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OLG Schleswig Urteil vom 22.12.2015 - 7 U 111/14 - Überschreitung der Richtgeschwindigkeit und Betriebsgefahr

OLG Schleswig v. 22.12.2015: Überschreitung der Richtgeschwindigkeit und Betriebsgefahr


Das OLG Schleswig (Urteil vom 22.12.2015 - 7 U 111/14) hat entschieden:
  1. Kommt es unmittelbar im Anschluss an einen Fahrstreifenwechsel auf der Autobahn zur Kollision mit dem nachfolgenden Fahrzeug, tritt die Betriebsgefahr regelmäßig zurück.

  2. Das Zurücktreten eines Verursachungsbeitrags setzt in der Regel eine nicht erheblich ins Gewicht fallende mitursächliche Betriebsgefahr auf der einen Seite und ein grobes Verschulden auf der anderen Seite voraus.

  3. Eine Überschreitung der Richtgeschwindigkeit durch das nachfolgende Fahrzeug kann bei der Abwägung nicht berücksichtigt werden, wenn sie nicht unstreitig oder aber bewiesen ist.

Siehe auch Betriebsgefahr - verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung und Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen


Gründe:

I.

Der Kläger nimmt die Beklagten nach einem Verkehrsunfall in Anspruch.

Am 25. April 2011 befuhr der Kläger mit seinem PKW (Typ Mercedes Benz 220 E, amtliches Kennzeichen ...) auf der rechten Fahrspur die Autobahn A 23 in Richtung Husum. Zwischen den Anschlußstellen L1 und I1 näherte sich von hinten der Beklagte zu 1) mit seinem PKW (Typ Opel, amtliches Kennzeichen ...), der bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist.

Nachdem der Kläger mit seinem Fahrzeug zum Zwecke des Überholens einen Spurwechsel auf die linke Fahrspur vorgenommen hatte, kam es zu einem Zusammenstoß der Fahrzeuge, bei dem das Beklagten-​Kfz etwa frontmittig gegen das linke Fahrzeugheck des klägerischen Fahrzeuges stieß.

Der Kläger hat behauptet, er habe mit einer Geschwindigkeit von 120 km/h die rechte Fahrspur befahren und beabsichtigt, ein relativ langsam vor ihm fahrendes Fahrzeug zu überholen. Er habe sich nach hinten abgesichert, indem er in den Innenspiegel, den Außenspiegel und über die Schulter nach hinten gesehen habe. Nachdem er den Blinker gesetzt habe, sei er auf die Überholspur gefahren. Er habe sich schon mehrere Sekunden vollständig auf dem Überholfahrstreifen befunden, sei schon an dem überholten Fahrzeug vorbei gefahren und habe einscheren wollen, als der Beklagte zu 1) mit seinem Fahrzeug mit einer Geschwindigkeit von mindestens 150 km/h auf der Überholspur herangefahren und auf sein Fahrzeug aufgefahren sei.

Der Kläger hat seinen Schaden neben geltend gemachten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten wie folgt beziffert:

1. Nettoreparaturkosten gemäß Gutachten
S1 & G1 vom 3. Mai 2011
8.434,31 Euro
2. Sachverständigenkosten gemäß Rechnung
S1 & G1 vom 3. Mai 2011
840,79 Euro
3. Kostenpauschale 25,00 Euro
  9.300,10 Euro
davon macht der Kläger 70% geltend 6.510,07 Euro


Das Landgericht hat der Klage nach Beweisaufnahme (Vernehmung von Zeugen und Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens) unter Zugrundelegung einer Mithaftung der Beklagten von 20% aus Betriebsgefahr im Umfang von 1.859,02 Euro nebst Zinsen und entsprechenden außergerichtlichen Kosten stattgegeben. Wegen der Einzelheiten wird auf die angefochtene Entscheidung nebst tatsächlicher Feststellungen Bezug genommen.

Gegen das Urteil wenden sich die Beklagten mit der Berufung. Sie begehren die vollständige Klagabweisung und begründen dies damit, dass bei einem feststehenden Verstoß des Klägers gegen § 5 Abs. 4 Satz 1 StVO die Mithaftung der Beklagten aus der Betriebsgefahr zurücktrete.

Der Kläger verteidigt das angefochtene Urteil.

Wegen der Einzelheiten des zweitinstanzlichen Vorbringens wird auf die im Berufungsrechtszug ausgetauschten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.


II.

Die zulässige Berufung hat Erfolg und führt zur vollständigen Klagabweisung.

Eine Haftung der Beklagten aus §§ 7, 17 StVG, 115 VVG ist nicht gegeben, da die gemäß § 7 Abs. 1 StVG zu Lasten der Beklagten eingreifende Betriebsgefahr vollständig zurücktritt.

Im Rahmen der Abwägung gemäß § 17 Absatz 1 StVG ist auf die Umstände des Einzelfalles abzustellen, insbesondere darauf, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige bzw. zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Jeder Halter hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Absatz 1 u. 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will (vgl. BGH, NZV 1996, S. 231). Das Zurücktreten eines Verursachungsbeitrags setzt in der Regel eine nicht erheblich ins Gewicht fallende mitursächliche Betriebsgefahr auf der einen Seite und ein grobes Verschulden auf der anderen Seite voraus (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl., StVG, § 17, Rn. 16).

So liegt der Fall hier. Dem Kläger ist ein Sorgfaltsverstoß beim Überholen und damit ein Verstoß gegen § 5 Abs. 4 Satz 1 StVO zur Last zu legen. Diese Feststellung wird vom Kläger auch jedenfalls in der Berufungsinstanz nicht mehr angegriffen.

Einen Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1) hat das Landgericht nicht festgestellt. Die reine Betriebsgefahr des von ihm geführten Fahrzeug tritt hinter dem Verkehrsverstoß des Klägers zurück. Kommt es unmittelbar im Anschluss an einen Fahrstreifenwechsel auf der Autobahn zur Kollision mit dem nachfolgenden Fahrzeug, tritt die Betriebsgefahr zurück (vgl. OLG Hamm, NJW-​RR 2009, 1624).

Eine Erhöhung der Betriebsgefahr des Beklagten-​Fahrzeugs, die - hiervon abweichend - ihre Berücksichtung bei der Haftungsverteilung geboten hätte (vgl. hierzu OLG Koblenz, NZV 2014, 84; OLG Nürnberg, BeckRS 2010, 25146; OLG Düsseldorf, BeckRS 2010, 20273) lag nicht vor. Denn insbesondere eine Überschreitung der Richtgeschwindigkeit durch den Beklagten zu 1) ist der Entscheidung nicht zu Grunde zu legen. Der Sachverständige Schal hat zwar eine Annäherungsgeschwindigkeit des Beklagten-​Fahrzeugs von über 150 km/h für möglich gehalten, allerdings ebenso eine Geschwindigkeit von lediglich 120 km/h. Da bei der Haftungsabwägung aber nur feststehende Umstände Berücksichtigung finden, ist eine Überschreitung der Richtgeschwindigkeit und damit eine Erhöhung der Betriebsgefahr der Entscheidung nicht zu Grunde zu legen.

Es verbleibt somit beim Grundsatz, dass die reine Betriebsgefahr hinter dem Verkehrsverstoß des Klägers gegen § 5 Abs. 4 Satz 1 StVO zurücktritt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.