Das Verkehrslexikon

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Landgericht Kassel Urteil vom 17.01.2006 - 5 O 2198/05 - Zur Haftungsfreistellung eines Mitschälers bei gemeinsamer Teilnahme an Exkursion für einen Leistungskurs

LG Kassel v. 17.01.2006: Zur Haftungsfreistellung eines Mitschälers bei gemeinsamer Teilnahme an Exkursion für einen Leistungskurs


Das Landgericht Kassel (Urteil vom 17.01.2006 - 5 O 2198/05) hat entschieden:
Die Haftungsfreistellung gem. §105 SGB VII greift ein, wenn ein Schüler, der an der Exkursion eines Leistungskurses teilnimmt und zur Mitfahrt im privaten Pkw eines Mitschülers eingeteilt wird, bei einem von dem Mitschüler fahrlässig verursachten Verkehrsunfall verletzt wird.


Siehe auch Haftungsbeschränkung bei Wegeunfällen und Betriebsweg - Werksverkehr - gemeinsame Betriebsstätte - Haftungsprivileg des Unternehmers


Zum Sachverhalt: Der am 8. 8. 1982 geborene Kl. macht gegen den Bekl. Schmerzensgeldansprüche wegen eines Unfalls vom 23. 10. 2002 geltend. Sowohl der Kl. als auch der Bekl. besuchten die Freie Waldorfschule K als Schüler. Beide belegten einen Biologie-Leistungskurs. Am 23. 10. 2002 sollte in W eine Exkursion des Biologie-Leistungskurses stattfinden. Ziel der Exkursion mit ökologischer Thematik war ein Demeter-Bauernhof, etwa 20 Autominuten westlich von K. Am 23. 10. 2002 trafen sich die Schüler am Treffpunkt Schule. Einige Schüler hatten für diese Exkursion einen Pkw zur Verfügung, andere nicht. Am Treffpunkt Schule erfolgte eine Aufteilung der Schüler auf die jeweiligen Pkw. Die Fahrer der Pkw erhielten eine genaue Wegbeschreibung zum Exkursionsort. Es wäre jedoch auch möglich gewesen, dass die Schüler direkt zum Exkursionsort gefahren wären, ohne sich zuvor an der Schule zu treffen. Der Bekl. hatte das Auto seines Vaters zur Verfügung. Der Kl. fuhr im Fahrzeug des Bekl. mit in Richtung Exkursionsort.

Unterwegs kam es zu einem vom Bekl. verschuldeten Unfall, bei dem der Kl. verletzt wurde.

Die Klage auf Zahlung eines Schmerzensgeldes gegen den Bekl. wurde abgewiesen.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Der Kl. hat keinen Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld wegen des Unfalls vom 23. 10. 2002 gegen den Bekl. Ein Schmerzensgeldanspruch des Kl. ist gemäß § 105 SGB VII ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift ist ein Unfallverursacher, der den Unfall durch eine „betriebliche Tätigkeit” herbeiführt, zum Ersatz eines Personenschadens nur verpflichtet, wenn er den Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt hat. Bei fahrlässigem Handeln haftet er nicht für Schmerzensgeld. Die Voraussetzungen dieser Haftungsprivilegierung sind erfüllt.

Zunächst sind den „betrieblichen Tätigkeiten” im Sinne des § 105 SGB VII schulische Tätigkeiten gleichgestellt, so dass die Haftungsprivilegierung eingreift, wenn eine schulische Tätigkeit vorliegt (§ 2 I Nr. 8 und § 106 SGB VII). Die Haftungsprivilegierung gilt gleichermaßen für schulische Tätigkeiten an Berufsschulen (OLG Karlsruhe, SP 2003, 12) wie an allgemein bildenden Schulen (OLG Hamm, NZV 2004, 400). Das SGB VII findet speziell auch auf Waldorfschulen Anwendung (vgl. SG Baden-Württemberg, Urt. v. 24. 1. 2005, Aktenzeichen 1 U 1345/03 und LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 13. 11. 1997; Aktenzeichen L 10 U 1839/96).

Die Fahrt zum Exkursionsort war eine schulische Tätigkeit, wie für die Anwendung der Haftungsprivilegierung nach § 105 SGB VII erforderlich ist. Eine Fahrt zu einem Exkursionsort ist in der Regel wie auch eine Fahrt zu einer Schule Privatsache und weist nicht den für einen Zusammenhang mit der Haftungsprivilegierung notwendigen engen schulischen Bezug auf. Dies gilt aber nicht in solchen Fällen, in denen der Transport in den Schulbereich eingegliedert und damit integrierte Bestandteil der Organisation des Schulbetriebes ist (OLG Karlsruhe, SP 2003, 12 ff). Denn dann liegt ein Fall vor, der dem Werksverkehr ähnlich ist, und den Weg zu einem mit der versicherten Tätigkeit verbundenen Betriebsweg werden lässt. Für die Eingliederung reicht es nicht aus, wenn eine Fahrt der Förderung eines betrieblichen oder dienstlichen Interessen dient. Vielmehr muss hinzukommen, dass sie als Teil der betrieblichen Organisation erscheint, in dem ihre Durchführung durch die betriebliche Organisation geprägt ist. Dies kann auch bei einer Fahrt im Privatwagen der Fall sein, z. B. wenn die Fahrt durch den Vorgesetzten angeordnet wird. Beruht dagegen die Nutzung des Privatwagens auf einer freien Vereinbarung und hätte die Fahrt auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln vorgenommen werden können, so ist die Nutzung allein Privatsache.

Bei einer Anwendung dieser Kriterien handelt es sich bei der Fahrt zum Exkursionsort um eine im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehende Tätigkeit des Bekl. Zwar wäre es grundsätzlich möglich gewesen, dass die Schüler auch alleine zum Exkursionsort gefahren wären. Diese abstrakte Möglichkeit, sich zeitweise aus der schulischen Organisationsstruktur zu lösen, ändert aber nichts daran, das die Fahrt konkret in den Schulbereich eingegliedert wurde. Diese Integration in die Schulorganisation erfolgte einen doppelten schulischen Organisationsakt: Zum einen durch das Aufteilen der Schüler auf die verschiedenen Privatfahrzeuge am Treffpunkt Schule, zum anderen durch die Aushändigung der Wegbeschreibung an die einzelnen Fahrer. Diese beiden Organisationsakte genügen, um die Fahrt zu einer schulischen Tätigkeit zu machen. In ihnen manifestiert sich der schulische Charakter der Fahrt, indem schulorganisatorisch sichergestellt wird, dass jeder Schüler ungeachtet des Besitzes eines Fahrzeugs eine Fahrtmöglichkeit zum Exkursionsort hat und dort zeitnah eintrifft. Dies ist gerade ein klassischer Fall einer schulischen Tätigkeit. Zudem wird die Bewegung der einzelnen Fahrzeuge durch den gemeinsamen Treffpunkt und die Aushändigung der Wegbeschreibung zeitlich und räumlich koordiniert. Damit erhält die Fahrt einen vom Schulkollektiv gekennzeichneten Charakter, was die Fahrt zugleich als durch die schulische Organisation geprägt erscheinen lässt. Da die Exkursion Bestandteil des Biologie-Leistungskurses und des Schulunterrichts war und damit die Schüler zur Teilnahme verpflichtet waren, blieb ihnen - wollten sie sich nicht selbst aus der Schulorganisation ausgrenzen - nichts anderes übrig, als der Aufteilung auf die Pkw Folge zu leisten und zum Exkursionsort mit zu fahren. Dass es sich um einen schulbezogenen Unfall gehandelt hat, wird schließlich durch den Umstand bekräftigt, dass der KI. noch im Schriftsatz vom 30. 9. 2005 - zu Recht - die Auffassung vertreten hatte, es handele sich um einen „schulbezogenen Unfall”. Erst nachdem das Gericht darauf hingewiesen hatte, dass in diesen Fällen die Haftungsprivilegierung von § 105 SGB VII eingreift, änderte der Kl. seine Rechtsansicht in das genaue Gegenteil und vertritt nunmehr die Ansicht, es handele sich um eine Privatfahrt. Diese rechtliche Kehrtwendung vermag jedoch nach dem vorangegangenen nicht zu überzeugen.

Die Haftungsprivilegierung scheidet auch nicht aus dem Grunde aus, dass der Bekl. die Verletzungen des Kl. vorsätzlich herbeigeführt hätte. Anhaltspunkte dafür, dass der Bekl. die Verletzungen des Kl. vorsätzlich herbeigeführt haben könnte, gibt es nicht. Insbesondere folgt aus der Missachtung eines Stopp-Schilds noch nicht, dass ein Unfall und eine dadurch verursachte Körperverletzung vorsätzlich vom Fahrer herbeigeführt werden. Darauf hatte das Gericht entsprechend hingewiesen, ohne dass weiterer Sachvortrag zu der Frage des Vorsatzes erfolgte. Damit blieb nur die Klageabweisung. ..."



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