Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

VGH München Beschluss vom 04.10.2016 - 11 ZB 16.1535 - Anfallsleiden und Vorlage eines ärztlichen Gutachtens einer Begutachtungsstelle für Fahreignung

VGH München v. 04.10.2016: Anfallsleiden und Vorlage eines ärztlichen Gutachtens einer Begutachtungsstelle für Fahreignung


Der VGH München (Beschluss vom 04.10.2016 - 11 ZB 16.1535) hat entschieden:
Wird die Diagnose einer Epilepsie gestellt (d.h. nach wiederholten Anfällen), ist eine mindestens einjährige Anfallsfreiheit die Voraussetzung für das Erlangen der Kraftfahreignung. Diese geforderte Anfallsfreiheit als Grundlage der Fahreignung kann bei einfach fokalen Anfällen, die ohne Bewusstseinsstörung und ohne motorische, sensorische oder kognitive Behinderung für das Führen eines Kraftfahrzeugs einhergehen und bei denen nach mindestens einjähriger Beobachtungszeit keine fahrrelevante Ausdehnung der Anfallssymptomatik und kein Übergang zu komplex-fokalen oder sekundär generalisierten Anfällen erkennbar wurden, entfallen. Dies muss durch Fremdbeobachtung gesichert sein und darf sich nicht allein auf die Angaben des Patienten stützen.


Siehe auch Krankheiten und Fahrerlaubnis und Stichwörter zum Thema Fahrerlaubnis und Führerschein


Gründe:

I.

Die Klägerin wendet sich gegen die Entziehung ihrer Fahrerlaubnis der Klasse B (einschließlich Unterklassen) wegen Nichtvorlage eines angeordneten ärztlichen Gutachtens einer Begutachtungsstelle für Fahreignung.

Die Klägerin legte in einem strafgerichtlichen Verfahren ein ärztliches Attest des Dr. S... A..., Facharzt für Neurologie, vom 22. Mai 2013 vor, wonach sie seit Juli 2012 ambulant neurologisch mitbehandelt werde, seit ihrem 15. Lebensjahr an einer pharmako-​resistenten Epilepsie leide und daher auf absehbare Zeit nicht verhandlungsfähig sei. Das Attest war dem Amtsgericht mit Schriftsatz vom 1. September 2014 mit dem Hinweis übersandt worden, dass sich der Zustand der Klägerin nach Auskunft ihrer Mutter nach wie vor nicht gebessert habe.

Mit Schreiben vom 7. Juli 2015 forderte die Fahrerlaubnisbehörde die Klägerin auf, bis zum 25. September 2015 ein Gutachten eines Arztes einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung zu der Frage vorzulegen, ob bei ihr eine Erkrankung nach Nr. 6.6 (Epilepsie) der Anlage 4 zur FeV vorliege, die die Fahreignung infrage stelle und falls ja, ob sie trotzdem in der Lage sei, den Anforderungen an das Führen eines Kraftfahrzeugs der Gruppe 1 gerecht zu werden. Für den Fall einer regelmäßigen Medikation infolge dieser Erkrankung sei ergänzend dazu Stellung zu nehmen, ob die verordneten Medikamente auch bei bestimmungsgemäßer Einnahme dazu geeignet seien, die psychische Leistungsfähigkeit herabzusetzen und ob hierzu eine weitere Untersuchung (psychologisches Testverfahren) erforderlich sei. Auch der Frage der Belassung der Fahrerlaubnis unter Auflagen und Beschränkungen sowie der Erforderlichkeit von Nachuntersuchungen sei nachzugehen.

Die Klägerin bat mit Schreiben vom 24. September 2015, die Fahrerlaubnisakte zur Erstellung des Gutachtens an Herrn Dr. R... F..., einen Verkehrsmediziner mit sechsjähriger Gutachtertätigkeit beim TÜV Süd, zu senden. Sie werde sich dort am 16. Oktober 2015 einer Begutachtung unterziehen und „notfalls“ ein Privatgutachten erstellen lassen; es sei auch bereits ein Neurologe eingebunden worden, was bei dieser Erkrankung nach den “neuesten BASt-​Vorschriften“ erforderlich sei. Das lehnte die Fahrerlaubnisbehörde mit Schreiben vom 12. Oktober 2015 ab.

Mit Schreiben vom 15. Oktober 2015 übersandte die Klägerin ein fachärztliches Attest des Dr. F... K..., Universitätsklinikum Erlangen, vom 12. Juli 2011 sowie ein Gutachten des Dr. J... K..., Facharzt für Neurologie, vom 26. Juli 2015, wonach sie uneingeschränkt fahrgeeignet sei. Die Medikation mit Keppra und Vimpat habe keine Auswirkungen auf ihre Fahrtüchtigkeit.

Mit Bescheid vom 17. November 2015 entzog die Fahrerlaubnisbehörde der Klägerin die Fahrerlaubnis (Nr. 1 des Bescheids), forderte sie auf, den Führerschein innerhalb von drei Tagen nach Zustellung des Bescheids bei der Fahrerlaubnisbehörde abzugeben (Nr. 2) und drohte für den Fall der Nichtbefolgung ein Zwangsgeld an. Das ärztliche Gutachten vom 26. Juli 2015 entspräche als Privatgutachten nicht den Anforderungen aus der Anordnung vom 7. Juli 2015. Es stehe hinsichtlich der Angabe zur Medikation seit 2010 auch im Widerspruch zur noch am 22. Mai 2013 attestierten pharmako-​resistenten Epilepsie; die Eignungszweifel seien daher nicht ausgeräumt.

Die gegen den Bescheid erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 27. Juni 2016 ab. Hiergegen richtet sich der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung, dem der Beklagte entgegentritt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.


II.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Aus der Antragsbegründung, auf die sich gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO die Prüfung im Zulassungs-​verfahren beschränkt (BayVerfGH, E.v. 14.2.2006 – Vf. 133-​VI-​04 – VerfGH 59, 47/52; E.v. 23.9.2015 – Vf. 38-​VI-​14 – BayVBl 2016, 49 Rn. 52; Happ in Eyermann, VwGO, 14. Auflage 2014, § 124a Rn. 54), ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

Die Klägerin trägt im Anschluss an die Entscheidung des Senats im vorausgehenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren (B.v. 24.3.2016 – 11 CS 16.260 – juris) vor, die Bedenken gegen ihre Fahreignung seien auch ohne die Vorlage des verlangten Gutachtens einer Begutachtungsstelle für Fahreignung durch das vorgelegte Facharztgutachten in sonstiger Weise vollständig ausgeräumt worden. Die Praxis Dr. K... verfüge über die erforderliche verkehrsmedizinische Qualifikation. Das ärztliche Attest des Dr. A... vom 22. Mai 2013 könne das fachärztliche Gutachten nicht in Frage stellen. Die Klägerin habe immer nur einfach fokale Anfälle ohne Bewusstseinsstörung und ohne motorische, sensorische und kognitive Einschränkungen gehabt.

Der Senat hat erstmals im vorausgehenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren (B.v. 24.3.2016 a.a.O.) in Erwägung gezogen, dass, werden die ursprünglich zu Recht bestehenden Bedenken gegen die Fahreignung des Fahrerlaubnisinhabers auch ohne die Vorlage des geforderten Gutachtens in sonstiger Weise vollständig und - auch für den (medizinisch und psychologisch nicht geschulten) Laien nachvollziehbar - eindeutig ausgeräumt, die Gutachtensbeibringungsanordnung aufzuheben ist, weil es dann einer medizinischen und/oder psychologischen Untersuchung und der Vorlage eines Fahreignungsgutachtens offensichtlich nicht mehr bedarf. Der Beklagte weist zwar zu Recht darauf hin, dass nach der Rechtsprechung des Senats für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Gutachtensbeibringungsanordnung grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Anordnung maßgeblich ist (vgl. BayVGH, B. v. 27.5.2015 – 11 CS 15.645 – juris Rn. 11). Das bedeutet allerdings nicht, dass eine Beibringungsanordnung trotz Vorliegens neuer Erkenntnisse, die die ursprünglichen Zweifel (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV: „Tatsachen, die Bedenken begründen“) an der Fahrgeeignetheit des Betroffenen ausräumen, aufrechtzuerhalten ist. Daran hält der Senat fest und weist (erneut) darauf hin, dass davon allerdings nur auszugehen ist‚ wenn keinerlei Restzweifel hinsichtlich der Fahreignung mehr verbleiben und die ursprünglichen Bedenken eindeutig widerlegt sind.

Das ist hier auch unter Berücksichtigung des klägerischen Vortrags im verwaltungsgerichtlichen Verfahren und im Zulassungsverfahren nicht der Fall. Das Gutachten von Herrn Dr. K... vom 26. Juli 2015 hat die ursprünglich zu Recht bestehenden Bedenken gegen die Fahreignung der Klägerin, die sich aus dem ärztlichen Attest des Dr. A... vom 22. Mai 2013 ergaben, nicht im o.g. Sinn vollständig ausgeräumt.

Gemäß Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV ist, wer unter Epilepsie leidet, nur ausnahmsweise fahrgeeignet für Fahrzeuge der Gruppe 1, wenn kein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven mehr besteht, z.B. wenn der Betreffende ein Jahr anfallsfrei ist. Auch nach Nr. 3.9.6 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung (Begutachtungsleitlinien – Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, gültig ab 1.5.2014, zuletzt geändert durch Erlass des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur vom 3.3.2016 [VkBl 2016, 185]) ist, wer epileptische Anfälle erleidet, nicht in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen beider Gruppen gerecht zu werden, solange ein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven besteht.

Wird die Diagnose einer Epilepsie gestellt (d.h. nach wiederholten Anfällen), ist eine mindestens einjährige Anfallsfreiheit die Voraussetzung für das Erlangen der Kraftfahreignung. Diese geforderte Anfallsfreiheit als Grundlage der Fahreignung kann bei einfach fokalen Anfällen, die ohne Bewusstseinsstörung und ohne motorische, sensorische oder kognitive Behinderung für das Führen eines Kraftfahrzeugs einhergehen und bei denen nach mindestens einjähriger Beobachtungszeit keine fahrrelevante Ausdehnung der Anfallssymptomatik und kein Übergang zu komplex-​fokalen oder sekundär generalisierten Anfällen erkennbar wurden, entfallen. Dies muss durch Fremdbeobachtung gesichert sein und darf sich nicht allein auf die Angaben des Patienten stützen (vgl. Begutachtungsleitlinien S. 46).

Das Vorliegen dieser Voraussetzungen wird durch das Gutachten von Dr. K... nicht belegt. Das Gutachten führt zwar aus, dass die Klägerin sich in ambulanter fachärztlicher Behandlung in der Praxis befinde und dass eine relevante Ausdehnung der Anfallssymptomatik bzw. ein Übergang zu komplex-​fokalen oder sekundär generalisierten Anfällen in Zusammenschau der vorliegenden Befunde, Arztbriefe und der Anamnese derzeit nicht erkannt werden könne, schildert aber keine mindestens einjährige Beobachtungszeit. Auch wird nicht genannt, welche Befunde und Arztbriefe der Praxis vorlagen. Die Anamnese beruht auf den Angaben der Klägerin und wird nicht durch Erfahrungen der Praxis oder durch Fremdbefunde gestützt. Danach steht das Gutachten im Widerspruch zu den Begutachtungsleitlinien, wonach die notwendigen Erkenntnisse durch Fremdbeobachtung gesichert sein müssen und sich nicht allein auf die Angaben des Patienten stützen dürfen.

Im Übrigen wurden die ursprünglich bestehenden Bedenken durch das vorgelegte Gutachten nicht vollständig ausgeräumt:

Die Klägerin hat im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgetragen und belegt, dass die „Praxis“ die verkehrsmedizinische Qualifikation zum Erstellen von Gutachten besitzt. Zwar besitzt diese Qualifikation nur der Kollege in der Gemeinschaftspraxis, Herr Dr. med. A... U.... Die Ärzte bestätigen aber, dass sie das Gutachten in Zusammenarbeit erstellt haben. Herr Dr. U... ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür anzunehmen, dass sich seine verkehrsmedizinische Qualifikation nur auf den Bereich Psychiatrie beziehen würde. Jedoch soll der Facharzt, der das Gutachten erstellt, nicht zugleich der den Betroffenen behandelnde Arzt sein (vgl. § 11 Abs. 2 Satz 5 FeV). Der Gutachter soll unabhängig sein und die Angaben der untersuchten Person kritisch hinterfragen, während der behandelnde Arzt in der Regel ein Vertrauensverhältnis zu seinem Patienten hat. Gerade bei Epilepsie erhält das durch die Forderung in den Begutachtungsleitlinien, wonach die Voraussetzungen für das ausnahmsweise Bestehen der Fahreignung durch Fremdbeobachtung gesichert sein müssen und sich nicht allein auf die Angaben des Patienten stützen darf, besondere Bedeutung.

Des Weiteren muss das Gutachten nach Anlage 4a zur FeV unter Einbeziehung der Fahrerlaubnisakte erstellt werden und sich an die behördliche Fragestellung halten. Auch das ist hier nicht der Fall.

Von besonderer Bedeutung ist hier jedoch, wie bereits im Beschluss des Senats im einstweiligen Rechtsschutzverfahren ausgeführt, dass sich das Gutachten nicht mit dem Attest des Dr. A... vom 22. Mai 2013 auseinandersetzt. Nach dem Gutachten von Dr. K... besteht bei der Klägerin eine kryptogene Epilepsie mit seit mehreren Jahren bestehenden einfach fokalen epileptischen Anfällen ohne Bewusstseinsstörung und ohne motorische, sensorische oder kognitive Behinderungen für das Führen eines Kraftfahrzeugs. Sie werde mit Keppra und Vimpat medikamentös behandelt. In der Vergangenheit bestehende sekundär komplex-​fokale Anfälle und tonisch-​klonische Anfälle seien “den vorliegenden Unterlagen zufolge“ letztmalig in den Jahren 2006 und 2010 im Rahmen von Medikamentenumstellungen bekannt geworden. Die Medikamenteneinnahme habe in der derzeitigen Dosierung keinen Einfluss auf die psychische Leistungsfähigkeit oder die Kraftfahreignung. Eine relevante Ausdehnung der Anfallssymptomatik bzw. ein Übergang zu komplex-​fokalen oder sekundär generalisierten Anfällen könne derzeit nicht erkannt werden.

Diese gutachterlichen Feststellungen sind mit den Ausführungen im Attest des Dr. A... vom 22. Mai 2013 nicht vereinbar. Die dort attestierte pharmako-​resistente Epilepsie bedinge eine Verhandlungsunfähigkeit (auf absehbare Zeit). Das Verwaltungsgericht stellte hierzu im vorausgehenden Beschluss im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (B. v. 13.1.2016 – M 26 S 15.5410), auf den das Urteil verweist, zu Recht fest, dass sich die Klägerin danach zum Zeitpunkt der Attestierung im Jahr 2013 aufgrund ihrer Epilepsie in einem krankheitsbedingten Zustand befunden haben müsste, der es ihr unmöglich gemacht habe, ihre Interessen in und außerhalb der strafgerichtlichen Verhandlung vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen, sowie Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen (BA S. 14/15 unter Verweis auf BVerfG, KB. v. 7.3.1995 – 2 BvR 1509/94 – juris). Das ist nicht vereinbar mit der gutachterlichen Aussage von Dr. K..., wonach die Klägerin seit mehreren Jahren nur einfach fokale epileptische Anfälle ohne Bewusstseinsstörung und ohne motorische, sensorische oder kognitive Behinderungen habe. Die Klägerin hat auch nicht geltend gemacht, dass es sich bei dem Attest von Dr. A... vom 22. Mai 2013 um eine reine Gefälligkeitsbescheinigung gehandelt habe.

Als unterlegener Rechtsmittelführer hat die Klägerin die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 2 VwGO). Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 und § 52 Abs. 1 GKG und der Empfehlung in Nr. 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, Anh. § 164 Rn. 14).

Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO), ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).