt bislang nicht vor (b).
a) Dabei bestimmt kein bestimmter Schallpegel oder Abgaswert die Grenze der Zumutbarkeit. Abzustellen ist vielmehr auf die gebietsbezogene Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit der betroffenen Anlieger sowie auf eine eventuell gegebene Vorbelastung. Im Rahmen der Ermessensentscheidung sind ferner die Belange des Straßenverkehrs und der Verkehrsteilnehmer zu würdigen. Schließlich sind die Interessen anderer Anlieger, die durch lärm- oder abgasreduzierende Maßnahmen ihrerseits übermäßig durch Lärm oder Abgase beeinträchtigt würden, in Rechnung zu stellen. Dabei darf die Behörde in Wahrung allgemeiner Verkehrsrücksichten und sonstiger entgegenstehender Belange von verkehrsbeschränkenden Maßnahmen umso eher absehen, je geringer der Grad der Lärm- oder Abgasbeeinträchtigung ist, der entgegengewirkt werden soll. Umgekehrt müssen bei erheblichen Lärm- oder Abgasbeeinträchtigungen die verkehrsberuhigenden oder verkehrslenkenden Maßnahmen entgegenstehenden Verkehrsbedürfnisse und Anliegerinteressen schon von einigem Gewicht sein, wenn mit Rücksicht auf diese Belange ein Handeln der Behörde unterbleibt. Die zuständige Behörde darf jedoch selbst bei erheblichen Lärm- oder Abgasbeeinträchtigungen von verkehrsbeschränkenden Maßnahmen absehen, wenn ihr dies mit Rücksicht auf die damit verbundenen Nachteile gerechtfertigt erscheint (vgl. BVerwG vom 4.6.1986 BVerwGE 74,234; vom 22.12.1993 NZV 1994, 244; vom 18.10.1999 NZV 2000, 386).
Jedenfalls die von der Klägerin geltend gemachte Lärmbelastung ihres Anwesens überschreitet die nach den vorstehenden Kriterien bestimmte Grenze der Zumutbarkeit. Dabei kann unentschieden bleiben, ob die gebietsbezogene Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit dieses Anwesens – wie das Verwaltungsgericht angenommen hat - mit der eines allgemeinen Wohngebiets oder – was nach Aktenlage eher naheliegt - mit der eines reinen Wohngebiets anzusetzen ist. Im einen wie im anderen Fall ist die Lärmbelastung des genannten Anwesens im Sinne des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO unzumutbar.
aa) Die Grenze der zumutbaren Lärmbelastung, bei deren Überschreitung ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über Maßnahmen nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO besteht, ist nicht durch auf Rechtsetzung beruhende Grenzwerte festgelegt. Auch durch die in den Vorläufigen Richtlinien für straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm (Lärmschutz-Richtlinien-StV) vom 23. November 2007 (VkBl 2007, 767) enthaltenen Schallpegel wird diese Grenze, wie der Verwaltungsgerichtshof im Anschluss an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG vom 4.6.1986, a.a.O.) entschieden hat (vgl. BayVGH vom 26.11.1998, a.a.O.; vom 11.5.1999 Az. 11 B 97.695), nicht bestimmt. Ebenso wenig können die Vorschriften der Sechzehnten Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Verkehrslärmschutzverordnung - 16. BImSchV) vom 12. Juni 1990 (BGBl I S. 1036) bei der Beurteilung der Zumutbarkeit der Lärmbelastung im Rahmen des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO unmittelbar angewendet werden. Diese Verordnung bestimmt durch Festlegung von Immissionsgrenzwerten die Schwelle der Zumutbarkeit von Verkehrslärm nämlich nur für den Bau und die wesentliche Änderung u.a. von öffentlichen Straßen (vgl. § 1 Abs. 1, § 2 Abs. 1). Desgleichen gelten die Richtlinien für den Verkehrslärmschutz an Bundesfernstraßen in der Baulast des Bundes VLärmSchR 97 vom 2. Juni 1997 (VkBl 1997, 434) lediglich für planerische Maßnahmen bei der Linienführung und Trassierung (Lärmschutz durch Planung), für bauliche Maßnahmen an der Straße (aktiver Lärmschutz) und an lärmbetroffenen baulichen Anlagen (passiver Lärmschutz) beim Neubau und bei der wesentlichen Änderung von Straßen (Lärmvorsorge) und zur Verminderung der Lärmbelastung an bestehenden Straßen (Lärmsanierung) sowie für die Entschädigung wegen verbleibender Beeinträchtigungen (vgl. insbesondere Abschnitte A. I., II.; B. IV.; C. VI. 11 bis 13; D. XIV., 36 f.; E.XVII.). Demgegenüber geht es bei § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO um straßenverkehrsrechtliche Maßnahmen des Lärmschutzes für bestehende Straßen.
bb) Die Immissionsgrenzwerte des § 2 Abs. 1 der Verkehrslärmschutzverordnung können aber im Anwendungsbereich des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO als Orientierungspunkte für die Bestimmung der Zumutbarkeitsgrenze, deren Überschreitung die Behörde zur Ermessensausübung verpflichtet, herangezogen werden (so ausdrücklich BVerwG vom 22.12.1993 a.a.O.; vgl. ferner BayVGH vom 26.11.1998 a.a.O.; vom 11.5.1999 Az. 11 B 97.695; VGH Kassel vom 7.3.1989 NJW 1989, 2767; VG Berlin vom 19.6.1995 NVwZ-RR 1996, 257). Denn die Immissionsgrenzwerte der Verkehrslärmschutzverordnung bringen ganz allgemein die Wertung des Normgebers zum Ausdruck, von welcher Schwelle an eine nicht mehr hinzunehmende Beeinträchtigung der jeweiligen Gebietsfunktion, zumindest auch dem Wohnen zu dienen, anzunehmen ist (vgl. VG Berlin, a.a.O.). Eine Unterschreitung der Immissionsgrenzwerte der Verkehrslärmschutzverordnung ist danach jedenfalls ein Indiz dafür, dass die Lärmbelastung auch die Zumutbarkeitsschwelle in straßenverkehrsrechtlicher Hinsicht nicht erreicht. Umgekehrt kommt bei einer Überschreitung dieser Immissionsgrenzwerte eine zur fehlerfreien Ermessensausübung verpflichtende Überschreitung der straßenverkehrsrechtlichen Zumutbarkeitsschwelle in Betracht.
cc) Die Lärmbelastung des klägerischen Grundstücks lässt sich nach Ansicht des Senats aus den in sich widerspruchsfreien und nachvollziehbaren Berechnungen nach den RLS-90 des vom Gericht in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachtens ableiten. Diese Berechnungen ergaben für das klägerische Grundstück Beurteilungspegel von (je nach Höhe des angenommenen LKW-Anteils und des Nachtanteils mindestens) 60,3 dB (A) tags und 52,6 dB (A) nachts.
dd) Die Beurteilungspegel überschreiten die in der Verkehrslärmschutzverordnung für (allgemeine und reine) Wohngebiete festgelegten Immissionsgrenzwerte von 59 dB (A) tags und 49 dB (A) nachts um 1,3 bzw. 3,6 dB (A). Zwar liegen die genannten Beurteilungspegel deutlich unter den in den Verkehrslärmschutzrichtlinien 1997 für den Lärmschutz durch bauliche Maßnahmen an bestehenden Straßen (Lärmsanierung) festgelegten Immissionsgrenzwerten von 70 dB (A) tags/ 60 dB (A) nachts für Wohngebiete. Entsprechendes gilt hinsichtlich der in den Lärmschutz-Richtlinien-StV für straßenverkehrsrechtliche Lärmschutzmaßnahmen bestimmten Richtwerte für Wohngebiete. Insoweit darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Überschreitung dieser Richtwerte nach der Rechtsprechung nicht erst einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über Maßnahmen nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO auslöst, sondern bereits die Verdichtung des Ermessens der Behörde zu einer Pflicht zum Einschreiten zur Folge haben kann (vgl. BVerwG vom 4.6.1986, a.a.O.). Bei dieser Sachlage erachtet der Senat die Lärmbelastung des klägerischen Grundstücks im Sinn des § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO als unzumutbar.
b) Die Ermessensentscheidung über verkehrsbeschränkende Maßnahmen, die die Klägerin aufgrund der die Grenze des Zumutbaren überschreitenden Lärmbelastung des genannten Grundstücks beanspruchen kann, ist von der Beklagten bislang jedenfalls nicht fehlerfrei getroffen worden. Soweit in dem Schreiben der Beklagten vom 21. Mai 2007 überhaupt eine Verbescheidung des erstmalig konkret gestellten Antrags der Klägerin und nicht eine bloße Begründung der Weigerung, sich mit der Problematik erneut zu befassen, liegen sollte, lässt diese weder erkennen, dass sich die Beklagte überhaupt bewusst war, dass ihr in diesem Rahmen grundsätzlich ein Ermessen eröffnet war, noch dass dieses Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt wurde. Im Schreiben vom 21. Mai 2007 wird ausgeführt, die Klägerin habe sich in den vergangenen Jahren in mehreren Anträgen und Schreiben über die aus ihrer Sicht nicht zumutbaren Verkehrsverhältnisse an der Ottmaringer Straße geäußert und beschwert. Zu diesen Anträgen und Beschwerden hätten mehrere Ortsbesichtigungen, Anliegerbesprechungen und Verkehrsschauen der beteiligten Straßen- und Verkehrsbehörden stattgefunden. Es sei festzustellen, dass die Beschwerden objektiv unzutreffend seien und fachlich weder ein außergewöhnliches Verkehrsaufkommen noch eine unzumutbare Lärmbelästigung vorhanden sei. Die Gemeindeverbindungsstraße Töging-Ottmaring-Beilngries sei seit Fertigstellung des Main-Donau-Kanals für den Schwerlastverkehr gesperrt. Im fraglichen Bereich seien bereits verkehrsberuhigende Maßnahmen, wie z.B. Geschwindigkeitsbeschränkungen, verwirklicht worden. Darüber hinausgehende weitere verkehrsrechtliche Maßnahmen seien nicht veranlasst.
Voraussetzung für die Eröffnung des behördlichen Ermessens in Bezug auf die Frage, ob überhaupt verkehrsbeschränkende Maßnahmen – und falls ja, welche – ergriffen werden sollen, ist das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der Vorschrift, nämlich das Bestehen unzumutbarer Lärm- und/oder Abgasbelastungen. Insoweit ging die Beklagte ausweislich ihres Schreibens vom 21. Mai 2007 aufgrund von „Ortsbesichtigungen, Anliegerbesprechungen und Verkehrsschauen der beteiligten Straßen- und Verkehrsbehörden“ unzutreffender Weise pauschal davon aus, dass gerade keine solchen unzumutbaren Belastungen vorhanden seien. Vor diesem Hintergrund konnte sie bereits nicht erkennen, dass ihr im Rahmen der Entscheidung über den von der Klägerin gestellten Antrag überhaupt ein Ermessen eingeräumt war. Unabhängig hiervon ist auch nicht erkennbar, dass die von der Beklagten getroffene Entscheidung den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Ermessensausübung (vgl. Art. 40 BayVwVfG) entspricht. Mit der Argumentation, es seien in der Vergangenheit bereits verkehrsberuhigende Maßnahmen wie eine Geschwindigkeitsbeschränkung getroffen worden, geht die Beklagte von falschen Voraussetzungen aus, nachdem im Zeitpunkt der Entscheidung über den von der Klägerin gestellten Antrag und auch derjenigen des Gerichts diese von der Beklagten in Bezug genommenen Geschwindigkeitsbeschränkungen bereits wieder aufgehoben worden waren.
Zwar kann die zuständige Verkehrsbehörde im Rahmen einer Abwägung zwischen den unzumutbar beeinträchtigten Interessen der Anwohner und möglicherweise übergeordneten Verkehrsinteressen zu dem Ergebnis kommen, keine oder andere als die von den Betroffenen gewünschten verkehrsbeschränkenden Maßnahmen anzuordnen. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass eine solche Abwägung überhaupt nachvollziehbar stattgefunden hat und auch im Ergebnis vertretbar ist. Das Schreiben der Beklagten vom 21. Mai 2007 und im Übrigen auch der sonstige Akteninhalt lassen eine fundierte Auseinandersetzung mit der bestimmungsgemäßen Funktion der Ottmaringer Straße für den örtlichen und überörtlichen Verkehr und den nachteiligen Folgen einer Geschwindigkeitsbeschränkung oder vergleichbarer verkehrsbeschränkender Maßnahmen nicht erkennen. Es fehlt auch eine nachvollziehbare Befassung mit der Frage, welche verkehrsbeschränkenden Maßnahmen grundsätzlich in Betracht kämen, um eine ausreichende Lärmminderung erzielen zu können, so dass für eine Abwägung im oben dargestellten Sinn nichts erkennbar ist.
Der Anspruch der Klägerin auf fehlerfreie Ausübung des der Beklagten eingeräumten Ermessens ist nach alledem nicht erfüllt, so dass die Beklagte über den Antrag der Klägerin – unter Befassung der hierfür nach der Gemeindeordnung zuständigen Organe - erneut entscheiden muss. Bei der Entscheidung wird zu berücksichtigen sein, dass die Wohnruhe grundsätzlich ein besonderes berücksichtigungswürdiges Anliegen ist und deshalb das Bedürfnis nach Wohnruhe mit dem ihm zukommenden Gewicht in die Ermessensüberlegungen einbezogen und mit den übrigen privaten oder öffentlichen Interessen auf der Basis einer zutreffenden rechtlichen und tatsächlichen Ermittlung abgewogen werden muss (OVG Münster vom 21.8.1989 NJW 1981, 701). Weiter wird zu erwägen sein, dass die Ottmaringer Straße aller Voraussicht nach – wie die Erfahrungen aus der Vergangenheit nahelegen - auch bei Anordnung der von der Klägerin favorisierten Geschwindigkeitsbeschränkung nach wie vor in der Lage sein wird, den über sie abgewickelten Verkehr aufzunehmen. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass es kein rechtlich geschütztes Individualinteresse von Verkehrsteilnehmern gibt, von der Anordnung von Geschwindigkeitsbeschränkungen oder sonstigen verkehrsbeschränkenden Maßnahmen deshalb verschont zu bleiben, um – bei Missachtung der Verkehrsbeschränkung – nicht mit Bußgeldern überzogen zu werden.
2. Der von vornherein auf die (bloße) Verpflichtung der Beklagten auf erneute Verbescheidung des klägerischen Antrags im Verwaltungsverfahren (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO) zielenden Klage war daher unter Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung vollumfänglich stattzugeben. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO, § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
3. Die Revision ist nicht zuzulassen, da keine der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Voraussetzungen gegeben ist.
Beschluss
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 5.000 € festgesetzt (§ 52 Abs. 1 und 2 GKG i.V.m. der Empfehlung in Nr. 46.14 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 7./8.7.2004 - NVwZ 2004, 1327).