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OLG Karlsruhe Beschluss vom 02.08.2016 - 3 (4) SsRs 350/16 - AK 133/16 - Verletzung des rechtlichen Gehörs

OLG Karlsruhe v. 02.08.2016: Verletzung des rechtlichen Gehörs bei Abwesenheit des Betroffenen in der Hauptverhandlung


Das OLG Karlsruhe (Beschluss vom 02.08.2016 - 3 (4) SsRs 350/16 - AK 133/16) hat entschieden:
Eine Gehörsverletzung liegt nicht nur dann vor, wenn einem Betroffenen keine Möglichkeit eingeräumt wird, sich zu allen entscheidungserheblichen und für ihn nachteiligen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern, sondern auch dann, wenn das Gericht den Sachvortrag einer Partei aus unzulässigen verfahrensrechtlichen Gründen nicht zur Kenntnis nimmt. Dies ist der Fall, wenn sachliche Einwendungen des Betroffenen deshalb unberücksichtigt bleiben, weil bei seinem Ausbleiben in der Hauptverhandlung nicht in Abwesenheit des Betroffenen zur Sache verhandelt wird, obwohl die Voraussetzungen dafür nach § 74 Abs. 1 OWiG vorliegen.


Siehe auch Rechtliches Gehör und Säumnis des Betroffenen bzw. Angeklagten in der Hauptverhandlung im OWi- oder Strafverfahren


Gründe:

I.

Das Amtsgericht Mannheim hat mit Urteil vom 8.3.2016 den Einspruch des Betroffenen gegen den Bußgeldbescheid des Regierungspräsidiums K. - Zentrale Bußgeldstelle - vom 7.4.2015, mit welchem gegen ihn eine Geldbuße in Höhe von 100 Euro wegen Unterschreitung des erforderlichen Abstands zum vorausfahrenden Fahrzeug festgesetzt worden war, gemäß § 74 Abs. 2 OWiG als unzulässig verworfen. Zur Begründung der Entscheidung führt das Amtsgericht aus, der Betroffene sei zur Hauptverhandlung, ungeachtet der durch Postzustellungsurkunde vom 12.2.2016 nachgewiesenen Ladung, ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen.

Mit seiner gegen das Urteil vom 8.3.2016 gerichteten Rechtsbeschwerde, deren Zulassung er beantragt, macht der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts geltend und rügt einen Verstoß gegen seinen Anspruch auf rechtliches Gehör. Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe trägt mit Schrift vom 24.6.2016 auf die Verwerfung des Zulassungsantrags an. Dazu nahm der Verteidiger mit Schriftsatz vom 15.7.2016 Stellung.


II.

Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG zuzulassen, weil es geboten ist, das Urteil wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs aufzuheben.

1. Die Verfahrensrüge, mit der ein Verstoß gegen §§ 73 Abs. 2, 74 Abs. 2 OWiG und eine Verletzung des Gehörsrechts beanstandet wird, entspricht den Anforderungen der §§ 79 Abs. 3, 80 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Der Betroffene hat in noch ausreichender Weise dargelegt, warum das Gericht seinem Antrag auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen nach § 73 Abs. 2 StPO hätte stattgeben müssen (vgl. OLG Rostock, VRS 115, 138).

2. Die Rechtsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg, weil durch das angefochtene Urteil der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör verletzt worden ist. Eine Gehörsverletzung liegt nicht nur dann vor, wenn einem Betroffenen keine Möglichkeit eingeräumt wird, sich zu allen entscheidungserheblichen und für ihn nachteiligen Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern (vgl. Göhler, OWIG, 16. Auflage 2012, Rdn. 16 a zu § 80 m.w.N.), sondern auch dann, wenn das Gericht den Sachvortrag einer Partei aus unzulässigen verfahrensrechtlichen Gründen nicht zur Kenntnis nimmt. Dies ist der Fall, wenn sachliche Einwendungen des Betroffenen deshalb unberücksichtigt bleiben, weil bei seinem Ausbleiben in der Hauptverhandlung nicht in Abwesenheit des Betroffenen zur Sache verhandelt wird, obwohl die Voraussetzungen dafür nach § 74 Abs. 1 OWiG vorliegen. Diese sind auch dann gegeben, wenn das Gericht einen Antrag des Betroffenen, ihn gemäß § 73 Abs. 2 OWiG von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen zu entbinden, rechtsfehlerhaft abgelehnt oder nicht beschieden hat (vgl. OLG Karlsruhe, NStZ 2015, 407 m.w.N.).

Der Betroffene hatte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 16.2.2016 wirksam einen solchen Antrag gestellt. Der Verteidiger war durch vom 19.2.2015 datierende Vollmacht, die sich seit dem 12.11.2015 bei den Akten befindet, legitimiert, einen Entpflichtungsantrag für den Betroffenen bei Gericht anzubringen und ihn in der Erklärung und im Willen zu vertreten. Durch die genannte Urkunde wurde der Verteidiger ausdrücklich zur "Vertretung, insbesondere auch in meiner Abwesenheit" bevollmächtigt und darüber hinaus "ermächtigt, … Anträge auf Entbindung von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung zu stellen". Einer weitergehenden Konkretisierung bedurfte die Vertretungsvollmacht nicht (vgl. OLG Köln, NJW 1969, 705; Göhler, OWiG, 16. Aufl. 2012, Rdn. 4 und Rdn. 27 zu § 73; Rdn. 13 zu § 60; KK-​OWiG, 4. Aufl. 2014, Rdn. 41 zu § 73, jeweils m.w.N.). Der hier somit vertretungsberechtigte Verteidiger durfte im Rahmen des § 73 Abs. 2 OWiG auch schriftliche Erklärungen für den Betroffenen abgeben (OLG Stuttgart, ZfSch 2002, 252). Er hat daher mit dem genannten Schriftsatz vom 16.2.2016 ebenfalls wirksam für den Betroffenen die Fahrereigenschaft eingeräumt und erklärt, dass dieser sich unter keinen Umständen zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen äußern werde.

Nach § 73 Abs. 2 OWiG entbindet das Bußgeldgericht einen Betroffenen auf seinen Antrag hin von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung, wenn er sich zur Sache geäußert oder erklärt hat, dass er sich in der Hauptverhandlung nicht zur Sache äußern werde, und seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts nicht erforderlich ist. Die Entscheidung über den Entbindungsantrag ist dabei nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt; vielmehr ist es verpflichtet, diesem Antrag zu entsprechen, wenn die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen (KK-​OWiG, a.a.O., Rdn. 15 zu § 73 m.w.N.).

Aufgrund des Rechtsbeschwerdevorbringens ist davon auszugehen, dass dies hier der Fall ist. Aus dem lediglich formelhaft begründeten Urteil, welches sich nicht mit Einwendungen und Bedenken gegen eine Verwerfung des Einspruchs und insbesondere nicht mit dem Entpflichtungsantrag auseinandersetzt (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss v. 5.6.2012 - 2 (6) SsRs 279/12 - AK 73/12 -, juris Rdn. 5), ergibt sich nichts anderes.

Da dem Entpflichtungsantrag des Betroffenen somit hätte entsprochen werden müssen und § 73 Abs. 3 OWiG ihn nicht verpflichtete, sich durch einen bevollmächtigten Verteidiger vertreten zu lassen, war die Verwerfung seines Einspruchs rechtsfehlerhaft. Das Verteidigungsvorbringen des Betroffenen, der über das bloße Einräumen der Fahrereigenschaft hinaus - ausdrücklich - von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht und durch diese Art der Verteidigung den gegen ihn erhobenen Tatvorwurf im Übrigen bestritten hat, ist dadurch - seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzend - unberücksichtigt geblieben (vgl. OLG Brandenburg, NZV 2003, 432; OLG Hamm, VRS 107, 120; OLG Koblenz, NZV 2007, 587; OLG Rostock, VRS 115, 138; OLG Celle, DAR 2010, 708; OLG Bamberg, NZV 2013, 204).

Das angefochtene Urteil konnte danach keinen Bestand haben. Gemäß § 79 Abs. 6 OWiG war die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Mannheim zurückzuverweisen. Für eine Zurückverweisung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts bestand kein Anlass.