Das Verkehrslexikon

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OVG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 25.11.2016 - OVG 1 N 31.15 - Zur Rechtmässgkeit der Vorlagepflicht beim Fahrtenbuch

OVG Berlin-Brandenburg v. 25.11.2016: Zur Rechtmässgkeit der Vorlagepflicht bei der Fahrtenbuch-Auflage


Das OVG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 25.11.2016 - OVG 1 N 31.15) hat entschieden:
Die Aushändigungs- bzw. Vorlageverpflichtung ist untrennbar mit der Fahrtenbuchauflage verbunden, weil sich ohne die nachfolgende Vollzugskontrolle der mit der Fahrtenbuchauflage verfolgte Sicherungszweck nicht erreichen ließe. Wäre die straßenverkehrsbehördliche Aushändigungspflicht mit dem Hinweis auf die Selbstbeschuldigungsfreiheit abwendbar, könnte die Auflage ihren Sicherungszweck nicht mehr erfüllen.


Siehe auch Fahrtenbuch-Auflage - Fahrtenbuch führen und Dauer der Fahrtenbuchauflage


Gründe:

I.

Der Kläger wendet sich gegen seine Verpflichtung, dem Beklagten Einsicht in ein ihm bestandskräftig auferlegtes Fahrtenbuch zu gewähren. Nachdem der Kläger den ihm auferlegten Termin zur Vorlage seines von ihm ab 15. März 2013 für 24 Monate zu führenden Fahrtenbuches nicht wahrgenommen hatte, forderte der Beklagte ihn unter Androhung eines Zwangsgeldes mit Verfügung vom 9. Oktober 2013 auf, das Fahrtenbuch binnen 10 Tagen vorzulegen. Die dagegen erhobene Klage, mit der der Kläger geltend gemacht hat, er dürfe jedenfalls die Einsichtnahme in das von ihm persönlich am 16. Oktober 2013 zumindest vorgezeigte Fahrtenbuch wegen des Grundsatzes „nemo tenetur se ipsum accusare“ verweigern, hat das Verwaltungsgericht durch Urteil vom 23. Oktober 2014 abgewiesen. Bei der Fahrtenbuchauflage handele es sich um eine verkehrsrechtliche Maßnahme und nicht um eine Strafe, der Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechte gemäß §§ 52, 55 StPO entgegengehalten werden könnten.

II.

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Richtigkeitszweifel (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) und der grundsätzlichen Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) sind auf der Grundlage der Ausführungen des Klägers, die wegen des Darlegungserfordernisses (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) allein maßgeblich sind, nicht gegeben.

1. Der Zulassungsgrund ernstlicher Richtigkeitszweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegt nicht vor. Ernstliche Richtigkeitszweifel bestehen dann, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung der angegriffenen Entscheidung mit schlüssigen Argumenten infrage gestellt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juni 2000 - 1 BvR 830/00 - juris Rn. 15) und nicht nur die Begründung, sondern auch die Richtigkeit des Ergebnisses der Entscheidung Zweifeln unterliegt. Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben.

Der Kläger macht geltend, er berufe sich nicht allein auf §§ 52, 55 StPO, sondern auf den höherrangigen „nemo-​tenetur-​Grundsatz“. Dieser sei in seinem Einzelfall einschlägig, denn er hätte sich zum Zeitpunkt seiner Vorlageverpflichtung selbst einer unverjährten Ordnungswidrigkeit überführt. Der übergeordnete nemo- tenetur - Grundsatz sei in Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG sowie § 14 Abs. 3 lit. g IPBPR (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte) sowie in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK verankert und erlaube ihm ein Recht auf Passivität. Er müsse deshalb ihn belastende, gegen seine eigenen Interessen gerichtete Ermittlungsarbeiten der zuständigen Polizeibehörden nicht aktiv unterstützen. Dieser übergeordnete Grundsatz überwiege das Bedürfnis der Rechtsordnung nach der Ahndung von Verkehrsverstößen.

Den das angegriffene Urteil tragenden Rechtssatz stellt der Kläger mit diesem Vorbringen nicht in Frage. Den Kern der verwaltungsgerichtlichen Argumentation, dass es sich bei der Fahrtenbuchauflage (und der damit verbundenen Vorlagepflicht) um eine den strafprozessualen Grundsätzen nicht unterliegende, rein verkehrsrechtliche Gefahrenabwehrmaßnahme handelte, greift der Kläger damit nämlich nicht an. Vielmehr übersieht er, dass die auf § 31a Abs. 3 lit. a StVZO gestützte Pflicht des Klägers zur Aushändigung des Fahrtenbuchs allein der Vollzugskontrolle der angeordneten Fahrtenbuchauflage diente und nicht im Zuge eines Ermittlungsverfahrens wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit erging. Die Aushändigungsverpflichtung des § 31a Abs. 3 lit. a StVZO dient nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts allein der Kontrollierbarkeit und der Effizienz der Fahrtenbuchauflage und soll den mit der Norm verfolgten Zweck der Erfüllung und Erhaltung der Ordnung und Sicherheit im Straßenverkehr (BVerwG, Beschluss vom 20. Juli 1983 - 7 B 96.82 - juris Rn. 2) sicherstellen (Haus, in: Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 1. Aufl. 2014, § 31 StVZO Rn. 96).

Ungeachtet dessen unterliegt das angegriffene Urteil aber im Ergebnis auch keinen Richtigkeitszweifeln. Zwar vermittelt der „nemo-​tenetur-​Grundsatz“ auch ein „Recht auf Passivität“, d.h. auf Mitwirkungsfreiheit, denn der aus Art 2 Abs. 1 i.V.m. Art 1 Abs. 1 GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht und Recht auf ein faires Verfahren) fließende Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit umfasst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Recht des Beschuldigten auf Aussage- und Entschließungsfreiheit sowie das Recht, sich im Rahmen des Strafverfahrens bzw. Ordnungswidrigkeitenverfahrens nicht durch seine eigene Aussage bezichtigen oder zu seiner Überführung aktiv beitragen zu müssen (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 6. September 2016 – 2 BvR 890/16 – juris, nichtamtlicher Orientierungssatz 2b, Rn. 35).

Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist die Fahrtenbuchauflage jedoch mit höherrangigem Recht und dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit vereinbar und verstößt insbesondere nicht gegen Aussageverweigerungsrechte bzw. den Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit. Bereits mit Beschluss vom 7. Dezember 1981 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden: „§ 31a StVZO verstößt auch insoweit nicht gegen Art. 2 Abs. 1 oder Art. 1 GG, als er dem Fahrzeughalter mit der Pflicht zur Führung eines Fahrtenbuchs eine Mitwirkung bei der Erfüllung der zur Erhaltung der Ordnung und Sicherheit im Straßenverkehr zu treffenden Maßnahmen, möglicherweise auch bei der Ahndung eines Verkehrsverstoßes als Ordnungswidrigkeit oder als Straftat, auferlegt. Wer selbst die Freiheit des Straßenverkehrs in Anspruch nimmt und seine Sicherheit gewährleistet wissen will, dem können in den Grenzen der Grundrechte und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auch Mitwirkungspflichten auferlegt werden, die gerade der Gewährleistung dieser Freiheit und Sicherheit für alle zu dienen bestimmt und geeignet sind. Allein durch die hier in Rede stehende - in erster Linie polizeilich begründete - Mitwirkungspflicht werden etwaige Aussageverweigerungsrechte und Zeugnisverweigerungsrechte in Ordnungswidrigkeitenverfahren oder Strafverfahren sowie auch mögliche entsprechende Rechte in verwaltungsbehördlichen Verfahren noch nicht berührt“ (BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 1981 - 2 BvR 1172/81 - juris Rn. 7 m.w.N.; außerdem BVerwG, Beschluss vom 20. Juli 1983 - 7 B 96.82 - juris Rn. 2). Auch unter der Voraussetzung, dass der verfassungsrechtliche Schutz gegen Selbstbezichtigungen auch den Schutz davor umfassen sollte, eine Ordnungswidrigkeit nicht aufdecken zu müssen, wäre damit eine Fahrtenbuchauflage vereinbar (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. August 1999 - 3 B 96.99 - juris Rn. 3). Insbesondere wird damit nicht in rechtlich unzulässiger Weise der Boden bereitet für einen zukünftigen Zwang zur Mitwirkung an der Überführung eines Täters einer Ordnungswidrigkeit. Die Verfassung schützt grundsätzlich nicht davor, dass aus zulässigen Buchführungspflichten Erkenntnisse über die Täter von Verkehrsordnungswidrigkeiten abgeleitet werden, auch wenn es sich dabei um den Aufzeichnenden selbst oder jemanden handelt, hinsichtlich dessen dem Aufzeichnenden ein Aussageverweigerungsrecht zusteht (BVerwG, Beschluss vom 11. August 1999 - 3 B 96.99 - juris Rn. 3).

Diese nicht ausdrücklich zwischen Auflagenerteilung und Aushändigungs- bzw. Vorlageanordnung unterscheidende Rechtsprechung gilt allerdings denknotwendig auch für die Kontrolle des Vollzugs der Fahrtenbuchauflage. Die Aushändigungs- bzw. Vorlageverpflichtung ist nämlich untrennbar mit der Fahrtenbuchauflage verbunden, weil sich ohne die nachfolgende Vollzugskontrolle der mit der Fahrtenbuchauflage verfolgte Sicherungszweck nicht erreichen ließe. Die Auflage, gemäß § 31 a StVZO ein Fahrtenbuch zu führen, ist keine Strafe, sondern eine verkehrsrechtliche Maßnahme; sie dient unmittelbar der Sicherheit und Ordnung des Straßenverkehrs. Darum ist die Pflicht des Fahrzeughalters, das Fahrtenbuch samt den vorgeschriebenen Eintragungen zur Einsicht der Straßenverkehrsbehörde bereitzuhalten, schon durch die Fahrtenbuchauflage selbst begründet: Nach § 31a Satz 3 StVZO ist das Fahrtenbuch bis zu sechs Monaten nach Abschluss der Zeit, für die es geführt werden muss, aufzubewahren; es ist den zuständigen Personen auf Verlangen jederzeit zur Prüfung auszuhändigen. Die Straßenverkehrsbehörde kann die Erfüllung dieser öffentlich-​rechtlichen Pflicht gegebenenfalls mit den Mitteln des Verwaltungsvollstreckungsrechts durchsetzen. Der Anwendung und Beachtung strafprozessualer Befugnisse und deren Einschränkungen bedarf es dazu nicht (BVerwG, Beschluss vom 4. März 1981 - 7 B 17.81 - juris Rn. 4).

Wäre die straßenverkehrsbehördliche Aushändigungspflicht mit dem Hinweis auf die Selbstbeschuldigungsfreiheit abwendbar, könnte die Auflage ihren Sicherungszweck nicht mehr erfüllen. Ob und wieweit auf die Aushändigung des Fahrtenbuchs gegen den Verpflichteten ein – dann anderen prozessualen Grundsätzen folgendes - Ermittlungsverfahren wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit anschließt, ist jedenfalls - wie hier - zu dem Zeitpunkt der Vorlageverfügung offen und hindert die Vorlagepflicht nicht.

Gleiches gilt für das aus Art. 14 Abs. 3 lit. g IPBPR und Art. 6 Abs. 1 EMRK abgeleitete Recht auf Selbstbeschuldigungsfreiheit, welches zudem dort nur als Mindestgarantie im Rahmen eines repressiven Strafverfahrens garantiert wird (Art. 14 Abs. 3 lit. G IPBPR), nicht aber für das präventiv-​gefahrenabwehrrechtliche Verfahren.

2. Die Berufung ist auch nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten zuzulassen. Der Zulassungsgrund besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten setzt eine solche qualifizierte Schwierigkeit der Rechtssache mit Auswirkung auf die Einschätzung der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung voraus, dass sie sich in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht signifikant von dem Spektrum der in verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu entscheidenden Streitfälle unterscheidet. Diese Anforderungen sind erfüllt, wenn aufgrund des Zulassungsvorbringens keine Prognose über den Erfolg des Rechtsmittels getroffen werden kann, dieser vielmehr als offen bezeichnet werden muss. Dies ist jedoch nicht der Fall, da die vom Kläger geltend gemachten ernstlichen Richtigkeitszweifel am Ergebnis der erstinstanzlichen Entscheidung nicht vorliegen, wie vorstehend unter II.1. bereits dargelegt.

3. Die Berufung ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen. Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache setzt voraus, dass eine bisher weder höchstrichterlich noch obergerichtlich beantwortete konkrete und zugleich entscheidungserhebliche Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen und erläutert wird, warum sie über den Einzelfall hinaus bedeutsam ist und im Interesse der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung der Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf (siehe BVerfG, Kammerbeschluss vom 24. Januar 2007 - 1 BvR 382/05 - juris Rn. 25; OVG Berlin-​Brandenburg, Beschluss vom 30. Januar 2014 - OVG 7 N 34.13 -).

Der Kläger hält es sinngemäß für grundsätzlich bedeutsam und klärungsbedürftig, ob die Pflicht zur Vorlage eines rechtskräftig auferlegten und geführten Fahrtenbuches auch dann besteht, wenn sich der Verpflichtete durch die konkreten Eintragungen im Fahrtenbuch selbst einer Ordnungswidrigkeit bezichtigen würde. Mit der bereits dargelegten ständigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung, die innerhalb des präventiv-​gefahrenabwehrrechtlichen straßenverkehrsbehördlichen Verfahrens eine solche Mitwirkungspflicht bejaht, ist diese Rechtsfrage jedoch grundsätzlich geklärt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 und 3 GKG. Gemäß Ziffer 1.7.2 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (i.d.F. vom 31.05./01.06.2012 und der am 18. Juli 2013 beschlossenen Änderung, NVwZ-​Beilage, Heft 2, S. 57 ff.) bleibt das mit der Vorlageanordnung zugleich angedrohte Zwangsgeld dabei außer Betracht.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).