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OLG Stuttgart Urteil vom 14.10.2004 - 7 U 96/04 - Zwischen Fahrer und Beifahrer eines im Straßenverkehr genutzten Fahrzeugs besteht keine Gefahrengemeinschaft

OLG Stuttgart v. 14.10.2004: Zwischen Fahrer und Beifahrer eines im Straßenverkehr genutzten Fahrzeugs besteht keine Gefahrengemeinschaft


Das OLG Stuttgart (Urteil vom 14.10.2004 - 7 U 96/04) hat für den Fall eines Teilungsabkommens zwischen Trägerin der gesetzichen Unfallversicherung und Haftpflichtversicherung des Schädigers entschieden, dass der Haftungsausschluss nach § 106 Abs. 3 SGB VII nicht zur Anwendung kommt, wenn der Unfallversicherte als Beifahrer des Schädigers bei der Teilnahme am allgemeinen Verkehr verletzt wurde.
Der Haftungsausschluss nach § 106 Abs. 3 3. Alt. SGB VII (gemeinsame Betriebsstätte) beruht auf dem Gedanken der sog. Gefahrengemeinschaft. Eine solche besteht typischerweise nicht zwischen Fahrer und Beifahrer eines im Straßenverkehr genutzten Fahrzeugs, da allein der Beifahrer dem Risiko ausgesetzt ist, durch das Fahrverhalten des Fahrers zu Schaden zu kommen.


Siehe auch Haftungsbeschränkung bei Wegeunfällen und Betriebsweg - Werksverkehr - gemeinsame Betriebsstätte - Haftungsprivileg des Unternehmers


Zum Sachverhalt:

Die Klägerin ist Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung. Sie macht Ansprüche aus übergegangenem Recht, zum Teil in Verbindung mit einem von den Parteien getroffenen Teilungsabkommen, geltend.

Der bei der Klägerin kraft Satzung als Betreiber einer Wäscherei Versicherte erlitt als Beifahrer in einem vom Versicherungsnehmer der Beklagten gelenkten Kleintransporter am 17. Dezember 2001 schwere Verletzungen. Der Versicherungsnehmer der Beklagten betrieb zum Zeitpunkt des Unfalls eine Teppichreinigung, die der Versicherte der Klägerin im Januar 2002 übernehmen wollte. Zweck der gemeinsamen Fahrt war, dass der Versicherte der Klägerin als potenzieller Unternehmensnachfolger bei den diesem bekannten oder unbekannten Geschäftspartnern als Nachfolger vorgestellt werden sollte.

Zwischen den Parteien besteht ein Teilungsabkommen über Ansprüche nach § 116 SGB X (Bl. 28 bis 30 d.A.). Das Teilungsabkommen sah eine hälftige Beteiligung der Beklagten im Bereich bis zu 100.000,00 DM (50.000,00 ¤) vor. Für Aufwendungen der Berufsgenossenschaft (Klägerin), die diesen Betrag übersteigen, sieht das Teilungsabkommen in § 3 folgende Regelung vor:
  1. Übersteigen im Einzelfall die zwischen den Abkommenspartnern teilbaren Aufwendungen der BG bei Schäden der Kraftfahrt-Haftpflichtversicherung den Betrag von DM 100.000,00 ..., so ist bis zu diesen Beträgen abkommensmäßig zu verfahren. ...

  2. ...

  3. Für den überschießenden Teil wird zum Grund und zur Höhe nach Sach- und Rechtslage verfahren; das gesamte Abkommen gilt also nicht mehr.
Das Landgericht hat dem Zahlungsantrag der Klägerin stattgegeben und festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, die weitergehenden übergangsfähigen Aufwendungen der Klägerin bis zu einem Grenzbetrag von 50.000,00 ¤ abkommensgemäß auszugleichen.

Den weitergehenden Feststellungsantrag der Klägerin, wonach die Beklagte verpflichtet ist, die nach Erschöpfung des Teilungsabkommens entstehenden übergangsfähigen Aufwendungen der Klägerin nach Sach- und Rechtslage auf Grundlage der vollen Haftung auszugleichen, hat das Landgericht abgewiesen.

Das Landgericht hat eine Haftung der Beklagten verneint, weil zu Gunsten des Versicherungsnehmers der Beklagten die Haftungsprivilegierung des § 106 Abs. 3 3. Alt. SGB VII ("gemeinsame Betriebsstätte") eingreife. Es ist der Auffassung, dass die Aktivitäten der Versicherungsnehmer der Parteien aufeinander bezogen und miteinander verknüpft und auf gegenseitige Ergänzung oder Unterstützung ausgerichtet seien. Die gemeinsame Unternehmung habe nicht nur in den Geschäftsräumen der jeweiligen Kunden stattgefunden, sondern auch auf der Fahrtstrecke zwischen den Geschäftsräumen der einzelnen Kunden. Auch die Fahrtstrecke stelle eine Arbeitsverknüpfung dar, weil selbstverständlich sei, dass dabei eine Vorbereitung des Kundengespräches oder die "Verarbeitung" eines solchen Gespräches stattgefunden habe.

Die zulässige Berufung der Klägerin gegen die teilweise Abweisung des Feststellungsantrags hatte Erfolg.

Aus den Entscheidungsgründen:

I.

Das Feststellungsinteresse der Klägerin ergibt sich aus dem Umstand, dass die Erschöpfung des Teilungsabkommens bevorsteht. Bei dem von der Klägerin gewährten Verletztengeld handelt es sich um übergangsfähige Leistungen im Sinne von § 116 SGB X (BGH NJW 2003, 1871).

1.

Soweit der Grenzbetrag von 50.000,00 ¤ nach § 3 des Teilungsabkommens überschritten ist, kann die Klägerin übergangsfähige Aufwendungen nach Sach- und Rechtslage auf der Grundlage der vollen Haftung ersetzt verlangen. Entgegen der Auffassung des Landgerichts liegen die Voraussetzungen für einen Haftungsausschluss nach § 106 Abs. 3 3. Alt. SGB VII nicht vor.

a) Die Haftungsfreistellung scheitert allerdings nicht bereits daran, dass der Versicherungsnehmer der Beklagten als Unternehmer generell nicht in den Privilegierungstatbestand einbezogen wäre. Das Haftungsprivileg des § 106 Abs. 3 3. Alt. SGB VII kommt auch dem versicherten Unternehmer zugute, wenn er selbst eine vorübergehende betriebliche Tätigkeit auf einer gemeinsamen Betriebsstätte verrichtet und dabei den Versicherten eines anderen Unternehmens verletzt (ständige Rechtsprechung: zuletzt BGH NJW 2004, 947).

b) Die Haftungsfreistellung scheidet jedoch aus, weil sich der Unfall, aus dem die Ansprüche des Versicherungsnehmers der Klägerin hergeleitet werden, nicht auf einer gemeinsamen Betriebsstätte ereignet hat.

Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfasst der Begriff einer "gemeinsamen Betriebsstätte" betriebliche Aktivitäten von Versicherten mehrerer Unternehmen, die bewusst und gewollt bei einzelnen Maßnahmen ineinander greifen, miteinander verknüpft sind, sich ergänzen oder unterstützen, wobei es ausreicht, dass die gegenseitige Verständigung stillschweigend durch bloßes Tun erfolgt. Erforderlich ist ein bewusstes Miteinander im Arbeitsablauf, das sich zumindest tatsächlich als ein aufeinander bezogenes betriebliches Zusammenwirken mehrerer Unternehmen darstellt (ständige Rechtsprechung: zuletzt BGH NJW 2004, 947).

Danach kann eine vorübergehende betriebliche Tätigkeit auf einer gemeinsamen Betriebsstätte zwar für die Geschäftslokale der gemeinsam besuchten Kunden zum Zwecke der Einführung des Betriebsübernehmers angenommen werden, nicht jedoch hinsichtlich der dazwischen zurückgelegten Fahrtstrecken im Pkw des Versicherungsnehmers der Beklagten. Allenfalls bei der zuerst genannten Tätigkeit ist von ineinander greifenden Arbeitsabläufen im Sinne von § 106 Abs. 3 3. Alt. SGB VII auszugehen. Eine andere rechtliche Bewertung der betrieblichen Aktivitäten würde dem Sinn der Bestimmung nicht ausreichend Rechnung tragen.

Der dort vorgesehene Haftungsausschluss beruht nämlich (nur) auf dem Gedanken der sog. Gefahrengemeinschaft, die dadurch gekennzeichnet ist, dass typischerweise jeder der in enger Beziehung miteinander Tätigen gleichermaßen zum Schädiger und zum Geschädigten werden kann. Nur demjenigen, der als Schädiger von der Haftungsbestimmung profitiert, kann als Geschädigtem zugemutet werden, den Nachteil hinzunehmen, dass er selbst bei einer Verletzung keine Schadensersatzansprüche wegen seiner Personenschäden geltend machen kann (BGH a.a.O., sowie BGHZ 148, 209, 212; 148, 214, 220). Fahrer und Beifahrer in einem Kraftfahrzeug gefährden sich aber typischerweise nicht gegenseitig. Sie kommen sich nicht "ablaufbedingt in die Quere". Allein der Beifahrer ist dem nahe liegenden Risiko ausgesetzt, durch das Fahrverhalten des Fahrers zu Schaden zu kommen. Die Gefahr, dass der Beifahrer seinerseits dem Fahrer Schaden zufügen könnte, ist aufgrund des fehlenden Miteinanders im Arbeitsablauf rein theoretischer Natur. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um Gefahren, mit denen aufgrund eines Zusammenwirkens der Beteiligten typischerweise zu rechnen war (sog. Alltagsrisiko, vgl. BGH NJW 2004, 949).

Andere Gesichtspunkte, die in den Fällen der §§ 104, 105 SGB VII eine Rolle spielen (Wahrung des Betriebsfriedens, Haftungsersetzung durch die an die Stelle des Schadensersatzes tretenden Leistungen der Unfallversicherung, die vom Unternehmer finanziert wird), kommen dagegen nicht zum Tragen und können deshalb einen Haftungsausschluss nicht rechtfertigen (BGH a.a.O.).

Auch die Verwendung des Begriffs "Betriebsstätte" in § 106 Abs. 3 3. Alt. SGB VII legt eine räumlich begrenzte Örtlichkeit nahe. Während die §§ 104 und 105 SGB VII lediglich auf eine betriebliche Tätigkeit abstellen, verlangt § 106 Abs. 3 3. Alt. SGB VII darüber hinaus, dass die betriebliche Tätigkeit auf einer "gemeinsamen Betriebsstätte" ausgeübt wird. Ob die Benutzung öffentlicher Straßen im fließenden Verkehr grundsätzlich nicht unter den Begriff der Tätigkeit auf einer gemeinsamen Betriebsstätte in diesem Sinn fallen kann (so die Empfehlung des 39. Verkehrsgerichtstages 2001, ebenso Plagemann NZV 2001, 233, 235), bedarf nach dem oben Ausgeführten keiner Entscheidung.

c) Eine Haftungsfreistellung ergibt sich auch nicht aus den §§ 104 und 105 SGB VII. Bei der Durchführung der gemeinsamen Kundenbesuche war weder der Versicherungsnehmer der Beklagten in das Unternehmen des Versicherungsnehmers der Klägerin eingegliedert noch umgekehrt. Vielmehr hat jeder der beiden Unternehmer in erster Linie Aufgaben des eigenen Unternehmens oder zumindest auch solche wahrgenommen. In der Regel ist davon auszugehen, dass derjenige, der Aufgaben wahrnimmt, die sowohl in den Aufgabenbereich seines Unternehmens als auch in denjenigen eines fremden Unternehmens fallen, allein zur Förderung der Interessen seines Unternehmens tätig wird. Erst wenn die Tätigkeit nicht mehr als Wahrnehmung einer Aufgabe seines Unternehmens zu bewerten ist, kann ein Versicherungsschutz gemäß § 2 Abs. 2 S. 1 SGB VII aufgrund der Zuordnung der Tätigkeit zu einem fremden Unternehmen gegeben sein (BGH NJW-RR 2004, 884). Das ist vorliegend jedoch nicht der Fall.

2.

Eine verschuldensunabhängige Haftung nach § 7 StVG scheitert zwar an dem Haftungsprivileg gegenüber Fahrzeuginsassen nach § 8 a StVG a.F., das aufgrund des Unfallzeitpunktes (17. Dezember 2001) noch gilt.

Jedoch haftet die Beklagte für ein Verschulden ihres Versicherungsnehmers. Der Beweis des ersten Anscheins spricht für ein Verschulden desjenigen, der von einer geraden Fahrbahn abkommt. Der Anscheinsbeweis kann nur durch bewiesene Tatsachen entkräftet werden, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs ergibt. Der diesbezügliche Vortrag der Beklagten, wonach ein plötzlicher Druckverlust des rechten vorderen Reifens zum Abkommen von der Fahrbahn geführt habe, bleibt spekulativ. Zwar ist in der polizeilichen Unfallaufnahme festgehalten, dass der vordere rechte Reifen luftleer und vom Felgenhorn abgelöst war. Da dies jedoch auch auf den Aufprall des Fahrzeugs auf die in das Erdreich eingelassene Stahlschutzplanke am rechten Fahrbahnrand mit dem rechten Vorderrad zurückzuführen sein kann, fehlt es an ausreichenden Anknüpfungstatsachen für ein Sachverständigengutachten (vgl. Ermittlungsakten S. 3/4, sowie Lichtbilder 5 bis 8).