Das Verkehrslexikon

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Bundesverfassunsgericht Beschluss vom 30.11.2004 - 1 BvR 1750/03 - Kein Wegeunfall beim Verlassen des direkten Nachhauseweges auf einem kleinen Umweg

BVerfG v. 30.11.2004: Kein Wegeunfall beim Verlassen des direkten Nachhauseweges auf einem kleinen Umweg


Das Bundesverfassunsgericht (Beschluss vom 30.11.2004 - 1 BvR 1750/03) hat entschieden:
Es ist nicht willkürlich, die Anerkennung als Wegeunfall in der gesetzlichen Unfallversicherung zu verneinen, wenn der Betroffene seinen direkten Weg von der Arbeitsstelle nach Hause, wenn auch nur für einen Umweg von 100 m, verlassen und hierbei einen privaten Zweck verfolgt hat.


Siehe auch Haftungsbeschränkung bei Wegeunfällen und Betriebsweg - Werksverkehr - gemeinsame Betriebsstätte - Haftungsprivileg des Unternehmers


Zum Sachverhalt:

1. Der Beschwerdeführer begehrt die Anerkennung und Entschädigung eines Wegeunfalles aus der gesetzlichen Unfallversicherung. Der zuständige Gemeindeunfallversicherungsverband lehnte eine Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall ab, weil der Beschwerdeführer seinen direkten Weg von der Arbeitsstelle nach Hause verlassen und hierbei einen privaten Zweck verfolgt habe. Widerspruch und Klage beim SG blieben ohne Erfolg. Das LSG hat der Klage auf die Berufung des Kl. hin stattgegeben. Der vom Beschwerdeführer gewählte Umweg sei noch als Teil des Arbeitsweges in seiner Gesamtheit anzusehen. Der Beschwerdeführer habe eine Parallelstraße zu dem kürzesten Weg gewählt und hierbei immer die ursprüngliche Fahrtrichtung des kürzesten Weges beibehalten. Zu einem Anhalten zum Zweck des vom Beschwerdeführer beabsichtigten Geldabhebens sei es nicht gekommen, weil der Unfall sich bereits vorher ereignet habe. Wäre es nicht zu dem Unfall gekommen, hätte der gewählte Umweg eine Streckenverlängerung von lediglich etwa 100 Metern und eine Fahrtunterbrechung von fünf bis zehn Minuten verursacht. Bei der erforderlichen Gesamtschau zeige sich, dass der Umweg und das Geldabheben eine nur geringfügige Abweichung und Verzögerung darstellten. Der Beschwerdeführer habe die Abhebung des Geldes gewissermaßen „im Vorbeigehen” erledigen wollen und können, weswegen er weiterhin unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden habe. Das BSG (DAR 2003,483) hat das Urteil des LSG aufgehoben und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückgewiesen. Es sei zwar an die Feststellungen der Vorinstanzen gebunden, wonach der vom Beschwerdeführer gewählte Umweg lediglich zu einer Verlängerung seines Weges um rund 100 Meter geführt habe. Allerdings habe der Beschwerdeführer für die hierbei beabsichtigte private Erledigung den Verkehrsraum der Straße, die den kürzesten Weg zu seiner Wohnung darstelle, verlassen müssen. Dadurch habe er jedoch zugleich seinen versicherten Arbeitsweg verlassen. Dies ergebe sich aus der Wahl eines Umwegs in Verbindung mit einer Handlungstendenz, die ausschließlich einem privaten Zweck, nämlich Geld abzuheben, gedient habe. Die Erledigung dieser privaten Verrichtung hätte der Beschwerdeführer „im Vorbeigehen” nur in der Straße ohne Verlust des Versicherungsschutzes vornehmen können, welche selbst Bestandteil seines kürzesten Arbeitsweges sei.

2. Mit seiner gegen die Entscheidung des BSG erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG. Die Entscheidung sei willkürlich, weil sie im Widerspruch zu ihren eigenen Prämissen und zu der ständigen Rspr. stehe, wonach geringfügige Abweichungen vom kürzesten Arbeitsweg und geringfügige Unterbrechungen den gesetzlichen Unfallversicherungsschutz nicht entfallen ließen.


Aus den Entscheidungsgründen:

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie keine Aussicht auf Erfolg hat.

1. Der allgemeine Gleichheitssatz bindet gem. Art. 1 Abs. 3 GG auch die Rspr. als unmittelbar geltendes Recht (vgl. BVerfGE 42, 64 (72)). Allerdings bleibt die Auslegung und Anwendung einfachen materiellen und formellen Rechts grundsätzlich Sache der zuständigen Instanzgerichte. Das BVerfG ist nicht zur allgemeinen inhaltlichen Nachprüfung fachgerichtlicher Entscheidungen berufen, weil seine Aufgabe nicht die eines Revisionsgerichtes ist. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Verletzung des Gleichheitssatzes durch gerichtliche Entscheidungen greift deshalb nicht bei jedem Fehler in der Rechtsanwendung ein. Hinzukommen muss vielmehr, dass die fehlerhafte Rechtsanwendung bei verständiger Würdigung der das GG beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht (vgl. BVerfGE 42, 64 (74)); stRspr).

2. Gemessen an diesem Maßstab kann Willkür vorliegend nicht festgestellt werden.

a) Die SG haben sich mit den gesetzlichen Voraussetzungen der Versicherung von Wegeunfällen in der gesetzlichen Unfallversicherung in zahlreichen Entscheidungen befasst (vgl. etwa die Darstellung von Ricke in: Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Band 2, § 8 SGB VII Rdn. 178 ff. (Stand Mai 2003). Nach der ständigen Rspr. des BSG sind Wegeunterbrechungen zu privaten Zwecken grundsätzlich unversichert, wenn sie nicht von nur geringfügiger Dauer sind. Hierbei ist das Verlassen des Verkehrsraums der zum versicherten Ziel führenden Straße immer als nicht mehr geringfügig anzusehen, ohne dass es auf den Zeitaufwand oder den örtlichen Umfang ankommt (vgl. BSG SozR 2200 § 550 Nr. 44; vgl. auch Ricke, a.a.O., Rdn. 197).

b) Dem Beschwerdeführer ist einzuräumen, dass die Anwendung dieser Grundsätze und die hierzu entwickelte Kasuistik in der Praxis nicht immer zu überzeugenden Ergebnissen führt; die Anwendung der dargestellten Formel auf den konkreten Lebenssachverhalt verliert in Grenzfällen ihre Trennschärfe. Trotz dieser Schwierigkeiten kann im vorliegenden Fall noch nicht von einer willkürlichen Entscheidung des BSG gesprochen werden. Das BSG bezieht sich auf seine bisherige Rspr. und ist erkennbar um Anwendung seiner dort entwickelten Systematik bemüht. Auch wenn das Ergebnis für den Beschwerdeführer hart erscheint, beruht es nicht auf sachfremden Erwägungen, die das BVerfG zu einem Eingreifen berechtigen würden. Das BSG hat – vom Beschwerdeführer nicht bestritten – auf der Grundlage der Tatsachenfeststellung der Instanzgerichte das Vorliegen eines Umwegs im Zusammenhang mit einem beabsichtigten privaten Halt festgestellt, dem ein innerer Zusammenhang mit der Beschäftigung des Beschwerdeführers fehlte. Damit konnte es aber, ohne dass dies im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG zu beanstanden wäre, ein rechtlich relevantes Abweichen von dem versicherten Arbeitsweg annehmen, welches sich nicht mehr als eine Erledigung „im Vorbeigehen” i. S. d. bisherigen Rspr. darstellte.



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