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OLG München Urteil vom 15.09.2017 - 10 U 4380/16 - Irreführendes Blinken des Vorfahrtberechtigten
OLG München v. 15.09.2017: Mithaftung von 75% zu Lasten des Wartepflichtigen bei irreführendem Blinken des Vorfahrtberechtigten
Das OLG München (Urteil vom 15.09.2017 - 10 U 4380/16) hat entschieden:
Das Vorfahrtsrecht (§ 8 Abs. 1 StVO) und die Wartepflicht (§ 8 Abs. 2 StVO) entfallen grundsätzlich auch dann nicht, wenn der Vorfahrtsberechtigte durch missverständliches oder irreführendes Fahrverhalten (hier: Blinken nach rechts) einen Vertrauenstatbestand geschaffen hat. - Bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge gemäß § 17 Abs. 1 StVG ist wegen der im Hinblick auf das Blinken erhöhten Betriebsgefahr für sein Fahrzeug eine Haftungsverteilung von 75 zu 25 zum Nachteil des Wartepflichtigen sachgerecht.
Siehe auch Irreführendes Falschblinken des Vorfahrtberechtigten und Stichwörter zum Thema Vorfahrt
Gründe:
A.
Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).
B.
Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache teilweise Erfolg.
I. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass ein - im Rahmen der Haftungsverteilung nach § 17 I, II StVG mit dem Verursachungsbeitrag der Beklagten zu 1) gleich hoch zu gewichtender - Verursachungsbeitrag und Mitverschuldensanteil des Klägers darin liege, dass er auf der vorfahrtsberechtigten Straße mit „deutlich herabgesetzter Geschwindigkeit von 25 bis 30 km/h“ gefahren sei und den rechten Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt habe (EU 7 = Bl. 61 d. A.). Hieraus wird gefolgert, dass die Beklagte zu 1) damit habe rechnen dürfen, dass der Kläger nicht geradeaus fahren werde, sowie ihren Einfahrvorgang habe beginnen dürfen (EU 8 = Bl. 62 d. A.).
Die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers hat nach der durch den Senat wiederholten und ergänzten Beweisaufnahme durch Anhörung des Klägers, der Beklagten zu 1), Einvernahme der Zeugen S. und C. sowie Anhörung des Sachverständigen Dipl.Ing. (FH) R. teilweise Erfolg. Danach hat der Kläger gegen die Beklagten Anspruch auf Ersatz von 75% des ihm (in der Höhe unstreitig) entstandenen Schadens wie tenoriert (einschließlich Zinsen und vorgerichtlich entstandenen Anwaltsgebühren nebst Zinsen).
1. Der Kläger fuhr - unbestritten - auf der gegenüber der Beklagten zu 1) benutzten bevorrechtigten Straße. Das Vorfahrtsrecht (§ 8 I StVO) des Klägers und die Wartepflicht (§ 8 II StVO) der Beklagten zu 1) entfallen - grundsätzlich und im Streitfall - auch dann nicht, wenn der Kläger durch missverständliches oder irreführendes Fahrverhalten einen Vertrauenstatbestand geschaffen hätte. Gegenteiliges bestätigen die vom Erstgericht zitierten obergerichtlichen Entscheidungen (OLG Karlsruhe DAR 2001, 128; OLG Hamm RuS 2004, 167; KG DAR 1990, 142) gerade nicht, vielmehr entspricht dies einhelliger Meinung, sowohl des Senats (Urt. v. 06.09.2013 - 10 U 2336/13 [BeckRS2013, 16306]) als auch anderer Oberlandesgerichte (OLG Dresden, Beschl. v. 24.04.2014 - 7 U 1501/13 [BeckRS 2014, 22004]; OLG Düsseldorf DAR 2016, 648; OLG Zweibrücken NJOZ 2008, 2487; OLG Naumburg, Urt. v. 19.02.2014 - 5 U 206/13 [BeckRS 2014, 11880]) und des Bundesgerichtshofs (NJW 1996, 60, für einen ähnlichen Vertrauenstatbestand). Insoweit ist die Annahme des Landgerichts unzutreffend, die Beklagte zu 1) habe mit dem Einfahrvorgang beginnen dürfen (EU 8 = Bl. 62 d. A.), was schon denkgesetzlich jegliches Fehlverhalten und jeden Verkehrsverstoß ausschlösse. Im Übrigen wäre dann eine Mithaftung der Beklagten, jedenfalls über die Betriebsgefahr hinaus, nicht zu rechtfertigen gewesen.
2. Umstritten ist allerdings, aufgrund welcher Umstände in dem Streitfall vergleichbaren Fällen ein Vertrauenstatbestand geschaffen wird (Senat, a.a.O.; OLG Dresden, a.a.O.; OLG Hamm DAR 2003, 521). Diese Frage kann jedoch nicht entschieden werden, ohne zuvor das Unfallgeschehen und die Erwägungen des Wartepflichtigen, die ihn zur Einsicht eines gefahrlosen Einfahrens in die Einmündung bestimmt haben, bestmöglich aufzuklären (s. BGH NJW 2012, 608; Senat, Urt. v. 12.06.2015 - 10 U 3981/14 [juris, Rn. 49, m.w.N.]; Urt. v. 31.07.2015 - 10 U 4377/14 [juris, Rn. 55, m.w.N.]). Deswegen kann keineswegs wie vom Erstgericht angenommen dahin gestellt bleiben, ob ein Einordnen des Klägers nach rechts (EU 8 = Bl. 62 d. A.), eine vom Zeugen C. berichtete Beschleunigung des klägerischen Pkws und der Verlauf der üblichen Fahrlinie im Falle des Abbiegens festgestellt oder ausgeschlossen werden können. Deswegen hat der Senat die Beweisaufnahme wiederholt und ergänzt. Hinsichtlich der Frage, ob der Kläger gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen hat, ist davon auszugehen, dass er nach rechts geblinkt hat und gleichzeitig mit einer, bezogen auf die zulässige Höchstgeschwindigkeit, eher niedrigen Geschwindigkeit im Bereich um die 30 km/h, wie die überzeugenden Aussagen der beiden vom Senat vernommenen Zeugen S. und C. ergeben haben, gefahren ist. Der Senat kann jedoch nicht davon ausgehen, dass und vor allem in welchem Umfang der Kläger im Bereich der Kreuzung noch beschleunigt haben soll. Die Aussage des Zeugen C. war insoweit zu ungenau (vgl. hierzu Protokoll vom 15.09.2017, S. 9 = Bl. 126 d.A.), wonach er nur noch von seiner „Wahrnehmung“ sprach und davon, dass der Mercedes (des Klägers) „etwas beschleunigt“ habe.
Für die Frage der Kausalität des klägerischen Fahrverhaltens für den Unfall kommt es entscheidend darauf an, ob die Beklagte zu 1), die angesichts des von links kommenden Klägers verpflichtet war, vor dem Herausfahren diesen fortwährend zu beobachten, zu dem Zeitpunkt der Entscheidung, in die Kreuzung einzufahren, immer noch davon ausgehen durfte, dass der Kläger nach rechts abbiegt.
Davon kann nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen R. bei Unterstellung der Aussage des Zeugen C., der als einziger relativ exakt die Positionen der Fahrzeuge zueinander beschrieben hat, nicht ausgegangen werden.
Der Sachverständige hat hierzu ausgeführt, dass man dann, wenn zu dem vom Zeugen C. angegebenen Zeitpunkt das Fahrzeug des Klägers ohne Lenkeinschlag geradeaus gefahren ist, als die Beklagte zu 1) losfuhr (und dies gilt selbst dann, wenn er entgegen der Zeugenaussagen im Hinblick auf die spätere Endposition doch eher rechtsorientiert gefahren sein soll), bei einer Geschwindigkeit von 30 km/h nicht mehr nach rechts abbiegen konnte ohne Gefahr zu gehen, mit den Fahrzeugen entweder der Beklagten zu 1) oder des dahinter stehenden Zeugen S. zu kollidieren.
Dies bestätigt sich im Übrigen in den insoweit überzeugenden Ausführungen der Beklagten zu 1) selbst: Anhand der von der Beklagten zu 1) genannten Geschwindigkeits- sowie Entfernungsangaben, die mit den Ausführungen des Sachverständigen und der beiden vernommenen Zeugen nicht in Deckung zu bringen waren, ist davon auszugehen, dass die Beklagte zu 1), wie von ihr auch selbst eingeräumt wurde, Schwierigkeiten mit der Abschätzung von Geschwindigkeiten und Abständen hat. Deshalb glaubte die Beklagte zu 1) zu einem Zeitpunkt, an dem zumindest objektiv angesichts der gefahrenen Geschwindigkeit des Klägerfahrzeugs und der fortgesetzten Geradeausfahrt trotz des fortwährenden Weiterblinkens nach rechts nicht mehr mit einem Abbiegen gerechnet werden konnte und durfte, trotzdem abbiegen zu können, was aber angesichts der vom Kläger gefahrenen Geschwindigkeit und des geringen Abstands zur Beklagten zu 1) nur unter Verstoß gegen das Vorfahrtsrecht des Klägers und mit der Folge der Kollision möglich war.
4. Zusammengefasst geht der Senat daher davon aus, dass dem Kläger ein für den Unfall kausales Verschulden seitens der Beklagten nicht nachgewiesen werden konnte und die Klageseite bei der anzustellenden Abwägung der Verursachungsbeiträge gemäß § 17 I StVG nur wegen der im Hinblick auf das Blinken erhöhten Betriebsgefahr für sein Fahrzeug haftet, weswegen eine Haftungsverteilung von 75 zu 25 zum Nachteil der Beklagten sachgerecht ist.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 I 1 Fall 1 ZPO.
III.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.
IV.
Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.