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Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 16.11.1998 - 2 BvR 510/96 - Zum Recht der Ausssageverweigerung aus dem Gesichtspunkt der Menschenwürde
BVerfG v. 16.11.1998: Zum Recht der Ausssageverweigerung aus dem Gesichtspunkt der Menschenwürde
Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 16.11.1998 - 2 BvR 510/96) hat entschieden:
- Ein Zwang zur Selbstbezichtigung berührt die Würde des Menschen, dessen Aussage als Mittel gegen ihn selbst verwendet wird. Unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar ist ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafrechtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen.
- Ist über die Berechtigung einer auf § 55 StPO gestützten Auskunftsverweigerung zu entscheiden, muss nach der strafgerichtlichen Rechtsprechung die Möglichkeit einer Bejahung und einer Verneinung der an den Zeugen gerichteten Frage in gleicher Weise in Betracht gezogen werden. Bringt auch nur eine dieser Möglichkeiten den Zeugen in die Gefahr einer Strafverfolgung, ist die Auskunftsverweigerung in der Regel berechtigt.
Siehe auch Aussageverweigerungsrecht - Zeugnisverweigerungsrecht - Schweigerecht
Zum Sachverhalt: Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Anordnung von Beugehaft in einem Strafverfahren, in dem er als Zeuge unter Berufung auf § 55 Abs. 1 StPO die Auskunft verweigert hat.
Der Ermittlungsrichter des Amtsgerichts vernahm den Beschwerdeführer auf Antrag der Staatsanwaltschaft in einem Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen des Verdachts des unerlaubten Entfernens vom Unfallort als Zeugen zu der Frage, wer sein Kraftfahrzeug zum Unfallzeitpunkt geführt habe. Der Beschwerdeführer verweigerte unter Berufung auf § 55 StPO die Auskunft auf diese Frage mit der Begründung, er setze sich bei pflichtgemäßer und vollständiger Äußerung selbst der Gefahr der Strafverfolgung aus. Der Ermittlungsrichter ordnete daraufhin "gem. § 70 Abs. 2 StPO Ordnungshaft" bis zu sechs Wochen an.
Mit der angegriffenen Entscheidung verwarf das Landgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Entscheidung des Ermittlungsrichters als unbegründet. Zur Begründung führte das Landgericht unter Bezugnahme auf vorausgegangene Entscheidungen in dieser Sache aus, das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 StPO stehe dem Beschwerdeführer nicht zu, weil er ausweislich seiner früheren Angaben durch eine wahrheitsgemäße Aussage weder sich noch einen Angehörigen der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen werde. Bei diesen früheren Angaben handelt es sich um die Einlassung des Beschwerdeführers in dem gegen ihn wegen desselben Tatverdachts geführten, im Zeitpunkt der Vernehmung gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellten Ermittlungsverfahren. Hier hatte sich der Beschwerdeführer zu dem Tatvorwurf dahin eingelassen, er kenne den Namen des Fahrers, der mit seinem Kraftfahrzeug den Unfall verursacht habe, und dieser sei mit ihm weder verwandt noch verschwägert. Er mache aber gegenüber der Polizei keine weiteren Angaben, weil er sich möglicherweise in dieser Sache selbst belasten könne.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... I.
II.
...
III.
Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind bereits entschieden (vgl. BVerfGE 38, 105 ff.; 56, 37 ff.).
Die angegriffene Entscheidung verletzt die Rechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG. Die Anordnung der Beugehaft soll die Erfüllung einer Auskunftspflicht erzwingen, deren Auferlegung gegen Grundrechte des Beschwerdeführers verstößt.
Die Auferlegung einer Auskunftspflicht, durch die die Auskunftsperson in die Konfliktsituation geraten kann, sich entweder selbst einer strafbaren Handlung zu bezichtigen oder durch eine Falschaussage gegebenenfalls ein neues Delikt zu begehen oder aber wegen ihres Schweigens Zwangsmitteln ausgesetzt zu werden, ist als Eingriff in die Handlungsfreiheit sowie als Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG zu beurteilen. Ein Zwang zur Selbstbezichtigung berührt zugleich die Würde des Menschen, dessen Aussage als Mittel gegen ihn selbst verwendet wird (vgl. BVerfGE 56, 37 (41 f.)). Unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar ist ein Zwang, durch eigene Aussagen die Voraussetzungen für eine strafrechtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen (vgl. BVerfG a.a.O., S. 49). Das Auskunftsverweigerungsrecht des § 55 Abs. 1 StPO ist Ausfluss dieses allgemeinen, für den Beschuldigten in §§ 136, 163a, 243 StPO und entsprechenden Vorschriften als selbstverständlich vorausgesetzten rechtsstaatlichen Grundsatzes, dass niemand gezwungen werden kann, gegen sich selbst auszusagen (vgl. BVerfGE 38, 105 (113)).
Ist über die Berechtigung einer auf § 55 StPO gestützten Auskunftsverweigerung zu entscheiden, muss nach der strafgerichtlichen Rechtsprechung die Möglichkeit einer Bejahung und einer Verneinung der an den Zeugen gerichteten Frage in gleicher Weise in Betracht gezogen werden. Bringt auch nur eine dieser Möglichkeiten den Zeugen in die Gefahr einer Strafverfolgung, ist die Auskunftsverweigerung in der Regel berechtigt. Andernfalls würde der (schuldige) Zeuge durch den Gebrauch des Auskunftsverweigerungsrechts einen Verdachtsgrund gegen sich schaffen, was dem Schutzzweck von § 55 StPO zuwiderliefe (vgl. BGHR StPO § 55 Abs. 1 Auskunftsverweigerung 3). Für die Gefahr der strafgerichtlichen Verfolgung muss es konkrete tatsächliche Anhaltspunkte geben (vgl. BGHR StPO § 55 Abs. 1 Auskunftsverweigerung 5). Ob diese Gefahr besteht, unterliegt der tatsächlichen Beurteilung durch den Tatrichter (vgl. BGHR StPO § 55 Abs. 1 Auskunftsverweigerung 2).
... Tatsächlicher Anhaltspunkt für die Annahme, dass der Beschwerdeführer sich bei wahrheitsgemäßer Beantwortung der an ihn gestellten Frage selbst der verfahrensgegenständlichen Straftat bezichtigen müsste, ist der Umstand, dass er Halter des offenbar privatgenutzten unfallbeteiligten Fahrzeugs ist. Diesen tatsächlichen Anhaltspunkt sah das Landgericht durch seine Erklärungen gegenüber der Polizei und der Staatsanwaltschaft als entkräftet an. Das Landgericht legte aber nicht offen, aufgrund welcher Überlegungen es die naheliegende Möglichkeit ausschloss, dass es sich bei diesen Erklärungen lediglich um eine Schutzbehauptung des Beschwerdeführers gehandelt habe. Die Staatsanwaltschaft schloss diese Möglichkeit ersichtlich nicht aus. Dies ergibt sich aus der Begründung für die Verfügung, mit der sie das gegen den Beschwerdeführer eingeleitete Strafverfahren einstellte. Dort wird ausgeführt, es könne dem Beschwerdeführer nicht nachgewiesen werden, dass er zum Zeitpunkt des Unfalls das Fahrzeug selbst gefahren habe. Der verfassungsrechtliche Grundsatz, dass niemand gezwungen werden kann, gegen sich selbst auszusagen, hätte das Landgericht zumindest veranlassen müssen, sich in den Gründen der angegriffenen Entscheidung mit der Glaubhaftigkeit der von dem Beschwerdeführer als Beschuldigten abgegebenen Erklärungen auseinanderzusetzen. ..."