Das Verkehrslexikon
Verwaltungsgericht Koblenz Urteil vom 09.05.2011 - 4 K 932/10.KO - Anspruch des Anliegers eines verkehrsberuhigten Bereichs auf verkehrsrechtliche Maßnahmen
VG Koblenz v. 09.05.2011: Anspruch des Anliegers eines verkehrsberuhigten Bereichs auf verkehrsrechtliche Maßnahmen
Das Verwaltungsgericht Koblenz (Urteil vom 09.05.2011 - 4 K 932/10.KO) hat entschieden:
Zum Anspruch des Anliegers eines verkehrsberuhigten Bereichs auf zusätzliche verkehrsrechtliche Maßnahmen zur tatsächlichen Verkehrsberuhigung bzw. zur Reduzierung des Durchgangsverkehrs.
Ein verkehrsberuhigter Bereich kann von Fußgängern und spielenden Kindern nicht mehr bestimmungsgemäß genutzt werden, wenn die Verkehrsdichte zu den Hauptverkehrszeiten morgens und spätnachmittags mehr als 20 Kraftfahrzeuge pro Stunde beträgt und zu den übrigen Tageszeiten nicht völlig unerheblich ist.
Siehe auch Verkehrsberuhigter Bereich und Straßenverkehrsrechtliche Anordnungen
Tatbestand:
Die Kläger begehren die Anordnung zusätzlicher verkehrsrechtlicher Anordnungen im Zusammenhang mit einem bereits angeordneten verkehrsberuhigten Bereich.
Sie sind Anlieger der J.-A.-Straße (Haus Nr. 10) in der Ortsgemeinde F. Diese Straße verläuft im nördlichen Gemeindegebiet geradlinig vom E. Weg im Osten bis zur Kreuzung mit der B.-Straße im Westen. Hinter der Kreuzung setzt sich die C. Straße geradlinig bis zur K. Straße (Ortsdurchfahrt der K 87) fort. Danach führt die Straße schräg bis zur B 420.
Der Bebauungsplan „Auf dem H. – Auf dem B.“ setzt für den überwiegenden Teil der J.-A.-Straße, für die gesamte C. Straße und für die B.-Straße von der K. Straße im Süden bis zur Kreuzung C. Straße/J.-A.-Straße verkehrsberuhigte Bereiche fest. Für den nördlichen Teil der B.-Straße von der eben genannten Kreuzung bis zum nördlichen Übergang in die K. Straße ist ein „Fußgängerbereich mit Anliegerverkehr“ festgesetzt. Entlang der J.-A.-Straße ist auf beiden Straßenseiten eine eingeschossige Bauweise mit einer Geschossflächenzahl von 0,5 festgesetzt. In den übrigen Gebieten gilt eine zweigeschossige Bauweise mit einer Geschossflächenzahl von 0,8.
Mit verkehrspolizeilicher Anordnung vom 14. Februar 2005 ordnete die Beklagte für die gesamte J.-A.-Straße, für die gesamte C. Straße und einen Teil der B.-Straße einen verkehrsberuhigten Bereich an. Die Verkehrszeichen 326-40 StVO in der damals geltenden Fassung sollten wie folgt aufgestellt werden:
a) Einmündung C. Straße in die K. Straße (K 87),
b) Einmündung B.-Straße in den asphaltierten Bereich der B.-Straße in Höhe des alten Bahnhofs,
c) Einmündung der J.-A.-Straße in den E. Weg.
Zur Begründung war ausgeführt, die genannten Gemeindestraßen seien niveau-gleich, ohne besonderen Schutzraum für Fußgänger und mit Baumpflanzungen im Fahrbahnbereich ausgebaut. Deshalb sei die neue Verkehrsregelung zwingend geboten.
In der Folgezeit wurden die Verkehrszeichen 326-40 an der Einmündung in den E. Weg und an der Einmündung in die K. Straße aufgestellt. In der B.-Straße wurde in Höhe des alten Bahnhofs (Parzelle 457/26) ebenfalls das Verkehrszeichen 326-40 aufgestellt. Das Ende des verkehrsberuhigten Bereichs in der B.-Straße ist nicht durch ein Verkehrszeichen 326-40 gekennzeichnet. Stattdessen gibt es in der nördlichen Verlängerung der B.-Straße, die im Bebauungsplan als „Fußgängerbereich mit Anliegerverkehr“ festgesetzt ist, jenseits der Kreuzung J.-A.-Straße/C. Straße lediglich das Verkehrszeichen 250 mit dem Zusatz „Anlieger frei“. Eine Umwidmung als Fußgängerzone ist hier nicht erfolgt. An der Einmündung des nördlichen Teils der B.-Straße in die K. Straße gibt es in beide Richtungen keine Verkehrszeichen. Allerdings ist inzwischen die Anordnung ergangen, an der Einmündung der B.-Straße in den Kreuzungsbereich C. Straße/J.-A.-Straße aus Richtung Norden das Verkehrszeichen Nr. 325.1 StVO anzubringen.
Mit einer weiteren Anordnung vom 9. November 2006 ordnete die Beklagte einzelne Parkflächen an genau bestimmten Stellen in der C. Straße, der J.-A.-Straße und in der N.-B.-Straße an, die ebenfalls als verkehrsberuhigter Bereich ausgewiesen ist. Zur Begründung war ausgeführt, dass in verkehrsberuhigten Bereichen nur in besonders gekennzeichneten Flächen geparkt werden dürfe. Aus diesem Grunde und aus Gründen der Erhöhung der Verkehrssicherheit durch versetzt angeordnete Parkflächen sei die Regelung erfolgt. In Absprache mit den Anwohnern sei in der J.-A.-Straße unter anderem auch eine Parkfläche gegenüber der Einfahrt des Anwesens Nr. 10 angeordnet worden. Insgesamt wurden in der J.-A.-Straße 10 Parkflächen angeordnet. Alle Parkflächen sind 3 x 5 m groß.
Die Kläger und ein weiteres Ehepaar wandten sich mehrfach mündlich an die Behörden, einschließlich den Bürgerbeauftragten, mit dem Ziel, die nach ihrer Auffassung nicht vorhandene Verkehrsberuhigung zu verwirklichen. Die J.-A.-Straße diene sowohl dem innerörtlichen Durchgangsverkehr für die angrenzenden Baugebiete als auch dem überörtlichen Berufsverkehr. Die vorgeschriebene Geschwindigkeit werde mangels ausreichender Hindernisse nicht eingehalten. Insbesondere die Kinder der Kläger könnten die Straße nicht im zulässigen Rahmen zum Spielen benutzen.
Nachdem sich der Rechtsanwalt der Kläger mit Schreiben vom 18. Oktober 2006 vergeblich an die Ortsgemeinde gewandt hatte, richtete er unter dem 9. Januar 2009 ein Schreiben an die Beklagte mit der Bitte, bis zum 16. Februar 2009 über die in der Anlage zu dem Schreiben enthaltenen Vorschläge zur tatsächlichen Verkehrsberuhigung zu entscheiden. Bei der genannten Anlage handelte es sich um den Entwurf einer angekündigten Klageschrift gegen die Ortsgemeinde F., in der die mangelnde Verkehrsberuhigung dargestellt und Vorschläge zur Verbesserung der Situation gemacht wurden. Unter anderem schlugen die Kläger den Einbau von Schwellen, die Einrichtung einer Einbahnstraße und die Schaffung einer Sackgasse vor.
Die Beklagte leitete das Schreiben unter dem 20. Januar 2009 an die Ortsgemeinde F. mit der Bitte um Abgabe einer fristgerechten Stellungnahme. Die Akten enthalten weder eine Stellungnahme der Ortsgemeinde noch eine Entscheidung der Verbandsgemeinde.
Am 23. Juli 2010 haben die Kläger Klage erhoben. Die Klageschrift war ursprünglich sowohl gegen die Ortsgemeinde F. als auch gegen die Verbandsgemeinde Bad Kreuznach gerichtet. Jedoch ist noch am gleichen Tage ein Telefax eingegangen, mit dem die Klage gegen die Ortsgemeinde zurück genommen wurde, weil der Schwerpunkt des Begehrens in § 45 StVO liege. Das Gericht hat deshalb nur die Klage gegen die Verbandsgemeinde erfasst.
Die Kläger wiederholen ihren bisherigen Vortrag. Sie tragen vor, dass sie vier Kinder im Alter von zwei, vier, fünf und neun Jahren hätten, für die die Benutzung der J.-A.-Straße als Schulweg bzw. Spielplatz lebensgefährlich sei. Hierzu schildern sie insgesamt 20 Vorfälle seit Klageerhebung, die insbesondere für ihre Kinder wegen falsch parkenden und zu schnell fahrenden Fahrzeugen gefährlich waren. Der geradlinige Verlauf der 6,70 m breiten Mischverkehrsfläche verleite die Autofahrer zu einer rücksichtslosen Fahrweise. Es seien nicht einmal alle Bäume gepflanzt worden, die im Bebauungsplan vorgesehen seien. Der Ortsgemeinderat habe weitere Maßnahmen abgelehnt. Die Kläger könnten keine bestimmten Maßnahmen beantragen, da der Beklagten als unterer Verkehrsbehörde ein Auswahlermessen zustehe.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte zu verpflichten, durch zusätzliche verkehrsrechtliche Maßnahmen dafür zu sorgen, dass der fließende Verkehr in der J.-A.-Straße auch tatsächlich beruhigt wird.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt vor, die J.-A.-Straße sei mit dem Verkehrszeichen 326-40 ordnungsgemäß beschildert worden. Es sei sogar ein Zusatzschild „Schritttempo fahren“ angebracht worden. Es treffe zu, dass die Straße von den Bewohnern der in östlicher Richtung gelegenen Baugebiete „als willkommene Abkürzung“ zur K 87 und zur B 420 benutzt werde. Dies gelte jedoch nicht für den überörtlichen Berufsverkehr, denn dieser benutze die L 410 und die K 87. Die bauliche Ausgestaltung der Straße sei Sache des Straßenbaulastträgers. Der Orts-gemeinderat habe bauliche Maßnahmen mit Beschluss vom 19. März 2007 abgelehnt. Im Übrigen seien die Bäume im Straßenverlauf wechselseitig gepflanzt worden. In den verbliebenen Zwischenräumen seien die Parkflächen ebenfalls wechselseitig angebracht worden. Dies entspreche dem Zustand in allen anderen verkehrsberuhigten Straßen.
Gegen eine Anordnung einer Einbahnstraße spreche, dass die Verkehrsteilnehmer ohne den zu erwartenden Gegenverkehr schneller fahren würden. In der parallel verlaufenden P.-Straße sei ebenfalls ein verkehrsberuhigter Bereich mit Gegenverkehr angeordnet. Dort liege der Kindergarten und dort sei eine wesentlich höhere Verkehrsdichte zu verzeichnen. Gegen die Anordnung des Verkehrszeichens Nr. 250 mit dem Zusatz „Anlieger frei“ spreche, dass es in der Praxis kaum Wirkung zeige und nicht wirkungsvoll kontrolliert werden könne.
Während des Klageverfahrens hat die Beklagte am 7. April 2011 eine Verkehrszählung an der Kreuzung C. Straße/B.-Straße/J.-A.-Straße zwischen 6 und 20 Uhr durchgeführt. Demnach wurden 243 Fahrzeuge in 14 Stunden gezählt (129 in Richtung Westen und 114 in Richtung Osten). Nach Einschätzung der Beklagten entfielen davon 45 % auf den Anliegerverkehr aus der C. Straße und der J.-A.-Straße. Der Rest bestehe überwiegend aus Durchgangsverkehr von und zu den angrenzenden Neubaugebieten. Es gebe nur wenige Fahrzeuge, deren Kfz-Kennzeichen sich nicht dem Zulassungsbereich KH-Land zuordnen ließen. Durchgangsverkehr aus dem Landkreis Alzey und dem Donnersbergkreis finde nicht statt.
Die Kläger haben im Anschluss daran eine eigene Verkehrszählung vorgelegt, die sie an 68 Tagen in der Zeit vom 31. Januar 2011 bis 10. April 2011, allerdings nicht ganztägig, dafür aber auch an Wochenenden durchgeführt haben. Sie haben zu bestimmten Zeiten (vormittags und nachmittags) eine wesentlich höhere Verkehrsdichte (z.B. 25 Fahrzeuge in 15 Minuten oder 30 Fahrzeuge in 25 Minuten) festgestellt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Sitzungsniederschrift, die vor-gelegten Unterlagen der Beteiligten und die beigezogenen Verwaltungsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig.
Es handelt sich um eine Untätigkeits-Verpflichtungsklage gemäß § 75 VwGO. Danach ist eine Verpflichtungsklage auch ohne Vorverfahren statthaft, wenn ein Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden wurde. Der Antrag der Kläger liegt in dem Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 9. Januar 2009, dem der Entwurf einer Klageschrift vom gleichen Tage beigefügt war. Zwar richtete sich der Klageentwurf nur an die Ortsgemeinde F. Jedoch war das Anschreiben ausdrücklich an den Bürgermeister der Verbandsgemeinde Bad Kreuznach adressiert und im Text des Schreibens wurden sowohl die Verbandsgemeinde als auch die Ortsgemeinde angesprochen. Der Klageentwurf enthielt unter anderem auch Vorschläge zur Anordnung verkehrsrechtlicher Maßnahmen, die nur von der Beklagten als untere Verkehrsbehörde angeordnet werden können. Derartige Verkehrsmaßnahmen setzen den Erlass eines Verwaltungsaktes voraus. Über den Antrag der Kläger ist bis heute nicht entschieden worden.
Die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO ist ebenfalls zu bejahen. Die Kläger behaupten nicht, dass ihnen aus den Festsetzungen des Bebauungsplans ein verkehrsrechtlicher „Vollzugsanspruch“ zustehe (vgl. dazu OVG Greifswald, Beschluss vom 20.06.2005 – 1 L 488/04 –). Sie begehren auch nicht die Festsetzung eines verkehrsberuhigten Bereichs (vgl. dazu VGH Mannheim, Urteil vom 29.01.2009 – 5 S 149/08 –). Sie verlangen vielmehr die Anordnung „flankierender Verkehrsmaßnahmen“, die es ihnen ermöglichen sollen, den bereits vorhandenen verkehrsberuhigten Bereich in der J.-A.-Straße bestimmungsgemäß nutzen zu können. Das Verkehrszeichen 326-40 StVO a.F. bestimmt auf Vorder- und Rückseite den Beginn bzw. das Ende eines verkehrs-beruhigten Bereichs (heute Verkehrszeichen Nr. 325.1 und 325.2 StVO n.F.). Innerhalb des so gekennzeichneten Bereichs dürfen Fußgänger die Straße in ihrer ganzer Breite benutzen und Kinderspiele sind überall erlaubt. Autofahrer müssen Schrittgeschwindigkeit einhalten und dürfen die Fußgänger weder gefährden noch behindern (§ 42 Abs. 4 a StVO a.F. bzw. Erläuterung Nr. 12 zu Anlage 3 StVO n.F.). Die Kläger behaupten, dass eine ungefährdete Benutzung der gesamten Straßenbreite für sie als Fußgänger und insbesondere für ihre vier minderjährigen Kinder nicht möglich sei. Insoweit bestehe sogar Lebensgefahr. Von daher erscheint es nicht von vorne herein ausgeschlossen, dass ihnen ein Anspruch aus § 45 Abs. 1 Satz 1, Abs. 1 b Nr. 4 und Abs. 9 Satz 2 StVO auf ermessens-fehlerfreie Entscheidung bezüglich der Anordnung zusätzlicher verkehrsrechtlicher Maßnahmen zustehen könnte. Denn nach der Generalklausel des § 45 Abs. 1 Satz 1 StVO dürfen die Straßenverkehrsbehörden die Benutzung bestimmter Straßen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung des Verkehrs regeln. Es ist anerkannt, dass diese Vorschrift auch drittschützende Wirkung hat, soweit es um öffentlich-rechtlich geschützte Individualinteressen des Einzelnen geht (BVerwG, Urteil vom 03.07.1986 – 7 B 141/85 – NVwZ 1987, 411). Die Generalklausel wird konkretisiert durch § 45 Abs. 1 b) Nr. 4 StVO n.F., wonach die Straßenverkehrsbehörden insbesondere in verkehrsberuhigten Bereichen die notwendigen Anordnungen zur Erhaltung der Sicherheit oder Ordnung treffen können. Sie wird ferner ergänzt durch § 45 Abs. 9 Satz 1 und 2 StVO, wonach Beschränkungen des fließenden Verkehrs nur unter den dort genannten zusätzlichen Voraussetzungen möglich sind. Da zu den Schutzgütern der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auch der hier geltende gemachte Schutz der Individualrechtsgüter Leben und Gesundheit gehört, wäre die Klagebefugnis der Kläger nur dann eindeutig zu verneinen, wenn feststünde, dass keine geeigneten und verhältnismäßigen Verkehrsanordnungen in Betracht kämen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.09.2007 – 7 C 36.07 – Rdn. 33). Davon kann jedoch keine Rede sein, denn denkbar ist z.B. die Einführung einer Einbahnstraße oder einer Sackgasse.
Der Antrag ist auch nicht zu unbestimmt. Da die Beklagte im Rahmen des § 45 StVO ein Auswahlermessen hat, können die Kläger keine bestimmte Einzelmaßnahme einklagen.
Die Klage ist begründet. Wie bei jeder Klage auf behördliches Einschreiten hängt der Erfolg der Klage davon ab, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen einer drittschützenden Norm erfüllt sind und ob das Entschließungsermessen zugunsten des klagenden Bürgers reduziert ist. Dies ist hier der Fall.
Dass die hier maßgebenden Vorschriften drittschützende Wirkung haben, soweit es um den Individualgüterschutz der Anlieger geht, wurde bereits festgestellt. Dass die Kläger Anlieger an einem verkehrsberuhigten Bereich sind, ist unstreitig. Sie können die Anordnung zusätzlicher Verkehrszeichen oder Verkehrseinrichtungen zur effektiven Verkehrsberuhigung verlangen, weil die tatbestandlichen Voraussetzungen zum Einschreiten der Behörde, nämlich eine das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung erheblich übersteigende konkrete Gefahr für Leib und Leben vorliegt (§ 45 Abs. 1 Satz 1, Abs. 1 b Nr. 4 und Abs. 9 Satz 2 StVO) und weil das Entschließungsermessen zu ihren Gunsten reduziert ist, da eine bestimmungsgemäße Benutzung des verkehrsberuhigten Bereichs durch die Kläger und ihre Kinder (vgl. die Erläuterung zur Anlage 3, Nr. 12 StVO) unter den gegenwärtigen Umständen nicht möglich ist. Das Auswahlermessen hinsichtlich des geeigneten Mittels obliegt weiterhin der Beklagten; insoweit besteht aber ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung.
Zunächst ist festzuhalten, dass es hier nicht um Maßnahmen zur Geschwindigkeitsreduzierung geht. Das Erfordernis der Schrittgeschwindigkeit ergibt sich bereits aus dem Verkehrszeichen 326-40 StVO (a.F.) bzw. 325.1 und 325.2 StVO (n.F.). Außerdem hat die Beklagte ein – überflüssiges – Zusatzzeichen angebracht, mit dem die Autofahrer aufgefordert werden, Schritttempo zu fahren. Mehr kann die untere Verkehrsbehörde insoweit nicht veranlassen, denn eine Geschwindigkeit, die noch unter der Schrittgeschwindigkeit liegt, kann im fließenden Verkehr nicht angeordnet werden. Hinzu kommt, dass die Abwehr von Gefahren durch den Straßenverkehr wegen der Überschreitung zulässiger Höchstgeschwindigkeiten innerhalb geschlossener Ortschaften hier dem Polizeipräsidium und nicht der Beklagten obliegt (§ 7 Nr. 4 und Nr. 5 in Verbindung mit Anlage 4 der Landesverordnung über Zuständigkeiten auf dem Gebiet des Straßenverkehrs vom 12.03.1987, GVBl 1987, S. 46, zuletzt geändert durch Art. 2 der Verordnung vom 30.11.2010, GVBl 2010, S. 523).
Es geht daher nur um die Frage, ob Maßnahmen zur Reduzierung der Verkehrs-dichte anzuordnen sind, weil sie zwingend geboten sind (§ 45 Abs. 9 Satz 1 StVO). Da als „flankierende Maßnahmen“ nur Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs in Betracht kommen, setzt das nach § 45 Abs. 9 Satz 2 StVO zusätzlich voraus, dass auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in § 45 StVO genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. In einem verkehrsberuhigten Bereich, in dem Fußgänger die gesamte Straßenbreite benutzen und Kinder überall spielen dürfen, wird das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung auf Grund der örtlichen Verhältnisse nach Auffassung des Gerichts dann erheblich überschritten, wenn diese Benutzungsformen faktisch unmöglich oder nur mit ständigen Unterbrechungen möglich sind. Insoweit kann als Indiz auf die Zumutbarkeitskriterien im Zusammenhang mit der Straßenreinigungspflicht für Anlieger zurückgegriffen werden. Das OVG Rheinland-Pfalz hält die Übertragung der Fahrbahnreinigung auf die Anlieger wegen einer Gefahr für Leib und Leben für unzumutbar, wenn ein „relativ kontinuierlicher Verkehrsfluss“ vorhanden ist. Letzteres ist der Fall, wenn eine Fahrzeugfrequenz im Abstand von maximal 3 Minuten zu verzeichnen ist (OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 12.08.1999 – 1 C 10016/99.OVG –). Dies ist bereits bei 20 Fahrzeugen pro Stunde gegeben. Die genannte Rechtsprechung ist zur Straßenreinigung in einer „normalen“ Straße ergangen. Nach Auffassung der Kammer sind die genannten Anforderungen an die zumutbare Verkehrsdichte im Falle eines verkehrsberuhigten Bereichs aber deutlich zu verschärfen. Denn nach Ziffern 1 und 2 der Allgemeinen Verwaltungs-vorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO i.d.F. vom 17.07.2009) zu den Zeichen 325.1 und 325.2 muss die Aufenthaltsfunktion in einem verkehrs-beruhigten Bereich überwiegen und der Fahrzeugverkehr darf nur eine untergeordnete Bedeutung haben. Daraus folgt, dass die Aufenthaltsfunktion schon dann unzumutbar erschwert wird, wenn eine Verkehrsdichte von mehr als 20 Fahrzeugen pro Stunde in den Stoßzeiten morgens und spätnachmittags erreicht oder überschritten wird und wenn an den übrigen Tageszeiten jedenfalls ein nicht völlig zu vernachlässigender Verkehr stattfindet.
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Die örtlichen Verhältnisse sind dadurch geprägt, dass der verkehrsberuhigte Bereich der J.-A.-Straße im Osten in den E. Weg einmündet, der die Zufahrt zu weiteren Baugebieten vermittelt. Im Westen führt er über die geradlinige Verlängerung der C. Straße unmittelbar zur K. Straße (Ortsdurchfahrt der K 27) und nach deren Überquerung schräg zur B 420. Diese besondere Situation (geradlinige Streckenführung mit Anschluss an eine überörtlich bedeutsame Bundesstraße) bedingt bereits einen Durchgangsverkehr, der das allgemeine Risiko der Benutzung eines verkehrsberuhigten Bereichs erheblich übersteigt. Nach den Erfahrungen des Gerichts ist es nämlich nicht üblich, die geradlinige Verbindung zwischen einer überörtlichen Bundesstraße und innerörtlichen Baugebieten (fast vollständig) als verkehrsberuhigten Bereich festzusetzen.
Erhärtet wird dieser Befund durch die eigene Verkehrszählung der Beklagten vom 7. April 2011. Aus dieser amtlichen Verkehrszählung folgt, dass an dem besagten Tage in der Zeit von 6 Uhr bis 20 Uhr pro Stunde durchschnittlich 17,35 Fahrzeuge die J.-A.-Straße befahren haben. Die Spitzenwerte erreichen sogar 30 bzw. 37 Fahrzeuge pro Stunde. Wie die Beklagte selbst einräumt, sind über die Hälfte des Fahrzeugaufkommens dem Durchgangsverkehr zuzurechnen. Damit wurde am Tage der Verkehrszählung eine Situation festgestellt, die schon sehr nahe an die Unzumutbarkeit einer Straßenreinigungspflicht für die Anlieger einer „normalen“ Straße heranreicht. Erst recht war die vom Gesetz vorgesehene Aufenthaltsfunktion des verkehrsberuhigten Bereichs für Fußgänger und spielende Kinder nicht gewährleistet.
Dies wird ferner bestätigt durch die private Verkehrszählung der Kläger. Auch wenn diese Zählung nicht ganztägig durchgeführt wurde, ergibt sich aus den z.T. mehrfachen Messungen an insgesamt 68 Tagen, darunter auch an Wochenenden, eine Verkehrsdichte, die mit der Aufenthaltsfunktion eines verkehrsberuhigten Bereichs unvereinbar ist. Teilweise wurden Spitzenwerte gemessen, die selbst eine Straßenreinigung durch die Anlieger unzumutbar machen würden. Interessant ist, dass nach den Beobachtungen der Kläger am Tage der amtlichen Verkehrszählung (7. April 2011) ein aus ihrer Sicht auffallend geringer Kraftfahrzeugverkehr und ein auffallend hoher Fahrradverkehr zu verzeichnen war. Die Kläger führen dies darauf zurück, dass sich die Verkehrszählung an jenem Tage herumgesprochen habe und dass diejenigen, die an der Beibehaltung des status quo interessiert seien, bewusst andere Strecken benutzt hätten oder mit dem Fahrrad gefahren seien.
Das Entschließungsermessen der Beklagten ist zu Gunsten der Kläger reduziert. Die Kläger haben 20 Beinah-Unfälle seit Klageerhebung geschildert. Die Beklagte hat dem nicht widersprochen. Die Kammer hat keine Anhaltpunkte, um an dem Wahrheitsgehalt der Schilderungen zu zweifeln. Es ist daher davon auszugehen, dass auch eine individuelle Betroffenheit der Kläger und ihrer Kinder hinsichtlich der Schutzgüter Leben und Gesundheit gegeben ist.
Gegen dieses Ergebnis kann die Beklagte nicht einwenden, dass die Verkehrsdichte in anderen verkehrsberuhigten Bereichen der Ortsgemeinde F. genau so groß oder noch größer sei. Wenn dies zutrifft, dann folgt daraus nur, dass die anderen Bereiche den rechtlichen Anforderungen ebenfalls nicht genügen. Eine Gleichbehandlung im Unrecht wird von Art. 3 Abs. 1 GG nicht gedeckt.
Die Beklagte wird also durch geeignete verkehrsrechtliche Maßnahmen dafür sorgen müssen, dass der fließende Verkehr in der J.-A.-Straße auch tatsächlich beruhigt wird. Insoweit steht ihr ein Auswahlermessen hinsichtlich der zu ergreifenden Maßnahmen (z.B. die Einführung einer Einbahnstraße oder einer Sackgasse oder Ähnliches) zu. Das Gericht weist vorsorglich darauf hin, dass die Beklagte hierüber in eigener Zuständigkeit – notfalls auch gegen den Willen der Ortsgemeinde - zu entscheiden hat. Die Kläger haben ein Recht auf ermessens-fehlerfreie Auswahlentscheidung.
Unabhängig davon ist die Beklagte nicht gehindert, daneben auch darauf hinzuwirken, dass die Ortsgemeinde F. im Rahmen ihrer Straßenbaulast zusätzliche gestalterische Maßnahmen ergreift, um den Durchgangsverkehr so unattraktiv wie möglich zu machen. Letzteres ersetzt aber nicht die Pflicht der Beklagten zur Anordnung verkehrsrechtlicher Maßnahmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit wegen der Kosten folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.
Beschluss
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000 € festgesetzt (§§ 52, 63 Abs. 2 GKG).
Die Festsetzung des Streitwertes kann nach Maßgabe des § 68 Abs. 1 GKG mit der Beschwerde angefochten werden.