Das Verkehrslexikon

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Zum Problem der Kausalität HWS-Schleudertraumas infolge eines Unfalls mit nur sehr geringer Anstoßgeschwindigkeit

Überblick: Zum Problem der Kausalität HWS-Schleudertraumas infolge eines Unfalls mit nur sehr geringer Anstoßgeschwindigkeit


Siehe auch
Halswirbelschleudertrauma - Lendenwirbelschleudertrauma
und
Haftungsrechtlicher Zurechnungszusammenhang




Die intensive interdisziplinäre Forschungsarbeit zum Thema "Heckaufprall und Halswirbelschleudertrauma" hat im wesentlichen folgendes ergeben (vgl. z.B. die Zusammenfassung in Michael Weber, "Die Aufklärung des Kfz.-Versicherungsbetruges", 1995, das ganze Kapitel 10):

Entscheidend ist keineswegs einfach eine festgestellte Aufprallgeschwindigkeit des hinteren Fahrzeugs, sondern die Geschwindigkeitsänderung des angestoßenen Fahrzeugs. Diese ist aber wiederum von mehreren Faktoren abhängig, die stark von den Einzelheiten des individuellen Falles abhängen, u.a. spielen hier eine Rolle die Aufprallgeschwindigkeit des stoßenden Fahrzeugs, das Massenverhältnis der beteiligten Fahrzeuge, die Steifigkeit der Kontaktzonen im Fahrzeugschadensbereich, die Insassenbesetzungsdichte der beteiligten Fahrzeuge.


Es haben sich aufgrund der vorgenannten Untersuchungen weithin anerkannte Grenzwerte für die Problematik der Halswirbelverletzungen ergeben. Geschwindigkeitsänderungen bis zu 10 km/h sollen in der Regel nicht verletzungskausal und als harmlos zu beurteilen sein; Geschwindigkeitsänderungen des angestoßenen Fahrzeugs im Bereich von 10 bis 15 km/h ermöglichen HWS-Verletzungen.

Bei kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen von mehr als 15 km/h sind nach heutigem Kenntnisstand Verletzungen der Halswirbelsäule nicht mehr auszuschließen.

Übersetzt man die aus dem Sprachgebrauch technischer Sachverständiger kommenden Begriffe "nicht verletzungskausal", "möglich" und "nicht auszuschließen" in ein Juristendeutsch unter dem Gesichtspunkt der zivilprozessualen Beweisvorschriften, dann wird man entsprechend einsetzen können: "unwahrscheinlich", "möglich" und "wahrscheinlich". Würde man insbesondere den Begriff "nicht mehr auszuschließen" als bloßes non-liquet auffassen, dann bliebe schließlich überhaupt kein Bereich übrig, in dem HWS-Verletzungen wahrscheinlich wären. Absolute Sicherheit gibt es in diesem Bereich sowieso nicht, weil es auch schlimmste Aufprall-Unfälle gibt, bei denen die Insassen ("wie durch ein Wunder") unverletzt bleiben.

Zivilrechtlich am problematischsten sind also die Geschwindigkeitsveränderungen im Bereich von 10 bis 15 km/h, bei denen Sachverständige lediglich auf die Möglichkeit von entsprechenden Verletzungsfolgen verweisen. Hier soll die Entscheidung dann von weiteren individuellen Parametern abhängig gemacht werden, die zu einer Begünstigung der Entstehung einer HWS-Verletzung beitragen können, wie z.B. schlechte konstruktive Gestaltung der Kopfstützen, zunehmendes Lebensalter, weibliches Geschlecht, schlechte Körperkonstitution usw.

Letztlich muss also wegen der technischen und rechnerischen Schwierigkeit bei der Feststellung der Geschwindigkeitsänderung des angestoßenen Fahrzeugs in der Regel ein unfallanalytischer Sachverständiger eingeschaltet werden.

Die Geschwindigkeiten von Fahrzeugen bei Auffahrunfällen können durch Rückrechnung ermittelt werden. Dafür werden zwei physikalische Grundsätze miteinander kombiniert, nämlich der Energie-Erhaltungs-Satz und der Impuls-Erhaltungs-Satz.

Nach dem Energie-Erhaltungs-Satz ist die Gesamtsumme der kinetischen Energien der Fahrzeuge vor der Kollision gleich der Summe der kinetischen Energien der Fahrzeuge nach der Kollision zuzüglich der geleisteten (also als Geschwindigkeit "verbrauchten") Formänderungsenergie.

Die kinetische Energie der beteiligten Fahrzeuge ist abhängig von deren Geschwindigkeit und ihrer Unfallmassen. Die Formänderungsenergie wird von Sachverständigen taxiert, indem sie bestimmte Erhaltungssatz-Werte auf die Masse der Fahrzeuge beziehen.

Schließlich wird bei der Berechnung mit Hilfe des Impuls-Erhaltungs-Satzes die Elastizität der Fahrzeugkarosserien berücksichtigt.

Die kombinatorische Berechnung unter Berücksichtigung der vorgenannten Größen ermöglicht es dem Sachverständigen, die Geschwindigkeiten zweier aufeinander geprallter Fahrzeuge exakt zum Kollisionszeitpunkt und auch genau nach diesem Zeitpunkt zu errechnen. Der Unterschied ist dann quasi die Geschwindigkeitsänderung, die das angestoßene Fahrzeug mit der durch den Aufprall verabreichten Beschleunigung erfahren hat.

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