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BGH Beschluss vom 13.09.2016 - VI ZR 377/14 - Hinweispflicht bei Streit über die Höhe von Pflegekosten

BGH v. 13.09.2016: Hinweispflicht bei Streit über die Höhe von Pflegekosten


Der BGH (Beschluss vom 13.09.2016 - VI ZR 377/14) hat entschieden:
Haben die Parteien in zwei Instanzen lediglich darüber gestritten, ob es kostengünstigere Pflegedienste als die von der Klägerin eingesetzten gebe und will das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung überraschenderweise davon ausgehen, dass es im Rahmen der Schadensminderungspflicht zumutbar gewesen wäre, die Pflegeleistungen in Eigenregie zu koordinieren, ist zur Vermeidung einer Verletzung des rechtlichen Gehörs ein rechtlicher Hinweis erforderlich.


Siehe auch Vermehrte Bedürfnisse nach Unfallverletzungen und bei Personenschaden und Stichwörter zum Thema Personenschaden


Gründe:

I.

Die Klägerin verlangt vom Kraftfahrzeughaftpflichtversicherer der Schädigerin Ersatz des Schadens aus einem Unfall vom 27. Juni 2001. Die Versicherungsnehmerin der Beklagten überfuhr die damals 36jährige, auf dem Gehweg stehende Mutter von zwei Kindern. Infolge des Unfalls erlitt die Klägerin eine hohe Querschnittslähmung (Tetraplegie). Sie ist seither im höchsten Maße hilfs- und pflegebedürftig und wird in einem behindertengerechten Eigenheim durch einen Pflegedienst täglich 24 Stunden betreut. Eine bei der Klägerin diagnostizierte autonome Dysreflexie macht ein schnelles Eingreifen und Fremdkatheterisieren durch Pflegepersonal notwendig. Zwischen den Parteien ist allein die Höhe des Schadensersatzes - Pflegekosten und Haushaltsführungsschaden - streitig.

Die vom Pflegedienst seit 2002 abgerechneten Pflegekosten für die Klägerin beliefen sich abzüglich der Leistungen der Pflegekasse monatlich auf rund 13.500 €. Bis März 2004 zahlte die Beklagte die abgerechneten Kosten. Im September 2004 teilte der Pflegedienst der Klägerin mit, dass die Beklagte die weitere Kostenübernahme in dieser Höhe ablehne. Die Klägerin erhob Klage und erstritt zeitgleich den Erlass einer einstweiligen Verfügung, wonach der Beklagten aufgegeben wird, bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens die monatlichen Rechnungen des Pflegedienstes zu begleichen. Dem kommt die Beklagte nach.

Die Klägerin trägt vor, sie sei zu ihrer persönlichen Betreuung und Pflege auf eine 24-​Stunden-​Pflege angewiesen. Darüber hinaus macht sie einen Haushaltsführungsschaden von 1.225 € monatlich geltend.

Nach Auffassung der Beklagten ist der Betreuungsbedarf der Klägerin weitaus niedriger. Gleiches gelte für den Haushaltsführungsschaden. Sie beruft sich zudem auf eine versicherungsvertraglich vereinbarte Haftpflichthöchstsumme von 7,5 Mio. €.

Das Landgericht hat der am 14. September 2004 eingereichten Klage mit Urteil vom 19. Dezember 2008 stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten und Anschlussberufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht durch Urteil vom 14. August 2014, das in Juris veröffentlich ist, das landgerichtliche Urteil teilweise abgeändert. Es hat nach Erledigungserklärung festgestellt, dass der Klägerin für den streitgegenständlichen Zeitraum von April 2004 bis Oktober 2010 Schadensersatz in Höhe von 753.260 € unter Zugrundelegung eines Tagessatzes für Pflegeleistungen in Höhe von 420 € zugestanden habe (anstelle geltend gemachter 1.115.624 €). Weiter hat das Berufungsgericht die Einstandspflicht der Beklagten für künftigen materiellen Schaden, insbesondere für Pflege und Haushaltsführung, beschränkt auf die Haftpflichtdeckungssumme von 7,5 Mio. € festgestellt. Die Klage betreffend den Haushaltsführungsschaden für den Zeitraum vom 1. Januar 2003 bis zum 30. November 2010 hat das Berufungsgericht in der Sache abgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Hiergegen richten sich die von beiden Parteien erhobenen Nichtzulassungsbeschwerden.


II.

1. Das Berufungsgericht hat im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagte sei verpflichtet, den durch die Behinderung der Klägerin verursachten Mehrbedarf durch eine Geldrente auszugleichen (§ 7 StVG, §§ 843 Abs. 1, 823 Abs. 1 BGB).

Die Bestimmung der Höhe des Pflegegeldes liege im tatrichterlichen Ermessen Die Klägerin könne für die streitgegenständlichen Zeiträume einen durchschnittlichen Stundensatz von 17,50 €, somit einen Tagessatz von 420,00 € beanspruchen. Die Klägerin lebe in einem Haus mit ihrer Familie und wolle dies auch so beibehalten. Das hier durchgeführte Modell einer "Rundum"-​Pflege nur einer Person durch mehrere bezahlte Pflegekräfte unter Übertragung auch des Organisationsaufwandes auf einen ebenfalls bezahlten Pflegedienst sei allerdings wirtschaftlich weit ungünstiger als eine ebensolche Pflege in einem dafür eingerichteten Pflegeheim und auch teurer als das Modell des eigenen Budgets, bei dem die Anstellung und Koordination der Pflegekräfte durch den Verletzten oder dessen Angehörige vorgenommen werde und die Gewinnspanne und die Verwaltungskosten des Pflegedienstes entfielen. Allenfalls seien Kosten einer zusätzlichen Mühewaltung gegenüber den Angehörigen angemessen auszugleichen. Der Wiederherstellungsgrundsatz gelte nicht uneingeschränkt. Er werde dadurch begrenzt, dass erstattungsfähig nur Dispositionen seien, die ein verständiger Geschädigter in der gegebenen Lage treffen würde. Die persönliche Lebensgestaltung finde zudem eine Einschränkung durch das Zumutbarkeitskriterium gegenüber der Versichertengemeinschaft, § 254 BGB. Organisationskosten oder Gewinnmargen des Pflegedienstes könnten angesichts der wesentlich günstigeren Möglichkeiten einer Organisation der Pflege in einem Heim oder auch der Möglichkeit eines persönlichen Budgets bei eigener Organisation einer häuslichen Pflege nicht verlangt werden. Die Tochter der Klägerin sei als Diplombetriebswirtin in einer Personalabteilung, der Sohn als Verkaufssachbearbeiter tätig. Beide Kinder besäßen durch ihre Berufstätigkeit Verwaltungserfahrung. Die Haltung der Klägerin, jede Unterstützung ihrer Kinder, also auch die Unterstützung bei der Anstellung eigener Pflegekräfte, für unzumutbar zu halten, widerspreche dem anzulegenden Maßstab der Entscheidungen eines vernünftigen Geschädigten und sei der Versichertengemeinschaft bei der Gegenüberstellung erheblich geringerer Heimkosten nicht zumutbar. Der Senat halte es für lebensnah, dass sich die im Haus der Klägerin wohnenden Kinder einem Wunsch ihrer schwer beeinträchtigten Mutter, sie bei der Organisation eines Pflegedienstes zu unterstützen, nicht weiter verschließen würden. Dem Nachteil, dass die Klägerin selbst für die Funktionsfähigkeit ihres Pflegearrangements verantwortlich sei, würde der Vorteil eines größeren Verhandlungsspielraums und auch der Einsparung von Organisationskosten und Gewinnmargen gegenüberstehen. Qualitätssicherung sei auch bei der von der Klägerin gewählten Betreuung durch einen professionellen Pflegedienst nicht grundsätzlich gewährleistet. Konkret habe die Sachverständige derzeit eine fehlende Ordnung der pflegerischen Interaktion gerügt, kaum erkennbare geplante, problemorientierte oder präventive Aktionen auf Grund pflegerischen Sachverstandes genannt, ein nur standardisiertes Vorgehen, kein logisches Ineinandergreifen pflegerischen Handelns bei teils seit Jahren erkennbaren Problemlagen, einen mangelnden Aushandlungsprozess zwischen Pflegekraft und Betroffener und eine zeitweise "klassische Überversorgung" der Klägerin festgestellt.

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hat teilweise Erfolg und führt gem. § 544 Abs. 7 ZPO zur Teilaufhebung des angegriffenen Urteils, soweit die Klage hinsichtlich der Pflegekosten abgewiesen worden ist, und insoweit zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.

Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, dass das Berufungsgericht bei der Bestimmung der zu ersetzenden Pflegekosten eine mit Art. 103 Abs. 1 GG nicht vereinbare Überraschungsentscheidung getroffen hat, indem es ohne vorherigen Hinweis bei seiner Schätzung gem. § 287 ZPO auf eine eigene Organisation der Pflegeleistungen durch die Klägerin bzw. deren Kinder abgestellt hat, und das Urteil somit auf einem Gehörsverstoß beruht.

a) Gerichtliche Hinweispflichten dienen der Vermeidung von Überraschungsentscheidungen und konkretisieren den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör (BVerfGE 84, 188, 189 f.; BGH, Beschluss vom 23. Oktober 2013 - IV ZR 122/13, VersR 2014, 398, 399; Beschluss vom 5. Dezember 2012 - IV ZR 188/12, Juris Rn. 7; Beschluss vom 15. März 2006 - IV ZR 32/05, NJW-​RR 2006, 937). Diese in Art.103 Abs.1 GG normierte Gewährleistung stellt eine Ausprägung des Rechtsstaatsgedankens für das gerichtliche Verfahren dar. Hieraus folgt insbesondere, dass eine in erster Instanz siegreiche Partei darauf vertrauen darf, vom Berufungsgericht rechtzeitig einen Hinweis zu erhalten, wenn dieses in einem entscheidungserheblichen Punkt der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will und aufgrund seiner abweichenden Ansicht eine Ergänzung des Vorbringens oder ein Beweisantritt erforderlich wäre (BGH, Beschluss vom 15. März 2006 - IV ZR 32/05, NJW-​RR 2006, 937, 938; vom 10.Juli 2012 - II ZR 212/10, NJW 2012, 3035 Rn. 6). Zwar bedarf es trotz günstiger erstinstanzlicher Entscheidung keines gerichtlichen Hinweises an eine Partei, wenn zwischen den Parteien in der Berufung über einen Streitpunkt - hier Höhe des Schadensersatzes bzw. Pflegegeldsatzes pro Tag - eine zentrale Auseinandersetzung geführt wird. Die in erster Instanz siegreiche Partei muss damit rechnen, dass sich das Gericht der Ansicht des Prozessgegners anschließt (BGH, Beschluss vom 10. Juli 2012 - II ZR 212/10, NJW 2012, 3035 Rn. 7). Dass die Parteien zum zentralen Punkt der Schadenshöhe streitig verhandeln, befreit das Gericht aber nicht von seiner Pflicht, darauf hinzuweisen, dass es für die Ermittlung und Schätzung der Schadenshöhe auf einen nicht vorgetragenen und nicht erörterten tatsächlichen Umstand abstellen will (vgl. Greger, in: Zöller, ZPO, 31. Aufl., 2016, § 139 Rn. 18).

b) Nach diesen Maßstäben ist Art. 103 Abs. 1 GG hier verletzt. Das Landgericht hat der Klage auf Ersatz der geltend gemachten Pflegekosten vollständig stattgegeben. Das Berufungsgericht hat - im Rahmen seiner Schätzung nach § 287 ZPO - den Tagessatz auf durchschnittlich 420,00 € reduziert. Es hat zu Recht die vom derzeit beauftragten Pflegedienst vorgelegten Abrechnungen einer kritischen Prüfung unterzogen, denn unter dem Gesichtspunkt der Summenbegrenzung im Rahmen des Haftpflichtversicherungsschutzes ist im Hinblick auf eine etwaige Überschreitung auch zum Schutz der Klägerin ein kostenbewusster Umgang mit den möglichen Schadensersatzleistungen erforderlich. Zu Recht weist die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin aber darauf hin, dass zu keinem Zeitpunkt des seit 2004 laufenden Verfahrens die Beklagte vorgetragen habe, die Klägerin müsse - im Rahmen ihrer Schadensminderungspflicht - die Anstellung und Koordination der Pflegekräfte in Eigenregie regeln. Gegenstand der Diskussion sei nur gewesen, ob es günstigere Pflegedienste gebe. Das Berufungsgericht habe aber nie mitgeteilt, dass es auf die - mutmaßlich kostengünstigere - Möglichkeit der Eigenanstellung von Pflegekräften durch die Geschädigte abstellen wolle.

c) Die Entscheidung beruht auf der Gehörsverletzung. Wie die Beschwerde ausführt, hätte die Klägerin bei Kenntnis der Rechtsansicht des Berufungsgerichts zur Frage, ob sie in der Lage sei, die Hilfe selbst zu organisieren, Vortrag gehalten. Gleiches gilt für die Annahme des Berufungsgerichts, eine Selbstorganisation der Pflege könne die notwendige 24stündige Betreuung der Klägerin sicherstellen.


III.

Das angefochtene Urteil war deshalb teilweise aufzuheben. Die Sache war insoweit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dieses wird bei erneuter Befassung Gelegenheit haben, auch das weitere Vorbringen bezüglich der Pflegekosten im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin zu berücksichtigen und ggf. zu erwägen, ob zur Wahrnehmung der Rechte der Klägerin im Hinblick auf die etwaige Organisation der Pflege, das Risiko einer Überschreitung der Höchstsumme der Versicherungsleistung sowie die von der Sachverständigen beanstandeten Unzulänglichkeiten der Versorgung durch ungelernte Pflegekräfte die Bestellung eines (Berufs)betreuers in Betracht kommen könnte.

Die weitergehende Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin und die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten waren mangels Zulassungsgründen gem. § 543 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. Insoweit wird von einer Begründung abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist (§ 544 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO).