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OLG München Urteil vom 15.12.2006 - 10 U 4582/06 - Zur Haftungsabwägung bei einer Kollision zwischen einem bei Rot in die Kreuzung einfahrenden Feuerwehrnotarztwagen mit Sonderrechten und einem Kradfahrer, der die Kreuzung bei Grün befährt

OLG München v. 15.12.2006: Zur Haftungsabwägung bei einer Kollision zwischen einem bei Rot in die Kreuzung einfahrenden Feuerwehrnotarztwagen mit Sonderrechten und einem Kradfahrer, der die Kreuzung bei Grün befährt (70 % zu Lasten des Sonderrechtsfahrzeugs).


Das OLG München (Urteil vom 15.12.2006 - 10 U 4582/06) hat entschieden:
  1. Die Sonderrechte dürfen nur unter Wahrung größtmöglicher Sorgfalt wahrgenommen werden und insbesondere bei der Weiterfahrt bei „rot“ muss sich der Sonderrechte in Anspruch nehmende Fahrzeugführer vergewissern, dass sämtliche Verkehrsteilnehmer ihn bemerkt haben und ihm Vorrang einräumen. Besteht insoweit keine Sicherheit, muss sich der Fahrer im Schrittempo bewegen und darf sich in die Kreuzung nur hineintasten. Da mit der Möglichkeit der Verwirrung anderer Verkehrsteilnehmer zu rechnen ist, ergibt sich insoweit sogar eine gesteigerte Sorgfaltspflicht.

  2. Einem Kradfahrer muss bekannt sein, dass er wegen des Integralhelms das akustische Sonderrechtssignal nach Richtung und Abstand nicht bewerten kann; er muss daher gerade deshalb durch Herabsetzen der Geschwindigkeit seine Fahrweise darauf einrichten - und zwar sofort, wenn er das Einsatzhorn hört -, dass er erforderlichenfalls auf kürzeste Entfernung anhalten muss.

Siehe auch Sonderrechte - Einsatzfahrzeuge - Rettungsfahrzeuge - Wegerechtsfahrzeuge


Zum Sachverhalt: Der Kläger machte gegen die Beklagte Ansprüche auf Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 09.05.2003 gegen 11.15 Uhr in M. geltend. Der Kläger befuhr mit seinem Motorrad, welches nicht mit ABS ausgerüstet war, bei für ihn grünem Ampellicht in nördlicher Richtung in den Kreuzungsbereich ein, um dann in nordöstlicher Richtung weiter zu fahren.

Im Kreuzungsbereich wird die vom Kläger benutzte Fahrbahn von Straßenbahnschienen in Fortführung eines Sonderfahrstreifens für Busse und Trambahnen gequert, welcher in seinem südlichen Bereich durch Bäume und Buschwerk begrenzt wird.

Die Beklagte war zum Unfallzeitpunkt Halterin des Pkw Opel, welcher als Feuerwehrnotarztfahrzeug auf Einsatzfahrt den Sonderfahrstreifen in Richtung der Kreuzung und zwar aus Sicht des Klägers gesehen von rechts kommend befuhr. Die Verkehrsampel auf dem Sonderfahrstreifen zeigte für das Beklagtenfahrzeug einen weißen Querbalken. Das Beklagtenfahrzeug fuhr in die Kreuzung ein, wo es auf dem rechten Fahrstreifen zur Kollision mit dem nach einer Notbremsung zu Sturz gekommenen Motorrad des Klägers kam.

Das Landgericht München I hat nach Beweisaufnahme auf der Basis einer Mithaftung des Klägers von 50 % und Ermittlung eines unfallbedingten Gesamtschadens in Höhe von 4.362,62 € die Beklagte verurteilt, an den Kläger 2.181,13 € nebst Zinsen zu zahlen und im Übrigen die Klage abgewiesen.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt. Die vom Landgericht angenommene Schadenshöhe wird nicht angegriffen, der Kläger verfolgt mit der Berufung weitere 30 % Schadensersatz auf der Grundlage der vom Landgericht angenommenen Schadenshöhe.

Das Rechtsmittel hatte teilweise - nämlich in Höhe weiterer 20% - Erfolg.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... 1. Ein Anspruch des Klägers ergibt sich dem Grunde nach aus §§ 7, 17 II, I StVG.

a) Der Fahrer des Beklagtenfahrzeuges hat ersichtlich den Kläger, der mit seinem Motorrad eine ampelgesicherte Kreuzung bei grünem Lichtsignal überqueren wollte, übersehen bzw. zu spät wahrgenommen. Sowohl der Fahrer als auch der Beifahrer im Beklagtenfahrzeug gaben anlässlich ihrer Zeugeneinvernahmen (Sitzungsniederschrift vom 03.05.2004, S. 5-10 =Bl. 80/85 d.A.) an, dass beim Heranfahren an die Kreuzung die Sicht auf den nach der Ampelschaltung bevorrechtigten Verkehr aus der Te.straße Richtung Ma.straße durch das Buschwerk verdeckt war und das Beklagtenfahrzeug erst im Bereich der Fahrbahn zum Stillstand kam, wo es mit dem Motorrad zusammenstieß. Nach den Angaben des Zeugen Au. (aaO S. 9 = Bl. 84 d.A.) kam das Beklagtenfahrzeug etwa 2 m in der Fahrbahn zum Stillstand. Dies deckt sich mit dem Ergebnis des Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. Dr. Sp., wonach der Ölfleck, welcher ca. 1,9 m von der rechten Fahrbahnbegrenzungslinie der Ma.straße entfernt war, mit hoher Wahrscheinlichkeit durch das dort in seine kollisionsbedingte Endlage gekommene Motorrad verursacht wurde. Da das Motorrad nach den Angaben der Zeugen und auch des Klägers gegen das Beklagtenfahrzeug rutschte, nachdem es zu Sturz gekommen war (die durch das Hinterrad des Motorrades verursachte Blockierspur von 7,96 m Länge befand sich nach den Ausführungen des Sachverständigen 1,9 m vom rechten Fahrbahnrand entfernt und verlief leicht nach links), ist davon auszugehen, dass das Beklagtenfahrzeug nahezu den gesamten vom Kläger benutzten Fahrstreifen querte, bevor es zum Stillstand kam. Der Sachverständige ermittelte eine Annäherungsgeschwindigkeit des Pkw von 20 km/h zu einem Zeitpunkt als es noch 8 m vom späteren Kollisionsort, mithin höchstens 6,10 m von der Einfahrt in die kreuzende Fahrbahn entfernt war. Um rechtzeitig vor der Kreuzung oder wenigstens vor dem Motorrad anzuhalten, hätte das Beklagtenfahrzeug wegen der Sichtbehinderung eine Geschwindigkeit von höchstens 10 -14 km/h einhalten müssen.

b) Zwar gab der Fahrer des zivilen Notarztfahrzeuges, der Zeuge Si. an, er habe das Blaulicht „die ganze Zeit“ in Betrieb gehabt und das elektrische Martinshorn „vor der Kreuzung“ eingeschaltet (aaO S. 7 = Bl.82 d.A.) Auch ein Sonder- oder Wegerechtsfahrzeug (§§ 35, 38 I StVO) bleibt grundsätzlich an die Verkehrsregeln gebunden, der nach allgemeinen Regeln Vorfahrtberechtigte behält sein Vorfahrtrecht (muss aber ggf. sofort freie Bahn schaffen); die Sonderrechte dürfen nur unter Wahrung größtmöglicher Sorgfalt wahrgenommen werden ( BGHZ 63, 327 ) und insbesondere bei der Weiterfahrt bei „rot“ muss sich der Sonderrechte in Anspruch nehmende Fahrzeugführer vergewissern, dass sämtliche Verkehrsteilnehmer ihn bemerkt haben und ihm Vorrang einräumen. Besteht insoweit keine Sicherheit, muss sich der Fahrer im Schrittempo bewegen und darf sich in die Kreuzung nur hineintasten. Da mit der Möglichkeit der Verwirrung anderer Verkehrsteilnehmer zu rechnen ist, ergibt sich insoweit sogar eine gesteigerte Sorgfaltspflicht ( BGH NJW 1962, 798 ) Dies gilt vorliegend umso mehr, als das Sonderrechtsfahrzeug aus einem durch Bäume und relativ hohes Buschwerk abgegrenzten Sonderfahrstreifen für Busse und Trambahnen heraus auf die Kreuzung zufuhr und schon von daher die Gefahr bestand, dass das Blaulicht des sich auch im übrigen nach Größe und Farbgebung nicht auffällig von anderen Pkw unterscheidenden Einsatzfahrzeuges nicht rechtzeitig von den nach den allgemeinen Verkehrsregeln bevorrechtigten Verkehrsteilnehmern wahrgenommen werden kann (vgl KG NZV 2003, 126 ), zumal das Martinshorn erst während der Annäherung an die Kreuzung eingeschaltet wurde.

Gegen diese Pflicht bei der Hinwegsetzung über den fremden Vorrang hat der Fahrer des Feuerwehrnotarztfahrzeuges verstoßen, indem er sich nicht darüber vergewisserte, dass der bevorrechtigte Verkehr sein Sonderrecht beachten kann und beachtet.

2. Auf der anderen Seite war der Unfall auch für den Kläger nicht unvermeidbar, dem Kläger gelang schon wegen eines ihn treffenden Mitverschuldens der ihm insoweit obliegende Beweis nicht. Grundsätzlich trifft die Pflicht, dem Einsatzfahrzeug freie Bahn zu verschaffen, die anderen Verkehrsteilnehmer erst, nachdem sie das Blaulicht und das Martinshorn wahrgenommen haben oder bei gehöriger Aufmerksamkeit hätten wahrnehmen können. Den übrigen Verkehrsteilnehmern muss eine zwar kurz zu bemessende, aber doch hinreichende Zeit zur Verfügung stehen, um auf die besonderen Zeichen reagieren zu können ( BGH aaO; KG, NZV 2003, 126 ).

a) Der Kläger begann, wie der Sachverständige ausgeführt hat, seinen Bremsvorgang ca. 24 m vor dem ersten Schienenstrang (Reaktionspunkt) unmittelbar vor der Lichtzeichenanlage mit einer Annäherungsgeschwindigkeit von knapp unter 50 km/h und fasste daher den Entschluss zur Notbremsung im Bereich der Fußgängerfurt. Die Notbremsung erfolgte nach den Angaben des Klägers - was sich mit den Ausführungen des Sachverständigen deckt - als er das Einsatzfahrzeug erstmals sah; der Kläger selbst schätzte die Entfernung anders, nämlich kürzer ein. Weiter ist nach den Angaben des Klägers davon auszugehen, dass er das Martinshorn bereits beträchtliche Zeit vor Einleitung der Notbremsung bei der Annäherung an die vor der Kreuzung befindliche Ampel wahrgenommen hatte und zunächst das Gas wegnahm, sich sodann nach vorne und anschließend im Rückspiegel vergewisserte, ob er gefahrlos bremsen könne oder sich das Einsatzfahrzeug von hinten näherte.

b) Auf Grund seines Integralhelmes konnte der Kläger nach dem Ergebnis des Sachverständigen das akustische Signal nach Richtung und Abstand zu seiner Fahrspurwahl nicht bewerten, was dem Kläger als offensichtlich geübtem Motorradfahrer auch bekannt war. Er musste daher gerade deshalb durch Hinabsetzen der Geschwindigkeit seine Fahrweise darauf einrichten - und zwar im vorliegenden Fall sofort als er das Einsatzhorn hörte -, dass er erforderlichenfalls auf kürzeste Entfernung anhalten muss (vgl. OLG Hamm, VersR 1997, 155 ; Brandenburgisches OLG OLGR Brandenburg 1998, 225; OLG Düsseldorf, OLGR Düsseldorf 1992, 107). Da der Kläger nach seinen eigenen Angaben bereits vor der Einfahrt in den Kreuzungsbereich bei der Annäherung an die Ampel das Einsatzhorn wahrnahm, hätte der Kläger bereits zu diesem Zeitpunkt seine Geschwindigkeit durch eine leichte Bremsung herabsetzen und vor Einfahrt in die Kreuzung abklären müssen, ob das Einsatzfahrzeug ebenfalls - z.B. vom Sonderfahrstreifen her - in die Kreuzung einfährt (vgl. OLG Hamm, VersR 97,1547). Dies hätte eine Kollision verhindert; nach dem Ergebnis des Gutachtens wäre der Kläger nämlich bereits bei einer Annäherungsgeschwindigkeit von nur mehr 40 km/h rechtzeitig vor den Schienen zum Stehen gekommen.

3. Die Abwägung der beiderseitigen Verschuldens- und Verursachungsbeiträge führt zu einer Mithaftung des Klägers von 30 %. Den Zeugen Si.. trifft zwar das überwiegende Unfallverschulden, weil derjenige, der Sonderrechte in Anspruch nimmt, in besonderem Maße darauf achten muss, dass alle anderen Verkehrsteilnehmer das Martinshorn und das Blaulicht auch wahrgenommen haben, zumal von dem Einsatzfahrzeug wegen der Einfahrt in die Kreuzung bei Rotlicht und zudem aus einem durch Buschwerk verdeckten Sonderfahrstreifen ein ganz besonderes Gefahrenpotential ausging. Andererseits kann auch das Mitverschulden des Klägers nicht als gering angesehen werden, gerade weil er mit einem Motorrad trotz dessen Instabilität ohne Bremsung in die Kreuzung einfuhr, nachdem er das Martinshorn bereits wahrgenommen hatte, obwohl er wusste oder jedenfalls hätte wissen müssen, dass er wegen seines Integralhelmes das akustische Signal nach Abstand und Richtung nicht zuordnen konnte. Ausgehend von einem Gesamtschaden des Klägers von 4.362,62 € wie vom Landgericht zutreffend festgestellt ergibt sich ein Ersatzanspruch in Höhe von 70 % hieraus, mithin in Höhe von 3.053,83 €, so dass dem Kläger noch ein über das erstinstanzliche Urteil hinausgehender Anspruch in Höhe von 872,70 € nebst Zinsen (§§ 286 I 1, 288 I BGB) zusteht. Insoweit war die Berufung erfolgreich und das Ersturteil abzuändern, im Übrigen war die Berufung zurückzuweisen. ..."