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OLG Hamburg Urteil vom 22.12.1980 - 2 Ss 178/80 - Zur Eignung des Modells Hamburg 79 für die nachträgliche Sperrfristverkürzung

OLG Hamburg v. 22.12.1980: Zur Eignung des Modells Hamburg 79 für die nachträgliche Sperrfristverkürzung


Das OLG Hamburg (Urteil vom 22.12.1980 - 2 Ss 178/80) hat entschieden:
Die Nachschulung nach dem Modell "Hamburg 79", die auf anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden beruht, ist grundsätzlich geeignet, Trunkenheitsersttäter in positiver, die Gefahr des Rückfalls mindernder Weise zu beeinflussen. Die erfolgreiche Teilnahme an einer derartigen Nachschulung kann daher grundsätzlich im Rahmen der vom Tatrichter nach den §§ 69, 69 a StGB zu stellenden Prognose zugunsten des Täters Berücksichtigung finden.


Siehe auch Die Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis / Führerscheinsperre


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Die Nachschulung nach dem Modell "Hamburg 79", die auf anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden beruht, ist grundsätzlich geeignet, Trunkenheitsersttäter in positiver, die Gefahr des Rückfalls mindernder Weise zu beeinflussen. Die erfolgreiche Teilnahme an einer derartigen Nachschulung kann daher grundsätzlich im Rahmen der vom Tatrichter nach den §§ 69, 69 a StGB zu stellenden Prognose zugunsten des Täters Berücksichtigung finden.

a) Ausgehend von der Erkenntnis der geringen Wirksamkeit bisheriger rechtlicher Maßnahmen (Winkler, BA 1974, 178 ff, Kunkel, BA 1979, 1) und von dem Zweifel, ob der bloße Ablauf der Zeit nach Entziehung der Fahrerlaubnis einen "Heilungsfaktor" darstellt (Menken, BA 1979, 235; Rebmann DAR 1978, 300; kritisch dazu Müller, BA 1979, 357 ff und Seib BA 1980, 39 ff), ergab sich die Forderung, neue Maßnahmen zur Verhaltensänderung bei Trunkenheitstätern einzuführen. Der 15. Deutsche Verkehrsgerichtstag 1977 in Goslar forderte den Gesetzgeber auf, Erwägungen anzustellen, wie das jetzige Instrumentarium durch weitere Maßnahmen, insbesondere die Auflage, sich einer geeigneten Nachschulung zu unterziehen, ergänzt werden könne (vgl Deutsche Akademie für Verkehrswissenschaft eV. Deutscher Verkehrsgerichtstag. Hamburg 1977 S 7). Nachdem bereits im Jahre 1971, ausgehend von Programmen zur Verhaltensänderung alkoholauffälliger Kraftfahrer in den USA und Kanada, das von Winkler entwickelte Modell "Leer" für Wiederholungstäter angelaufen war (Winkler aaO; Bode BA 1979, 43), errichtete die Bundesanstalt für Straßenwesen eine Projektgruppe zur "Beeinflussung und Behandlung alkoholauffälliger Kraftfahrer" (Bode aaO, S 36, 37). Teils auf Anregung dieser Gruppe, teils unabhängig davon, entstanden weitere ähnliche Kurse, nämlich das "Verhaltenspsychologische Modell der Bundesanstalt für Straßenwesen" für Wiederholungstäter, das "Individualpsychologische Modell der Bundesanstalt für Straßenwesen" und schließlich das dem Modell "Hamburg 79" ähnliche Modell "Mainz 77" des TÜV Rheinland (Bode aaO, S 44 ff), das bereits Gegenstand wissenschaftlicher Veröffentlichungen und der Rechtsprechung gewesen ist.

b) Wie das Modell "Hamburg 79" zielt das Modell "Mainz 77" auf erstauffällige Alkoholtäter ab, weil bei ihnen in diesem relativ frühen Stadium der negativen Entwicklung noch mit besserer Erfolgsaussicht zu rechnen ist (Bode aaO, S 45). Bei der Gestaltung der Kurse werden neben Erkenntnissen aus der Eignungsdiagnostik gruppentheoretische und verhaltenstherapeutische Gesichtspunkte berücksichtigt. Der Ablauf des Kurses entspricht im wesentlichen dem des Modells "Hamburg 79" mit dem Unterschied, dass in Hamburg die Zahl der Seminarstunden erweitert worden ist.

c) Die Grundlagen dieser Schulungskurse, insbesondere ihr verhaltenstherapeutischer und gruppentheoretischer Ansatz, sind wissenschaftlich anerkannt. . . (wird ausgeführt).

d) Diesen Erkenntnissen entsprechend befürworten Rechtsprechung und Schrifttum durchweg die Durchführung:der Schulungskurse und die angemessene Berücksichtigung der Teilnahme an einem Kurs im Rahmen der §§ 69, 69 a StGB. Außer den bereits zuvor genannten Autoren sehen auch Hentschel (NJW 1979, 966) und Bussmann/Gerhardt (BA 1980, 117) die Kursteilnahme grundsätzlich positiv. Skeptisch, wenn auch nicht ablehnend, äußern sich Middendorf (BA 1978, 111), Schneble (BA 1980, 290) und Seib (aaO).

In der obergerichtlichen Rechtsprechung liegt bisher nur die Entscheidung des OLG Köln vom 18.4.1980 vor (VRS 25). Dort wird der Standpunkt vertreten, dass die Teilnahme an einem Kurs des Modells "Mainz 77" ein Umstand sei, der bei der Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis Berücksichtigung finden müsse. Die Teilnahme allein könne aber noch nicht das Abweichen von der Regel des § 69 Abs 2 StGB rechtfertigen.

Auch in der Rechtsprechung der Amts- und Landgerichte ist die Berücksichtigung der Kursteilnahme durchweg - wenn auch in mehr oder weniger weitgehendem Umfang - befürwortet worden, und zwar bei Entscheidungen nach § 69 Abs 2 StGB (AG Hanau VerkMitt 1980, 71; LG Kleve NJW 1979, 558; LG Krefeld VRS 56, 283; LG Duisburg DAR 1980, 349; AG Fulda DAR 1980, 349; AG Bergisch-Gladbach DAR 1980, 23; AG Homburg/Saar DAR 1980, 252), nach § 69 a Abs 1-4 StGB (LG Krefeld DAR 1980, 63; LG Hamburg, Beschl. v. 27.8.1980 [33] Qs 935/80), nach § 69 a Abs 7 StGB (LG Köln VRS 56, 284; LG München BA 1980, 464; AG Pirmasens DAR 1980, 122) und nach § 111 a StPO (LG Köln BA 1980, 289; LG Hanau DAR 1980, 25). Ablehnend hat sich bisher, soweit ersichtlich, nur das AG Freising (DAR 1980, 252) im Rahmen einer Entscheidung nach § 69 a Abs 7 StGB geäußert.

2. Kann hiernach die Teilnahme an einer Nachschulung nach dem Modell "Hamburg 79" grundsätzlich im Rahmen der vom Tatrichter gemäß §§ 69, 69 a StGB zu stellende Prognose zugunsten des Täters Berücksichtigung finden, so ergibt sich jedoch in zweierlei Hinsicht für den Tatrichter eine besondere Prüfungspflicht, deren Nichtbeachtung hier mangels überprüfbarer Feststellungen - zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führt.

a) Unerlässliche Voraussetzung für eine positive Bewertung der Kursteilnahme gemäß den Ausführungen zu 1. ist der ordnungsgemäße, dem Konzept des Nachschulungsprogramms entsprechende Ablauf des Kurses, insbesondere die regelmäßige Teilnahme des Täters an den Seminarstunden und sonstigen Veranstaltungen, sowie seine Schulung durch zuverlässige Fachkräfte. Die Notwendigkeit genauer tatrichterlicher Überprüfung in dieser Hinsicht ist um so dringlicher, weil Träger des Modells "Hamburg 79" das "Institut für Gruppenforschung und -schulung GmbH" ist, also offenbar ein privatwirtschaftliches Unternehmen, das seiner Natur nach auf Gewinnstreben ausgerichtet ist und den Gesetzen des freien Marktes unterliegt. Die hiernach möglichen Gefahren, die sich etwa aus dem Auftreten von Wettbewerbern oder aus dem wirtschaftlichen Zwang zur Aufrechterhaltung des Betriebes auch bei finanziellen oder personellen Engpässen ergeben können, liegen auf der Hand.

Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass, sollte die Nachschulung, wie es den Anschein hat, auf strafrechtlichem Gebiet institutioniert werden, eine staatliche Kontrolle der Nachschulungsträger in irgendeiner Form geboten wäre. Solange es aber an zuverlässigen Kontrollmaßnahmen fehlt, trifft - wie ausgeführt - den Tatrichter eine entsprechende Prüfungspflicht. Dabei muss es seinem Ermessen überlassen bleiben, wie er im einzelnen - etwa stichprobenartig durch gelegentliche Vernehmung des Kurs- oder Institutsleiters - dieser Pflicht genügen will. Neben den Umständen des einzelnen Falles wird es maßgeblich auch auf die Erfahrungen ankommen, die bezüglich der Zuverlässigkeit des Instituts insgesamt gewonnen werden. Als Nachweis einer ausreichenden Überprüfung in dieser Hinsicht genügen jedenfalls zur Zeit, im Zeitraum der Erprobung, die Darlegung des generellen Nachschulungsprogramms, der formelhafte Hinweis auf die "erfolgreiche" Teilnahme und die gemäß § 267 Abs 1 Satz 3 StPO unzulässige Bezugnahme auf die bei der Akte befindliche "Gutachterliche Stellungnahme" nicht.

b) Darüber hinaus sind auch die vom AG getroffenen Feststellungen bezüglich des bei dem Angekl. erreichten Erfolges der Nachschulung unzureichend. Zwar mag bei einer vorsichtigen Bewertung der Nachschulung im Rahmen der §§ 69, 69 a StGB - sofern die sonstigen, insbesondere die zu a) genannten Voraussetzungen festgestellt sind - der Hinweis des Tatrichters auf eine "erfolgreiche" Kursteilnahme im allgemeinen genügen. Angesichts der hier vorliegenden sehr weitreichenden Bewertung zugunsten des Angekl. - aus den Gründen lässt sich eine Verkürzung der sonst gebotenen Sperrfrist um mehr als 5 Monate entnehmen - reicht dieser formelhafte Hinweis jedoch nicht, weil die individuelle Tragweite der Nachschulung für die einzelnen Teilnehmer nach den gegenwärtigen Erkenntnissen noch als weitgehend ungesichert anzusehen ist.

Aus den Ausführungen zu 1. ergibt sich die generelle Eignung der Nachschulung zur positiven Beeinflussung von Trunkenheitsersttätern. Daraus folgt jedoch nicht ohne weiteres die Feststellung, dass sich diese generelle Eignung des Kursus auch individuell in einer entsprechenden Beeinflussung des einzelnen Teilnehmers auswirken muss.

Es kommt hinzu, dass es bisher an Ergebnissen von Erfolgskontrollen über derartige Nachschulungsmaßnahmen fehlt. Zwar wird gelegentlich über "positive Ansätze" solcher Kurse berichtet (vgl Menken aaO, S 252, 253, Kunkel aaO, S 14; Müller aaO, S 360; Bussmann/Gerhardt aaO, S 117). Insgesamt gesehen sind aber die praktizierten Nachschulungsmodelle noch zu wenig erprobt, um zu sicheren Aussagen hinsichtlich ihrer Erfolgsaussicht zu gelangen (vgl Schreiber BA 1979, 24, 26; Middendorf aaO, S 95, 111; Müller aaO, S 360; Seib aaO, S 45 ff. ; LG München BA 1980 464; AG Hanau, VerkMitt 1980, 71).

Angesichts dieser starken Unsicherheitsfaktoren, mit denen die Nachschulung im Erprobungsstadium naturgemäß behaftet ist, kann die Feststellung einer "erfolgreichen" Kursteilnahme allein nur mit einer vorsichtigen Bewertung im Rahmen der §§ 69, 69 a StGB zugunsten des Täters Berücksichtigung finden. Geht der Tatrichter jedoch bei seiner Ermessensentscheidung - wie hier - über eine vorsichtige Bewertung erheblich hinaus, so ist er zwecks Überprüfbarkeit für das Revisionsgericht gehalten, im einzelnen - eventuell nach mündlicher Anhörung des Schulungsleiters - Feststellungen zur besonders günstigen individuellen Auswirkung des Kurses auf den Teilnehmer zu treffen. Die hier vom AG in diesem Zusammenhang gezogene Folgerung aus der "Aufwendung von Geld" auf eine Verstärkung der charakterlichen Zuverlässigkeit des Angekl. gibt eher zu Bedenken Anlass. Stellt doch diese Bewertung entgegen der für einen Erfolg voraussetzenden inneren Einstellung eines Teilnehmers auf eine Motivation ab, die der Nachschulung unter dem Gesichtspunkt des "Ablasshandels" mit guten Gründen kritisch entgegengehalten worden ist (vgl AG Freising aaO; Schneble aaO). ..."