Das Verkehrslexikon
Kammergericht Berlin (Beschluss vom 07.07.2016 - 3 Ws (B) 358/16 - 162 Ss 86/16 - Kein Augenblicksversagen bei Ortskenntnis
KG Berlin v. 07.07.2016: Kein Absehen vom Regelfahrverbot wegen Augenblicksversagen bei Ortskenntnis
Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 07.07.2016 - 3 Ws (B) 358/16 - 162 Ss 86/16) hat entschieden:
Kannte der Betroffene den Kreuzungsbereich aus eigener Erfahrung und lag für ihn erkennbar eine geänderte Verkehrsführung vor, was ihm zu verringerter Geschwindigkeit sowie zu erhöhter Aufmerksamkeit Anlass geben musste, wodurch er auch auf eine verkürzte Gelbphase hätte reagieren können, kann sein Rotlichtverstoß nicht als „Augenblicksversagen aufgrund besonderer Umstände" eingestuft werden. Deshalb liegt kein besonderer Ausnahmefall vor, der es rechtfertigen könnte, von der Verhängung des Regelfahrverbots abzusehen.
Siehe auch Fahrverbot und sog. Augenblicksversagen und Stichwörter zum Thema Fahrverbot
Gründe:
I.
Der Polizeipräsident hat gegen den Betroffenen am 06. Oktober 2015 wegen eines fahrlässigen Rotlichtverstoßes eine Geldbuße von 225,00 Euro festgesetzt, ein Fahrverbot von einem Monat angeordnet und nach § 25 Abs. 2a Satz 1 StVG eine Bestimmung über dessen Wirksamwerden getroffen. Auf seinen Einspruch hat das Amtsgericht Tiergarten den Betroffenen mit dem angefochtenen Urteil zu einer Geldbuße von 225,00 Euro verurteilt. Von der Verhängung eines Fahrverbots hat es abgesehen.
Hiergegen wendet sich die Amtsanwaltschaft mit der auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Rechtsbeschwerde, die von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin vertreten wird. Die Amtsanwaltschaft beanstandet, dass das Amtsgericht kein Fahrverbot verhängt hat. Sie rügt die Verletzung sachlichen Rechts.
Aufgrund der wirksamen Beschränkung steht fest, dass der Betroffene am 25. August 2015 um 11.15 Uhr mit dem PKW Daimler Benz, amtliches Kennzeichen B..., in ... Berlin den Kreuzungsbereich S...Straße/M... Straße passierte und hierbei das Rotlicht der für ihn geltenden Lichtzeichenanlage missachtete, wobei die Rotphase bereits länger als 1 Sekunde andauerte. Die Feststellung des Rotlichtverstoßes erfolgte mittels einer geeichten Stoppuhr.
Das Amtsgericht ist im Weiteren der Einlassung des Betroffenen gefolgt, wonach er, der Betroffene, die maßgebliche Strecke regelmäßig fahre. Nach seinem zuvor innegehabten Urlaub sei nun aber alles anders gewesen, die Verkehrsführung sei verändert worden. Aus der vormals einspurigen Straße sei nun eine zweispurige Fahrbahn gemacht worden, wobei der ehemalige Radweg nun auch eine Fahrspur für Kraftfahrzeuge dargestellt habe. Die so entstandene linke Fahrspur, die ursprünglich die Geradeausspur gewesen sei, sei nun auf einmal eine Abbiegespur gewesen. Er habe deshalb, weil er geradeaus habe fahren wollen, auf die rechte Spur wechseln wollen und habe entsprechend geblinkt. Er habe dabei auch in den Rückspiegel geschaut, ob ihn jemand in die Geradeausspur hineinlasse und dabei möglicherweise übersehen, dass die Ampel auf Rotlicht umgeschaltet habe. Das Amtsgericht kommt daher zu dem Schluss, dass trotz des festgestellten Rotlichtverstoßes von über einer Sekunde, was gemäß § 4 Abs. 1 BKatV die Verhängung eines Fahrverbots indiziere, kein „grober oder beharrlicher Pflichtverstoß“ i.S.d. § 25 Abs. 1 StVG gegeben sei, da beim Betroffenen aufgrund des geänderten Straßenverlaufs und der verkürzten Gelbphase lediglich ein „Augenblicksversagen aufgrund besonderer Umstände“ vorgelegen habe.
II.
1. Die rechtzeitig eingelegte und begründete Rechtsbeschwerde ist nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG statthaft, da im Bußgeldbescheid ein Fahrverbot verhängt worden war.
2. Die Rechtsbeschwerde hat mit der Sachrüge Erfolg.
Die Bemessung der Rechtsfolgen liegt grundsätzlich im Ermessen des Tatrichters, weshalb sich die Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht darauf beschränkt, ob der Tatrichter von rechtlich zutreffenden Erwägungen ausgegangen ist und von seinem Ermessen rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht hat (OLG Karlsruhe NStZ-RR 2001, 278).
Im Rahmen dieses Prüfungsumfanges hält der Rechtsfolgenausspruch des Amtsgerichts rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Zutreffend ist das Amtsgericht davon ausgegangen, dass aufgrund der getroffenen Feststellungen gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BKatV i.V.m. 132.3 BKat wegen einer groben Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers neben der Anordnung einer Geldbuße die Verhängung eines Regelfahrverbots grundsätzlich indiziert war. Dass es dennoch hiervon abgesehen hat, verkennt die Bedeutung des bundeseinheitlich geltenden Bußgeldkatalogs, die in ihm zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Vorbewertung der dort normierten Regelfälle und die ihn prägende Regelbeispieltechnik. Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 BKatV i.V.m. 132.3 BKat vor, unter denen ein Fahrverbot als regelmäßige Denkzettel- und Erziehungsmaßnahme angeordnet werden soll, ist grundsätzlich von einer groben Pflichtverletzung des betroffenen Kraftfahrers im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG auszugehen (vgl. BGHSt 38, 125; 38, 231). Der Tatrichter ist in diesen Fällen - nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung - gehalten, die Maßnahme anzuordnen. Er kann hiervon nur in ganz besonderen Ausnahmefällen absehen, wenn der Sachverhalt zugunsten des Betroffenen so erheblich von dem Regelfall abweicht, an den der Gesetzgeber gedacht hat, dass er als Ausnahme zu werten ist und auf ihn die Regelbeispieltechnik des Bußgeldkatalogs nicht mehr zutrifft, oder wenn die Maßnahme für den Betroffenen eine außergewöhnliche Härte darstellt. Zu Recht weist die Amtsanwaltschaft in diesem Zusammenhang darauf hin, dass dem tatrichterlichen Beurteilungsspielraum enge Grenzen gesetzt sind und die schriftlichen Urteilsgründe konkrete Feststellungen enthalten müssen, die die Annahme eines besonderen Ausnahmefalles nachvollziehbar erscheinen lassen. Das Absehen vom Fahrverbot muss auf einer eingehenden und nachvollziehbaren, auf Tatsachen gestützten Begründung beruhen (BGH NZV 1992, 117 und 286; Senat, Beschlüsse vom 24. Februar 2016 - 3 Ws (B) 95/16 -, vom 2. Juni 2014 - 3 Ws (B) 285/14 - und vom 22. September 2004 - 3 Ws (B) 418/04 -, OLG Naumburg NZV 1995, 161; BayObLG NZV 1994, 487).
Daran fehlt es hier. Den Urteilsgründen ist zu entnehmen, dass das Amtsgericht von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen hat, weil der Betroffene „seine Aufmerksamkeit aufgrund der veränderten Verkehrsführung kurzfristig auf den rückwärtigen Verkehr gerichtet“ habe, „um sein Fahrverhalten dem geänderten Straßenverlauf anzupassen und sich in die Geradeausspur einzufädeln“. „Aufgrund dieser nicht vorhersehbaren Ablenkung“ habe der Betroffene „das Umschalten auf Rotlicht bei verkürzter Gelbphase schlichtweg übersehen.“
Diese Feststellungen zeigen kein Geschehen, das die Bewertung rechtfertigen könnte, der Rotlichtverstoß sei als „Augenblicksversagen aufgrund besonderer Umstände einzustufen“ (UA S. 3).
Es ist bereits nicht nachvollziehbar, warum für den Betroffenen, der den Kreuzungsbereich aus eigener Erfahrung kannte und der die veränderte Verkehrsführung wahrgenommen hatte, eine „nicht vorhersehbare Ablenkung“ vorgelegen haben soll. Vielmehr lag für den Betroffenen erkennbar eine geänderte Verkehrssituation vor, was ihm zu verringerter Geschwindigkeit sowie zu erhöhter Aufmerksamkeit Anlass geben musste, wodurch er auch auf die verkürzte Gelbphase hätte reagieren können.
Die Urteilsfeststellungen schildern auch kein Geschehen, welches das Erfolgsunrecht des von der Betroffenen begangenen Rotlichtverstoßes so weit mindern könnte, dass es des indizierten Regelfahrverbots nicht bedürfte. Insbesondere kann die vom Amtsgericht beim Einfahren in den Kreuzungsbereich angenommene Geschwindigkeit von 30 km/h keinesfalls als signifikant niedrig bezeichnet werden. Daher ist das Maß der abstrakten Gefährdung des Rotlichtverstoßes gegenüber dem Regel- und Leitbild des Bußgeldkatalogs hier auch nicht nennenswert gemindert.
Da das Absehen von der Verhängung eines Fahrverbots somit keinen Bestand haben kann und eine Wechselwirkung zwischen der Frage der Anordnung dieser Maßregel und der Bemessung der Höhe der Geldbuße besteht, war das Urteil insoweit mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht Tiergarten zurückzuverweisen.