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OLG Frankfurt am Main Urteil vom 16.06.2000 - 25 U 249/99 - Zur Haftungsverteilung bei einem Unfall im Bereich einer abknickenden Vorfahrt

OLG Frankfurt am Main v. 16.06.2000: Zur Haftungsverteilung bei einem Unfall im Bereich einer abknickenden Vorfahrt




Das OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 16.06.2000 - 25 U 249/99) hat entschieden:

   Kommt es im Bereich einer abknickenden Vorfahrt zu einer Kollision, weil der Wartepflichtige zu schnell an die Wartelinie heranfährt und damit den Bevorrechtigten zu einem Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot veranlasst, so spricht der Beweis des ersten Anscheins gegen den Wartepflichtigen, und es ist eine Haftungsverteilung von 2/3 zu 1/3 zu Lasten des Wartepflichtigen angezeigt.


Siehe auch
Abknickende Vorfahrt

und
Stichwörter zum Thema Abbiegen

Tatbestand:


Die Parteien streiten um die Haftungsquote aus einem Verkehrsunfall, der sich auf der ... in ... ereignet hat. Der Kläger befuhr die ... am 8.7.1997 gegen 18.25 Uhr aus ... kommend in Richtung .... Die ... mündet mit einer annähernd rechtwinkligen Rechtskurve in die Bundesstraße .... Im Scheitelpunkt dieser Rechtskurve zweigt - aus Fahrtrichtung des Klägers gesehen - in fast gerader Verlängerung der ... die parallel zur Bundesstraße ... verlaufende Nebenstrecke nach ... ab. Der Kläger wollte diese Nebenstraße benutzen.



Zu dieser Zeit näherte sich von der Bundesstraße ... kommend die Beklagte zu 1) mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Fahrzeug auf der ..., der sie in ihrem Verlauf, der durch Zeichen 306 (Vorfahrt) mit Zusatzzeichen "abknickende Vorfahrt nach links" beschildert ist, mit ca. 60 km/h Richtung ... folgen wollte. Zu Beginn des Kurvenbereichs befindet sich - aus Sicht der Beklagten zu 1) - eine Verkehrsinsel, an die sich zunächst eine Sperrfläche (Zeichen 298) und schließlich zwei trichterförmig aufeinander zulaufende unterbrochene Leitlinien (Zeichen 340) anschließen. Im letztgenannten Bereich kam es zur annähernd frontalen Kollision zwischen den beiden Fahrzeugen. Das Fahrzeug des Klägers erlitt Totalschaden. Nach einem vom Kläger eingeholten Schadensgutachten betrug der Wiederbeschaffungswert 33.000,00 DM. Das Fahrzeug hatte einen Restwert von 11.000,00 DM.

Eine vorprozessuale Mahnung der Beklagten zu 2) zur Zahlung von 26.464,67 DM, zusammengesetzt aus 22.265,78 DM Reparaturkosten, 1.400,00 DM Wertminderung, 862,96 DM Sachverständigenkosten, 309,93 DM Abschleppkosten, 100,00 DM Ab- und Anmeldekosten, 1.476,00 DM Nutzungsausfallentschädigung und 50,00 DM Kostenpauschale, bis 28.9.1997 blieb ohne Ergebnis.

Mit der am 2.12.1997 zugestellten Klage hat der Kläger im ersten Rechtszug behauptet, sein Fahrzeug habe zum Unfallzeitpunkt gestanden, und zwar vor der die Fahrbahn der Beklagten zu 1) begrenzenden Linie. Die Beklagte zu 1) habe mit überhöhter Geschwindigkeit oder aus Unachtsamkeit die Sperrfläche überfahren und die Kurve geschnitten. Er hat gemeint, die Beklagte zu 1) sei deswegen für den eingetretenen Schaden allein verantwortlich, während für ihn der Unfall unabwendbar gewesen sei.

Neben dem Schaden von 26.464,67 DM seien von den Beklagten eine beim Unfall total beschädigte, im Januar 1994 für 1.099 DM erworbene Brille mit dem Neuwert sowie 12,40 DM Portokosten für die Übersendung der Brille an die Beklagte zu 2) zu ersetzen.

Er hat beantragt,

   die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 27.576,07 DM zu zahlen nebst 4% Zinsen aus 26.464,67 DM seit dem 29.9.1997 und aus weiteren 1.111,40 DM ab Rechtshängigkeit.


Die Beklagten haben beantragt,

   die Klage abzuweisen.


Sie haben vorgetragen, der Unfall habe sich auf der Fahrbahnseite der Beklagten zu 1) ereignet. Der Kläger habe sich mit einer Geschwindigkeit von ca. 70 km/h der Unfallstelle genähert. Allein die Vorfahrtsverletzung durch den Kläger sei unfallursächlich.




Das Landgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen ... und ... sowie durch Einholung eines schriftlichen, mündlich erläuterten Gutachtens des Sachverständigen Dipl.Ing. ...

Mit Urteil vom 13.10.1999 hat die Einzelrichterin der 6. Zivilkammer des Landgerichts Kassel die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von 25.350,79 DM nebst 4% Zinsen aus 24.788,89 DM seit dem 29.9.1997 und aus weiteren 561,90 DM seit dem 2.12.1997 verurteilt und im übrigen die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es könne dahinstehen, ob der Unfall für den Kläger ein unabwendbares Ereignis gewesen sei oder ob der Kläger den Unfall hätte vermeiden können, wenn er sich der Unfallstelle mit geringerer Geschwindigkeit genähert hätte. Jedenfalls trete eine eventuelle Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs hinter dem überwiegenden Verschulden der Beklagten zu 1) zurück. In der Höhe könne der Kläger allerdings nicht Ersatz der Reparaturkosten verlangen, sondern müsse auf Totalschadensbasis (Wiederbeschaffungswert abzüglich Restwert) abrechnen. Als Unkostenpauschale seien nur 40,00 DM anzusetzen. Hinsichtlich der Brille sei ein Altersabzug von 50% vorzunehmen, so dass insoweit nur 549,50 DM sowie 12,40 DM Portokosten zu erstatten seien.

Gegen das am 24.11.1999 zugestellte Urteil haben die Beklagten am 14.12.1999 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 14.12.2000 mit einem am 27.1.2000 eingegangenen Schriftsatz begründet.

Sie meinen, aufgrund des festgestellten Sachverhaltes habe das Landgericht zu einem Mitverschulden des Klägers in Höhe von 50% gelangen müssen. Den Kläger treffe der Vorwurf des Mitverschuldens, weil er mit einer für die Verkehrssituation zu hohen Geschwindigkeit von 50 bis 60 km/h an die Unfallstelle herangefahren sei. Dies sei mitwirkende Ursache des Zusammenstoßes gewesen, weil die Beklagte zu 1) in der Lage gewesen wäre auszuweichen, wenn der Kläger mit seinem Fahrzeug bereits gestanden hätte. Die Beklagte zu 1) habe angesichts dieser Fahrweise des Klägers davon ausgehen müssen, dass der Kläger entweder in Richtung B abbiegt oder hinter ihr über die Sperrfläche in Richtung ... weiterfahre.




Die Beklagten beantragen,

   das Urteil des Landgerichts Kassel abzuändern, soweit die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von mehr als 12.675,40 DM nebst 4% Zinsen aus 12.394,44 DM seit dem 29.9.1997 und aus weiteren 280,95 DM seit dem 2.12.1997 verurteilt wurden und die Klage insoweit abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

   die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angegriffene Urteil. Gegenüber dem nach der erstinstanzlichen Beweisaufnahme feststehenden Verschulden der Beklagten zu 1) werde von Beklagtenseite nichts vorgetragen, das den Schluss rechtfertige, auch die Fahrweise des Klägers sei in irgendeiner Weise ursächlich für den Unfall gewesen. Tatsächlich treffe den Kläger aber an dem konkreten Unfall kein Verschulden, sondern der Unfall beruhe allein auf der Fahrweise der Beklagten zu 1).

Die Parteien haben sich mit einer Entscheidung durch den Einzelrichter einverstanden erklärt.





Entscheidungsgründe:


Die Berufung der Beklagten ist zulässig, insbesondere statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet.

In der Sache hat die Berufung, soweit das erstinstanzliche Urteil angegriffen wird, überwiegend Erfolg.



Die Beklagten haben als Gesamtschuldner den Schaden des Klägers gem. §§ 7, 17 StVG, 3 PflVG nur zu 2/3 zu ersetzen.

Eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile ist geboten, weil für keines der beiden unfallbeteiligten Fahrzeuge Unabwendbarkeit in Betracht kommt.

Für das Fahrzeug der Beklagten zu 1) folgt dies bereits daraus, dass die Beklagte zu 1) erheblich gegen das Rechtsfahrgebot des § 2 Abs. 2 StVO verstoßen hat. Ihre Fahrlinie führte anstatt über die - in ihrer Fahrtrichtung - rechte Fahrspur der ... mittig über den durch Leitlinien trichterförmig markierten Bereich. Entgegen der Ansicht des Klägers war der Unfall in seiner konkreten Gestalt auch für ihn kein unabwendbares Ereignis. Unabwendbarkeit liegt nicht bereits dann vor, wenn es bei ordnungsgemäßem Fahrverhalten ebenfalls zu einer Kollision gekommen wäre, sondern erst dann, wenn bei Anwendung der äußersten möglichen Sorgfalt weder die Kollision hätte vermieden werden können noch der Umfang der Schäden ein wesentlich geringerer gewesen wäre. Diese Sorgfalt hat der Kläger ersichtlich nicht walten lassen. Vielmehr hat er seinerseits einen schuldhaften Beitrag geleistet, indem er die ihm nach § 9 Abs. 3 StVO obliegende Wartepflicht verletzt hat. Im Rahmen der Abwägung nach § 17 StVG führt dies zu einer Mithaftung im Umfang von 1/3.

Da der Kläger die Fahrspur der Beklagten zu 1) auf der ... hätte kreuzen müssen, um in die Nebenstrecke nach ... einzufahren, war er gegenüber dem von der Bundesstraße ... kommenden Verkehr gemäß § 9 Abs. 3 StVO wartepflichtig. Infolge der abknickenden Vorfahrt auf der ... bedeutete das vom Kläger beabsichtigte Fahrmanöver ein Linksabbiegen im Sinne des § 9 Abs. 3 StVO. In allen Fällen der Wartepflicht muss der Pflichtige deutlich auf Wartepflicht fahren, nämlich durch sein Fahrverhalten anzeigen, dass er warten wird. Dazu ist insbesondere erforderlich, dass der Wartepflichtige seine Fahrgeschwindigkeit deutlich verlangsamt. Die Wartepflicht ist deswegen nicht erst dann verletzt, wenn es auf der Fahrbahnseite des entgegenkommenden Berechtigten zur Kollision kommt, sondern bereits dann, wenn ein Berechtigter wegen des Fahrverhaltens des Wartepflichtigen eine Missachtung seines Vorrangs befürchten muss. Dies hat seinen Grund darin, dass ein solches Verhalten des Wartepflichtigen in aller Regel den Berechtigten zu einer Reaktion zwingt, die im Idealfall unfallverhütend wirken kann.

Diese Pflichten hat der Kläger nicht hinreichend beachtet. Nach den Berechnungen des Sachverständigen, die dieser auch nach Durchführung des Ortstermins aufrechterhalten hat, bewegte sich das vom Kläger geführte Fahrzeug noch im Zeitpunkt der Kollision mit einer Geschwindigkeit von mindestens 47 km/h. Damit ist die Behauptung des Kläger, sein Fahrzeug habe zur Zeit der Kollision gestanden, widerlegt. Sachliche Fehler lassen die nachvollziehbaren Erläuterungen des Sachverständigen nicht erkennen und werden vom Kläger auch nicht aufgezeigt.

Mit dieser Geschwindigkeit war der Kläger unter keinen Umständen mehr in de Lage, sein Fahrzeug rechtzeitig anhalten, um einem von der Bundesstraße ... entgegen kommenden Fahrzeug den Vorrang zu gewähren. Selbst im Falle einer zur Zeit der Kollision eingeleiteten Vollbremsung hätte der Kläger noch circa 10m bis zum Stillstand benötigt. Die vom Sachverständigen nach Ortsbesichtigung rekonstruierte Kollisionsposition befindet sich indes nur etwa 2m entfernt von der Leitlinie des trichterförmigen Bereichs, die die Fahrbahnhälfte der Beklagten zu 1) abgrenzt. Dort hätte der Kläger spätestens anhalten müssen.

Eben weil durch ein zu schnelles Heranfahren an die Wartelinie typischerweise eine Ausweichreaktion des bevorrechtigten Verkehrsteilnehmers hervorgerufen wird, spricht in solchen Fällen schon der erste Anschein für einen schuldhaften Mitverursachungsbeitrag des Wartepflichtigen. Dieser Anschein könnte nur erschüttert werden durch den Nachweis eines atypischen Geschehensablaufs, der nur gegeben wäre, wenn die Beklagte zu 1) auf die Verletzung der Wartepflicht überhaupt nicht reagiert hätte. Das lässt sich nicht feststellen. Der Umstand, dass sie sich ihrerseits nicht verkehrsgerecht verhalten hat, genügt dafür nicht. Denn auch eine Fehlreaktion des Berechtigten würde immer noch auf der Verletzung der Wartepflicht beruhen. Dass sich die Verletzung der Wartepflicht vor allem auch in der Schwere der Schäden ursächlich niedergeschlagen hat, liegt im übrigen auf der Hand. Bei einem fast frontalen Zusammenstoß ist die Kollisionsenergie, die zum großen Teil durch Verformung der Fahrzeugteile abgebaut wird, und damit der Fahrzeugschaden um so höher, je schneller die unfallbeteiligten Fahrzeug im Kollisionszeitpunkt waren.

Die Abwägung der beiderseitigen Beiträge zum verursachten Schaden führt zu einer überwiegenden Haftung der Beklagten im Verhältnis von 2 zu 1. Die Beklagte zu 1) hat die rechte Fahrbahnhälfte mit der ganzen Breite ihres Fahrzeugs verlassen, wobei sie die Unfallposition nur unter Überquerung der Sperrfläche erreichen konnte. Sie damit objektiv in sehr erheblicher Weise gegen § 2 Abs. 2 StVO und das Benutzungsverbot des § 41 Abs. 3 Nr. 6 StVO verstoßen. Als Ausweichreaktion auf das Fahrverhalten des Klägers war diese verkehrsordnungswidrige Fahrweise weder geboten noch sachgerecht, weil sie sich damit auf die Gefahr zubewegte anstatt von ihr weg.

Die Haftungsquote von 2/3 führt dazu, dass von dem in der Berufungsinstanz unstreitigen Schaden von 25.350,79 DM nur 16.900,53 DM zu ersetzen sind.




Der Zinsanspruch in Höhe von 4% folgt aus §§ 288 a.F., 284 Abs. 1 BGB. Mit der Zahlung des Teilbetrages von 16.525,93 DM befanden sich die Beklagten infolge der Mahnung zum 28.9.1997 ab dem Folgetag in Verzug, wobei die Mahnung gegenüber der Beklagten zu 2) infolge von § 10 Nr. 5 AKB zugleich zu Lasten der Beklagten zu 1) wirkt. Hinsichtlich des anteiligen Betrages wegen Beschädigung der Brille und der nicht beanstandeten Portokosten, zusammen 374,60 DM, ist Verzug erst mit dem auf die Zustellung der Klage folgenden Tag, also ab 3.12.1997, eingetreten (BGH, NJW-RR 1990, 519). Infolge der nicht angegriffenen und damit rechtskräftigen Verurteilung im Umfang des hälftigen Brillenschadens, verbleibt es indes hinsichtlich eines Teilbetrages von 280,95 DM bei der erstinstanzlich ausgeurteilten Zinspflicht.

Die Kostenentscheidung beruht wegen des teilweisen Obsiegens und Unterliegens beider Parteien auf §§ 97 Abs. 1, 92 Abs. 1 ZPO.

Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat seine Grundlage in § 708 Nr. 10 ZPO.

Streitwert für das Berufungsverfahren: 12.675,40 DM.

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