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OLG Bamberg Beschluss vom 05.09.2016 - 3 Ss OWi 1050/16 - Rohmessdaten und rechtliches Gehör
OLG Bamberg v. 05.09.2016: Überlassung der Rohmessdaten und rechtliches Gehör
Das OLG Bamberg (Beschluss vom 05.09.2016 - 3 Ss OWi 1050/16) hat entschieden:
Durch die bloße Nichtüberlassung der nicht zu den Akten gelangten sog. Rohmessdaten einer standardisierten Messung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGHSt 39, 291; 43, 277) wird der Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör von vornherein nicht beeinträchtigt (u.a. Anschluss an BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1983, 2 BvR 864/81, BVerfGE 63, 45 = NJW 1983, 1043 = StV 1983, 177 = NStZ 1983, 273 = MDR 1983, 548); BGH, Urteil vom 26. Mai 1981, 1 StR 48/81, BGHSt 30, 131 = NJW 1981, 2267 = NStZ 1981, 361 = StV 1981, 500 = MDR 1981, 860; Aufrechterhaltung von OLG Bamberg, Beschluss vom 4. April 2016, 3 Ss OWi 1444/15, DAR 2016, 337 = StRR 2016, 16; entgegen OLG Celle, Beschluss vom 16. Juni 2016, 1 Ss OWi 96/16).
Siehe auch Akteneinsichtsrecht in die Bedienungsanleitungen und Geschwndigkeitsmessungen
Gründe:
I.
Das Amtsgericht hat den Betroffenen am 14.06.2016 wegen fahrlässiger Überschreitung der außerhalb geschlossener Ortschaften zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 160 Euro verurteilt. Nach den Feststellungen befuhr der Betroffene am 18.12.2015 um 10.20 Uhr mit einem PKW eine Bundesstraße, wobei er die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h überschritt. Die mit dem Messgerät PoliScanspeed durchgeführte Geschwindigkeitsmessung ergab eine Geschwindigkeit von 88 km/h nach Abzug einer Messtoleranz von 3 km/h. Gegen diese Verurteilung wendet sich der Betroffene mit seinem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, mit welchem er die Verletzung rechtlichen Gehörs geltend macht, weil ihm entgegen seinem Antrag die „Tuff-Datei der Messung mit zugehörigem Token und Passwort, sowie die Falldatei mit einer digitalen Signatur“ nicht überlassen worden seien. Er ist der Auffassung, das Gericht hätte auf seinen Antrag die Verwaltungsbehörde zur Herausgabe an ihn veranlassen müssen.
II.
Da im angefochtenen Urteil lediglich eine Geldbuße von 160 Euro festgesetzt worden ist, darf die Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 OWiG nur zugelassen werden, wenn es geboten ist, die Nachprüfung des angefochtenen Urteils zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen oder das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.
1. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG) ist nicht gegeben.
a) Es kann dahinstehen, ob die insoweit erhobene Rüge überhaupt den formellen Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 80 Abs. 3 Satz 3 OWiG gerecht wird (vgl. zu diesem Erfordernis nur Göhler/Seitz OWiG 16. Aufl. § 80 Rn. 16a m.w.N.). Denn jedenfalls ist die Rüge unbegründet.
aa) Der Senat hat bereits entschieden, dass durch die bloße Nichtüberlassung der Rohmessdaten, die sich nicht bei den Akten, sondern - wie hier - bei der Verwaltungsbehörde befinden, der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) von vornherein nicht beeinträchtigt wird (OLG Bamberg, Beschluss vom 04.04.2016 - 3 Ss OWi 1444/15 = DAR 2016, 337= StRR 2016, 16). Denn durch den Grundsatz des rechtlichen Gehörs soll garantiert werden, dass einer Entscheidung nur Tatsachen zugrunde gelegt werden, zu denen der Betroffene Stellung nehmen konnte; einen Anspruch auf Aktenerweiterung vermittelt Art. 103 Abs. 1 GG dagegen nicht (OLG Bamberg a.a.O.; Cierniak ZfS 2012, 664, 670; Cierniak/Niehaus DAR 2014, 2, 4). Da das Amtsgericht aber gemäß § 261 StPO ausschließlich auf der Grundlage des in der Hauptverhandlung ausgebreiteten und abgehandelten Tatsachenstoffs entschieden und der Betroffene insoweit hinreichende Gelegenheit hatte, sich zu diesem Tatsachenstoff umfassend zu äußern, ist durch die Nichtüberlassung digitaler Messdateien und sonstiger Unterlagen, die das Gericht zu seiner Überzeugungsbildung gerade nicht herangezogen hat, ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht gegeben.
bb) Mit dieser Ansicht befindet sich der Senat im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.01.1983 - 2 BvR 864/81 = BVerfGE 63, 45 = NJW 1983, 1043 = StV 1983, 177 = NStZ 1983, 273 = MDR 1983, 548) und des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Urteil vom 26.05.1981 - 1 StR 48/81 = BGHSt 30, 131 = NJW 1981, 2267 = NStZ 1981, 361 = StV 1981, 500 = MDR 1981, 860). Das Bundesverfassungsgericht (a.a.O.) führt insoweit aus, der Anspruch auf rechtliches Gehör solle verhindern, dass das Gericht ihm bekannte, dem Beschuldigten aber verschlossene Sachverhalte zu dessen Nachteil verwerte. Der Schutzbereich des Art. 103 Abs. 1 GG sei hingegen nicht berührt, wenn es um die Frage gehe, ob das Gericht sich und den Prozessbeteiligten Kenntnis von Sachverhalten, die es selbst nicht kennt, erst zu verschaffen habe, weil es nicht Sinn und Zweck der Gewährleistung rechtlichen Gehörs sei, dem Beschuldigten Zugang zu dem Gericht nicht bekannten Tatsachen zu erzwingen. Der Bundesgerichtshof (a.a.O.), der zum gleichen Ergebnis gelangt war, hat insbesondere hervorgehoben, unter dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs sei nur das maßgeblich, was für das Urteil oder das Verfahren Bedeutung erlangt habe. Was darüber hinaus für die Sachentscheidung Bedeutung erlangen könnte, sei dagegen zunächst nur für die Frage der Aufklärungspflicht von Interesse.
b) Das Oberlandesgericht Celle (vgl. Beschluss vom 16.06.2016 - 1 Ss [OWi] 96/16 = VRR 2016, 16 = StRR 2016, 18) hat allerdings, wenn auch ohne nähere Begründung, in der Nichtüberlassung der (nicht bei den Akten befindlichen) Rohmessdaten einen Gehörsverstoß angenommen. Dem ist aus den dargelegten Gründen und insbesondere im Hinblick auf die zitierte höchstrichterliche Rechtsprechung nicht zu folgen.
c) Der Senat kann trotz der Abweichung von der zitierten Entscheidung des OLG Celle sogleich entscheiden, ohne vorab die Sache dem Bundesgerichtshof nach § 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG i.V.m. §§ 79 Abs. 3 Satz 1, 80 Abs. 3 Satz 1 OWiG vorzulegen.
aa) Zwar weicht der Senat in entscheidungserheblicher Weise von der Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle (a.a.O.) ab. Die Verpflichtung zur Divergenzvorlage entfällt auch nicht deshalb, weil das Oberlandesgericht Celle seinerseits schon gegen die Verpflichtung zur Vorlage der Sache an den Bundesgerichtshof verstoßen hat, weil es von der bereits vorher ergangenen Entscheidung des OLG Bamberg vom 04.04.2016 (a.a.O.) abgewichen ist. Denn die Verpflichtung zur Vorlage durch den Senat wird nach dem Normtext aber auch nach dem Sinn und Zweck des § 121 Abs. 2 GVG, der der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung dienen soll (vgl. BGH, Beschluss vom 21.03.2000 - 4 StR 287/99 = BGHSt 46, 17 = NJW 2000, 1880 = NZA 2000, 558 = wistra 2000, 273), nicht etwa dadurch berührt, dass die Entscheidung des anderen Oberlandesgerichts - unter Verletzung der Vorlegungspflicht - abweichend von einer früheren Entscheidung des Senats ergangen ist.
bb) Indes besteht eine Vorlagepflicht deshalb nicht, weil - wie aufgezeigt - sich der Senat mit seiner Entscheidung im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundeverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs befindet, die relevante Frage des Gehörsverstoßes in Fällen der vorliegenden Art mithin bereits höchstrichterlich geklärt ist (zur Unzulässigkeit der Divergenzvorlage in solchen Fällen vgl. BGH, Beschlüsse vom 30.10.1997 - 4 StR 24/97 = BGHSt 43, 277 = NJW 1998, 321 = MDR 1998, 214 = NZV 1998, 120 = DAR 1998, 110; vom 11.09.1997 - 4 StR 638/96 = BGHSt 43, 241 = NJW 1997, 3252 = MDR 1997, 1024 = ZfS 1997, 432 = DAR 1997, 450 = NZV 1997, 525 und vom 21.03.2000 - 4 StR 287/99 = BGHSt 46, 17 = NJW 2000, 1880 = NZA 2000, 558 = wistra 2000, 273).
2. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG infrage. Dies ist schon deshalb zu verneinen, weil der Senat in seinem Beschluss vom 04.04.2016 (a.a.O.) entschieden hat, dass die Ablehnung eines Antrags der Verteidigung auf Einsichtnahme in die digitale Messdatei und deren Überlassung einschließlich etwaiger sog. Rohmessdaten auch im Übrigen nicht rechtsfehlerhaft ist, insbesondere auch nicht gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens verstößt, wenn sich der Tatrichter aufgrund der Beweisaufnahme davon überzeugt hat, dass die Voraussetzungen eines sog. standardisierten Messverfahrens eingehalten wurden (zustimmend König DAR 2016, 362, 371).
III.
Infolge der Verwerfung des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 4 Sätze 1 und 3 OWiG gilt die Rechtsbeschwerde als zurückgenommen (§ 80 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 Satz 4 OWiG).
IV.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG.