Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

Kammergericht Berlin Urteil vom 03.06.2004 - 12 U 68/03 - Radfahrer dürfen über Zebrastreifen "rollern"

KG Berlin v. 03.06.2004: Radfahrer dürfen über Zebrastreifen "rollern"


Das Kammergericht Berlin (Urteil vom 03.06.2004 - 12 U 68/03) hat entschieden:
Steigt der Radfahrer ab und überquert er die Fahrbahn auf dem Fußgänger-Überweg, indem er mit einem Fuß auf ein Pedal steigt und „rollert“, ist dies kein Verstoß gegen das Verbot den Fußgängerüberweg mit dem Fahrrad zu befahren.

Zur Berechnung des Haushaltsführungsschadens gem. § 287 ZPO unter Berücksichtigung des zur Bestimmung der Minderung der Erwerbsfähigkeit eingeholten medizinischen Gutachtens.

50.000 DM Schmerzensgeld für Beinverkürzung mit stationärer Behandlung von etwas mehr als 4 Wochen.


Siehe auch Fußgängerüberweg - Zebrastreifen


Gründe:

1. Die Berufung der Beklagten ist nur insoweit teilweise erfolgreich, als sich die Beklagten mit ihrem Rechtsmittel gegen die Höhe des vom Landgericht zugesprochenen Schmerzensgeldes wenden. Im Übrigen ist die Berufung nicht begründet.

a) Das Berufungsgericht folgt dem Landgericht darin, dass die Klägerin, entgegen der Ansicht der Beklagten, kein Mitverschulden an dem streitigen Verkehrsunfall trifft. Zwar trifft es zu, dass die Klägerin, wenn sie mit ihrem Fahrrad den parallel zur Risaer Straße verlaufenden Radweg in Fahrtrichtung Osten benutzt hätte, die durch Verkehrszeichen 306 angeordnete Vorfahrt des Beklagten zu 1. gegenüber Fahrzeugen aus der Risaer Straße zu beachten gehabt hätte. Es stand der Klägerin jedoch frei, von ihrem Fahrrad abzusteigen und sodann als Fußgängerin die Fußgängerfurt über die Hönower Straße im südlichen Bereich der Einmündung der Risaer Straße in die Hönower Straße zu benutzen. Dass die Klägerin sodann bei dem Versuch, die Hönower Straße zu überqueren, wie das Landgericht festgestellt hat, mit einem Fuß auf das Pedal gestiegen und gerollt ist, führt noch nicht dazu, dass sie den Fußgängerüberweg nicht benutzen durfte. Jedenfalls ist dem Landgericht darin zu folgen, dass eine Unfallursächlichkeit des von den Beklagten beanstandeten Verhaltens der Klägerin nicht festgestellt werden kann. Die Beklagten tragen selbst nicht vor, der Unfall hätte dann vermieden werden können, wenn die Klägerin bei Überquerung der Hönower Straße nicht mit einem Fuß auf eines der Pedale gestiegen und gerollt wäre, sondern das Fahrrad geschoben hätte.

Auch soweit die Beklagten meinen, die Klägerin könne sich nicht darauf berufen, dass der Beklagte zu 2., um an dem haltenden Van des Zeugen ... vorbeizukommen, die durchgezogene Linie (Zeichen 295) auf der Hönower Straße überfahren hat, folgt das Gericht dem nicht. Zwar trifft es zu, dass derartige Fahrbahnbegrenzungen in erster Linie dem Schutz des Gegenverkehrs dienen, doch durfte die Klägerin grundsätzlich auf die Beachtung der Verkehrszeichen durch den Beklagten zu 2. vertrauen. Der vorliegende Sachverhalt ist nach Auffassung des Gerichts nicht anders zu beurteilen, als diejenigen Fälle, in denen ein Kraftfahrer auf einer wartepflichtigen Straße darauf vertraut, dass der Fahrzeugverkehr auf der bevorrechtigten Straße das Rotlicht einer in unmittelbarer Nähe der Kreuzung befindlichen Fußgängerampel beachten werde (vgl. OLG Hamm, VersR 1972, 378; OLG Köln, VersR 2002, 1302).

b) Auch die Einwendungen der Beklagten hinsichtlich des vom Landgericht zuerkannten Haushaltsführungsschadens greifen im Ergebnis nicht durch. Allerdings beanstanden die Beklagten zu Recht, dass das Landgericht unter Berufung auf § 287 ZPO pauschal einen Stundensatz von 10,00 EUR zugrunde gelegt hat. Bei der Berechnung des so genannten Haushaltsführungsschadens hat sich die Anwendung der einschlägigen Tabellen (Schulz-Borck/Hofmann, Schadensersatz bei Ausfall von Hausfrauen und Müttern im Haushalt, 6. Aufl.) weitgehend durchgesetzt. Da es sich bei dem Haushalt der Klägerin um einen Durchschnittshaushalt ohne Kinder handelt, ist grundsätzlich die Vergütungsgruppe VIII BAT-O einschlägig. Danach beträgt die Stundenvergütung 15,97 DM brutto. Hiervon sind noch Abzüge für Steuern und Sozialversicherungsbeiträge vorzunehmen. Gleichwohl ist der vom Landgericht der Klägerin als Haushaltsführungsschaden zugesprochener Betrag nicht zu beanstanden. Denn das Landgericht hat, auf der Grundlage des klägerischen Vorbringens eine Wochenarbeitszeit von lediglich 10,6 Stunden zugrunde gelegt. Tatsächlich beträgt jedoch der Arbeitszeitaufwand einer erwerbstätigen Ehefrau in einem Zweipersonenhaushalt durchschnittlich 27,1 Stunden (vgl. Schulz-Borck/Hofmann a.a.O. Tabelle 8 Nr. 11). Bei einer Wochenarbeitszeit von 27 Stunden ergibt sich jedoch eine monatliche Nettovergütung nach der Tabelle 5 B bei Schulz-Borck/Hofmann in Höhe von 1.530,94 DM = 782,76 EUR. Dieser Betrag liegt deutlich über demjenigen, den das Landgericht im Ergebnis errechnet hat.

Soweit die Beklagten einwenden, die Beeinträchtigung der Klägerin bei der Arbeit im Haushalt aufgrund der bei dem streitgegenständlichen Unfall erlittenen Verletzungen sei nicht mit der berufsbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit gleichzusetzen, wie sie von dem Landgericht bei seiner Berechnung zugrunde gelegt worden ist, trifft dies grundsätzlich zu. Dem Gericht ist aus einem in dem Verfahren 12 U 276/02 eingeholten Gutachten eines medizinischen Sachverständigen bekannt, dass sich unfallbedingte Verletzungen im Erwerbsleben und bei der Haushaltsführung unterschiedlich stark auswirken können. Andererseits ist jedoch zu berücksichtigen, dass das Landgericht bei der Berechnung des Haushaltsführungsschadens Beträge zugrunde gelegt hat, die nicht unerheblich unter denjenigen liegen, die sich bei Anwendung der einschlägigen Tabellen für die Berechnung eines Haushaltsführungsschadens ergeben würden. Das Gericht sieht daher unter Berücksichtigung der Beweiserleichterung gemäß § 287 ZPO von der Einholung eines weiteren medizinischen Sachverständigengutachtens zur Frage der haushaltsspezifischen Beeinträchtigung aufgrund der bei dem Unfall erlittenen Verletzungen ab, zumal die Kosten eines solchen Gutachtens in keinem angemessenen Verhältnis zu der Höhe des vom Landgericht zugesprochenen Haushaltsführungsschadens stünden.

c) Zu Recht wenden sich die Beklagten gegen die Höhe des vom Landgericht ausgeurteilten Schmerzensgeldes. Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes ist von seiner Doppelfunktion auszugehen. Es soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich für diejenigen Schäden bieten, die nicht vermögensrechtlicher Art sind und zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten Genugtuung dafür schuldet, was er ihm angetan hat. Der Entschädigungs- und Ausgleichsgedanke steht dabei im Vordergrund. Die wesentliche Grundlage für die Höhe der Bemessung des Schmerzensgeldes bilden das Maß und die Dauer der Lebensbeeinträchtigung, die Größe, Heftigkeit und die Dauer der Schmerzen und Leiden sowie die Dauer der Behandlung und der Arbeitsunfähigkeit, Übersehbarkeit des weiteren Krankheitsverlaufes, die Fraglichkeit der endgültigen Heilung sowie ferner der Grad des Verschuldens und die Gesamtumstände des Falles. Dabei ist auch zu berücksichtigen, was andere Gerichte in vergleichbaren Fällen zugesprochen haben.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hält das Gericht ein Schmerzensgeld in Höhe von insgesamt 50.000,00 DM für angemessen, so dass die Klägerin unter Berücksichtigung der vorprozessual von der Beklagten zu 1. gezahlten 30.000,00 DM noch weitere 20.000,00 DM bzw. 10.225,84 EUR beanspruchen kann. Dabei folgt das Berufungsgericht dem Landgericht darin, dass den Beklagten zu 2. an dem streitgegenständlichen Unfall ein erhebliches Verschulden trifft. Allerdings rechtfertigen die von der Klägerin bei dem bedauerlichen Unfall erlittenen Verletzungen, obwohl diese gewiß nicht unerheblich sind, nach Auffassung des Gerichts kein Schmerzensgeld in der vom Landgericht für angemessenen Höhe von 80.000,00 DM. Die vom Landgericht als Vergleichsmaßstab herangezogene Entscheidung des LG Saarbrücken vom 16. August 2000 erscheint mit dem vorliegenden Fall nicht als vergleichbar. In dem vom Landgericht Saarbrücken zu entscheidenden Fall musste der Kläger zur Behandlung der bei dem Unfall erlittenen Verletzungen insgesamt sechs Wochen stationär behandelt werden, während die Klägerin nach etwas mehr als vier Wochen aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte. Anders als hier waren in dem vom Landgericht Saarbrücken zu entscheidenden Fall im Verlauf der folgenden drei Jahre insgesamt elf körperliche Folgeeingriffe zur Therapie der Verletzungen erforderlich. Auch führten die Verletzungen nicht nur zu einer Beinverkürzung, wie sie auch die Klägerin erlitten hat, sondern darüber hinaus zu einer erheblichen Deformierung des Unterschenkels, zu orthopädischen Veränderungen des Kniegelenks, ausgeprägten Weichteilveränderungen des gesamten linken Unterschenkels sowie einer erkennbaren Deformierung des Unterschenkels. Der Kläger musste aufgrund seiner Verletzungen seinen Beruf als Elektriker aufgeben. Als erschwerend hat das Landgericht Saarbrücken berücksichtigt, dass der Kläger im dortigen Fall über längere Zeit erhöhten psychischen Beeinträchtigungen aufgrund einer konkreten Amputationsgefahr ausgesetzt war. Vergleichbare Umstände hat das Landgericht für den vorliegenden Fall nicht festgestellt. Vergleichbar erscheint demgegenüber eine Entscheidung des OLG Frankfurt vom 6. Februar 1995 (bei Slizyk, Schmerzensgeldbeträge, 4. Aufl., Seite 437 Nr. 1934). Dort hat das OLG Frankfurt für eine mittelschwere bis schwere Knieverletzung die zu einer dauerhaften Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 % geführt hat, einen Schmerzensgeldbetrag in Höhe von 45.000,00 DM für angemessen gehalten. Unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich eingetretenen Geldentwertung erscheint dem Gericht ein Betrag von 50.000,00 DM als angemessen.

Neben dem vom Landgericht rechtsfehlerfrei zuerkannten weiteren Sachschaden in Höhe von insgesamt 1.640,98 DM kann die Klägerin mithin ein weiteres Schmerzensgeld in Höhe von 10.225,84 EUR (20.000,00 DM) beanspruchen, so dass sich eine Gesamtforderung von 11.866,82 EUR ergibt.

2. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Sache weder grundsätzliche Bedeutung hat noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgericht erfordern (§ 543 Abs. 1 ZPO).

3. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 713 ZPO i. V. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.