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Landgericht Wiesbaden Urteil vom 27.09.2016 8 O 94/14 Unfall auf der Autobahn mit einem die Richtgeschwindigkeit überschreitenden Fahrzeug

LG Wiesbaden v. 27.09.2016: Unfall auf der Autobahn mit einem die Richtgeschwindigkeit überschreitenden Fahrzeug


Das Landgericht Wiesbaden (Urteil vom 27.09.2016 8 O 94/14) hat entschieden:
Der Fahrer, der die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h überschritten hat und aufgrund eines Fahrstreifenwechsel des Beklagten in einen Verkehrsunfall verwickelt wird, kann sich nicht auf die Unabwendbarkeit des Unfalls berufen, wenn er nicht nachweist, dass es auch bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h zu dem Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 17. März 1992, VI ZR 62/91). Die Betriebsgefahr des zu schnell Fahrenden kann nicht in vollem Umfang hinter dem Sorgfaltspflichtverstoß eines Spurwechslers zurücktreten; eine Mithaftung von 25 % erscheint angemessen.

Siehe auch Betriebsgefahr verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung und Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen


Tatbestand:

Die Klägerin macht gegen den Beklagten Ansprüche auf Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 05.07.2012 auf der A 3 in Fahrtrichtung Frankfurt am Main in Höhe von km 157,400 ereignet hat.

Die Klägerin war Versicherer des von dem Fahrer A. S. gesteuerten Pkw Renault Laguna mit dem damaligen Kennzeichen ..., deren Versicherungsnehmerin die ... AG war. Der Beklagte war Fahrzeugführer des Pkw BMW 3, amtliches ... .

Der Beklagte befuhr mit seinem Pkw die mittlere der drei Fahrspuren, während der Fahrzeugführer ... mit dem bei der Klägerin versicherten Fahrzeug den linken der drei Fahrspuren befuhr. Der Beklagte führte in der Absicht, die vor ihm langsamer fahrenden Fahrzeuge zu überholen, einen Fahrstreifenwechsel nach links durch, woraufhin das klägerische Fahrzeug auf das Fahrzeug des Beklagten auffuhr.

Die ... Versicherung AG, bei der es sich um die Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung des Beklagtenfahrzeugs handelt, regulierte den Schaden auf Klägerseite zu 75 %. Hierbei nahm sie folgende Berechnung vor:

Kosten der Beklagtenseite:

Fahrzeugschaden (Wiederbeschaffungswert abzüglich Restwert) € 8.899,16
Gutachterkosten € 820,76
Mietwagenkosten € 1.335,19
Überführungskosten € 30,00
Abschleppkosten € 200,44
Schadensabwicklung € 106,32 €
Gesamt € 11.391,87


Kosten der Klägerseite:

Fahrzeugschaden (Wiederbeschaffungswert abzüglich Restwert)
mit Anrechnung Selbstbeteiligung – 9.037,82 €

Von dem Fahrzeugschaden der Klägerseite in Höhe von 9.037,82 € erkannte sie einen Betrag von 75 % = 6.778,37 € an und rechnete mit einer Forderung in Höhe von 25 % des auf Beklagtenseite geltend gemachten Schadens in Höhe von 11.391,87 € = 2.847,97 € auf. Den sich hieraus ergebenden Betrag in Höhe von 3.930,40 € zahlte die Versicherung des Beklagten an die Klägerin.

Die Klägerin ist der Auffassung, die einfache Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs trete hinter dem groben Fehlverhalten des Beklagten zurück, so dass eine Mithaftung in Höhe von 25 % nicht anzusetzen sei.

Hinsichtlich der Schadenspositionen müssen sich der Beklagte ersparte eigene Aufwendungen in Höhe von 10 % bei den Mitwagenkosten anrechnen lassen.

Die Klägerin beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin einen Betrag in Höhe von 5.107,42 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.02.2013 zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er erwidert, der Führer des klägerischen Fahrzeugs sei mit einer Geschwindigkeit von mindestens 175 km/h auf der linken Fahrspur unterwegs gewesen, obwohl er habe erkennen müssen, dass der Verkehr auf der mittleren Fahrspur stockte und mit Überholmanövern zu rechnen gewesen sei.

Aufgrund der Überschreitung der Richtgeschwindigkeit sei eine Mithaftung von 25 % angemessen.

Das Gericht hat Beweis erhoben aufgrund des Beweisbeschlusses vom 16.09.2014 (Blatt 86 d. A.) durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens des Sachverständigen Dipl. Ing. J. B. nebst mündlicher Erläuterung sowie aufgrund Beweisbeschlusses vom 06.09.2016 (Blatt 161 d. A.) durch Vernehmung des Zeugen ... .

Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das schriftliche Gutachten des Sachverständigen Dipl. Ing. J. B. vom 01.08.2015 (Blatt 104 ff. d. A.) sowie auf das Protokoll der öffentlichen Sitzung vom 06.09.2016 (Blatt 161 ff. d. A.) verwiesen.


Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist nur in geringem Umfang begründet.

Die Klägerin hat gegen den Beklagten ans §§ 7, 18 StVG, 823 Abs. 1 BGB, 86 Ab 1 VVG einen Anspruch auf Schadensersatz eines restlichen Betrages von 53,72 €. Ein darüber hinaus gehender Ersatzanspruch besteht nicht.

Zwar ist der Unfall überwiegend durch das Fahrverhalten des Beklagten verursacht worden, der unstreitig einen Fahrstreifenwechsel vom mittleren auf den linken Fahrstreifen vornahm, wodurch es zum Auffahren des klägerischen Fahrzeugs kam.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht jedoch fest, dass der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h überschritten hat.

Wie der Sachverständige Dipl. Ing. B... in seinem Gutachten vom 01.08.2015 (Blatt 104 ff. d. A.) ausgeführt hat, betrug die Annäherungsgeschwindigkeit des klägerischen Fahrzeugs 170 +/- 10 km/h. Bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit von 130 km/h wäre der Unfall für den Fahrer des Klägerfahrzeugs nach den Feststellungen des Sachverständigen B... vermeidbar gewesen.

Die Feststellungen des Sachverständigen sind nachvollziehbar und überzeugend.

Der Sachverständige ist im Rahmen seiner Berechnung von einer Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs von 120 km/h ausgegangen. Dies entspricht dem Vortrag des Beklagten (Blatt 43 d. A.). Dass der Beklagte wesentlich langsamer gefahren, ist durch die Beweisaufnahme nicht bestätigt worden.

Der zur Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs vernommene Zeuge ..., der sich hinter dem Beklagtenfahrzeug auf der mittleren Fahrspur befand, konnte zu Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs keine Angaben machen und diese auch nicht einschätzen.

Der Sachverständige B... hat im Rahmen der Erläuterung seines Gutachtens angegeben, dass der Unfall bei Einhaltung der Richtgeschwindigkeit durch den Fahre des klägerischen Fahrzeugs selbst bei Zugrundelegung einer Geschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs von nur 100 bis 110 km/h noch vermeidbar gewesen wäre.

Damit steht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme fest, dass der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs die Richtgeschwindigkeit um mindestens 30 km/h überschritten hat.

Wird ein Kraftfahrer, der die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h überschritten hat, in einen Unfall verwickelt, so kann er sich, wenn er auf Ersatz des Unfallschadens in Anspruch genommen wird, nicht auf die Unabwendbarkeit des Unfalls berufen, es sei denn, er weist nach, dass es auch bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h zu dem Unfall mit vergleichbar schweren Folgen gekommen wäre (BGH, Urteil vom 17.03.1992, VI ZR 62/91). Nur wer die Richtgeschwindigkeit einhält, verhält sich als Idealfahrer; wer hingegen schneller als 130 km/h fährt, vergrößert in haftungsrelevanter Weise die Gefahr, dass sich ein anderer Verkehrsteilnehmer auf diese Fahrweise nicht einstellt, insbesondere die Geschwindigkeit unterschätzt (BGH, VI ZR 62/91, RZ 12, zitiert nach juris).

Zwar begründet die Überschreitung der Richtgeschwindigkeit keinen Sorgfaltsverstoß, dennoch ist davon auszugehen, dass sich der ideale Fahrer im Sinne des § 17 Abs. 2 StVG an sachverständige Feststellungen hält, wonach Geschwindigkeiten über 130 km/h das Unfallrisiko erheblich erhöhen. Sofern die Einhaltung der Richtgeschwindigkeit nicht nachweisbar ist, haftet der betroffene Halter gemäß § 7 StVG, weil er die ideale Fahrweise seines Fahrers im Sinne des § 17 Abs. 2 nicht nachweisen kann (OLG Frankfurt, Urteil vom 09.04.2015, 22 U 238/13, RZ 9, zitiert nach juris).

Unter Abwägung dieser Gesichtspunkte kann die Betriebsgefahr des Klägerfahrzeugs nicht in vollem Umfang hinter dem Sorgfaltspflichtverstoß des Beklagten zurücktreten, weshalb eine Mithaftung von 25 % zu Lasten des Klägerfahrzeugs angemessen erscheint.

Hinsichtlich der Höhe des Schadens ist von den Kosten der Beklagtenseite jedoch lediglich ein Betrag von 1.201,67 € an Mietwagenkosten zugrunde zu legen, da der Geschädigte sich im Wege der Vorteilsausgleichung ersparte Eigenaufwendungen anrechnen lassen muss, die nach den technischen und wirtschaftlichen Verhältnissen etwa 10 % der Mitwagenkosten betragen (Palandt/Grüneberg, BGB, 75. Aufl., München 2016, § 249, RZ 36; BGH, NJW 10, 1445).

Hinsichtlich der Schadenabwicklung auf Beklagtenseite sind die geltend gemachten Kosten von 106,32 € überhöht. Für den Aufwand der Schadenabwicklung eines Verkehrsunfalls ist dem Geschädigten, sofern es sich um mehr als einen Bagatellschaden handelt, ohne weitere Spezifizierung eine Auslagenpauschale zuzuerkennen, die jedoch nicht mehr als 25,00 € beträgt (Palandt/Grüneberg), BGB, 75. Aufl., München 2016, § 349, RZ 79).

Es ergibt sich damit folgende Berechnung:

Kosten der Beklagtenseite € 11.177,03
hiervon 25 % € 2.794,25
Forderung der Klägerseite € 9.037,82
hiervon 75 % € 6.778,37
abzüglich aufgerechneter € 2.794,25
Summe € 3.984,12
abzüglich bereits gezahlter € 3.930,40
Restforderung € 53,72


Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 288 Abs. 1, 291 BGB.

Dass der Beklagte sich zuvor in Verzug befunden hat, hat die Klägerin nicht hinreichend dargelegt. In dem Schreiben vom 05.02.2013 (Blatt 30 d. A.) ist keine ernsthafte und endgültige Erfüllungsverweigerung zu sehen, weshalb ein Zinsanspruch nicht bereits ab 06.02.2013 besteht, sondern erst seit Rechtshängigkeit.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO. Hierbei waren der Klägerin die gesamten Prozesskosten aufzuerlegen, da die Quote des Unterliegens des Beklagten lediglich 1 % beträgt und ein Gebührensprung nicht vorliegt.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.