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Verwaltungsgerichtshof München Beschluss vom 04.12.2017 - 11 C 17.2183 - Epilepsie und Fahrerlaubnis

VGH München v. 04.12.2017: Abklärung der Diagnose Anfallsleiden durch ein weiteres Facharztgutachten




Der Verwaltungsgerichtshof München (Beschluss vom 04.12.2017 - 11 C 17.2183) hat entschieden:

   Gemäß Nr. 6.6 der Anlage 4 zu §§ 11, 13 und 14 FeV besteht bei Epilepsie nur ausnahmsweise Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1, wenn kein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven mehr besteht, z.B. bei zweijähriger Anfallsfreiheit. Nach den Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung ist zu differenzieren, ob es sich um einen erstmaligen Anfall oder wiederholte Anfälle handelt. Danach können ggf. auch persistierende Anfälle vorliegen, die die Kraftfahreignung nicht einschränken, wenn die Anfälle z.B. ausschließlich an den Schlaf gebunden sind.

Siehe auch
Anfallsleiden nach den Begutachtungsleitlinien
und
Krankheiten und Fahrerlaubnis

Gründe:


I.

Die Klägerin verfolgt mit der Beschwerde ihren Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten für eine Klage gegen die Entziehung ihrer Fahrerlaubnis der Klassen A, B und BE (einschließlich Unterklassen) weiter.

Mit Mitteilung vom 28. September 2016 informierte die Polizeistation B... das Landratsamt R...-​... (im Folgenden: Landratsamt) darüber, dass die Klägerin am 28. und 29. August 2016 sowie am 31. August 2016 zu Hause aufgesucht worden sei. An allen drei Tagen habe sie einen betrunkenen Eindruck gemacht. Am 31. August 2016 sei ein Alkoholtest durchgeführt worden, der einen Wert von 0,57 mg/l ergeben habe. Sie sei daraufhin in Schutzgewahrsam genommen und am 1. September 2016 wegen erheblicher Gesundheitsgefährdung infolge psychischer Krankheit in das Bezirkskrankenhaus W... eingeliefert worden.

Am 18. November 2016 forderte das Landratsamt die Klägerin auf, das Ergebnis der jährlichen Kontrolluntersuchung wegen ihrer psychiatrischen Erkrankung spätestens bis 20. Januar 2017 vorzulegen. Mit Arztbrief vom 6. Januar 2017 teilten die H... Fachkliniken H... dem Landratsamt mit, die Klägerin habe sich am 5. Oktober 2016 vorgestellt, nachdem sie vom 1. September bis 4. Oktober 2016 wegen einer akuten vorübergehenden schizophreniformen psychotischen Störung sowie Verhaltensstörung durch Alkohol stationär habe behandelt werden müssen. Sie verzichte bis Mitte 2017 freiwillig auf das Führen eines Kraftfahrzeuges, danach müsse eine Neubeurteilung der Fahrtauglichkeit erfolgen.




Das Landratsamt forderte die Klägerin daraufhin mit Schreiben vom 26. Januar 2017 zur Beibringung eines ärztlichen Gutachtens auf. Es müsse geklärt werden, ob eine psychische Erkrankung vorliege, die nach Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV die Fahreignung in Frage stelle.

Aus dem Gutachten der TÜV Thüringen Fahrzeug GmbH & Co. KG (im Folgenden: TÜV Thüringen) vom 31. März 2017 ergibt sich, dass die Klägerin – wie schon seit 2010 – nur bedingt in der Lage sei, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 gerecht zu werden. Als Auflage sei die weitere fachärztliche Behandlung zu fordern. Den Fahreignungszweifeln, die sich aus den gewonnenen Zusatzbefunden – Zustand nach epileptischem Anfall, Verdacht auf Alkoholentzugsdelir mit generalisiertem tonisch-​klonischem Anfall 8/2016, schädlicher Alkoholgebrauch – ergäben, sei aufgrund der vorgegebenen Fragestellung nicht abschließend nachgegangen worden.

Daraufhin forderte das Landratsamt die Klägerin mit Schreiben vom 10. April 2017 zur Beibringung eines weiteren ärztlichen Gutachtens auf. Es sei zu klären, ob bei ihr eine Erkrankung vorliege, die nach Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV die Fahreignung in Frage stelle, ob sich die aus den aktenkundigen Tatsachen begründete Annahme einer Alkoholabhängigkeit bestätigen lasse und ob sich, wenn keine Abhängigkeit vorliege, Anzeichen für Alkoholmissbrauch finden würden.

Nachdem die Klägerin kein Gutachten vorlegte, entzog ihr das Landratsamt mit Bescheid vom 11. Juli 2017 die Fahrerlaubnis aller Klassen, ordnete unter Androhung eines Zwangsgelds die Abgabe des Führerscheins binnen einer Woche nach Zustellung des Bescheids sowie die sofortige Vollziehbarkeit an. Der Klägerin sei nach § 11 Abs. 8 FeV die Fahrerlaubnis zu entziehen, das sie das zu Recht angeforderte Gutachten nicht vorgelegt habe. Die Klägerin gab ihren Führerschein am 26. Juli 2017 ab.



Das Verwaltungsgericht Würzburg hat über die Klage gegen den Bescheid vom 11. Juli 2017 noch nicht entschieden. Den Antrag auf Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 29. August 2017 abgelehnt (Az. W 6 S 17.848). Den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren und Beiordnung der Prozessbevollmächtigten hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 17. Oktober 2017 abgelehnt und sich dabei auf den rechtskräftigen Eilbeschluss bezogen.

Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde und macht geltend, die Erfolgsaussichten der Klage seien offen. Die Klägerin werde engmaschig ärztlich überwacht und sei im Straßenverkehr deshalb nicht auffällig geworden. Der vermeintliche Alkoholmissbrauch sei von einer Nachbarin gemeldet worden, die die Situation nicht richtig beurteilt habe. Die Klägerin habe tatsächlich eine Lauge eingeatmet, die dazu geführt habe, dass Schaum aus ihrem Mund getreten sei.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Rechtssache keine hinreichenden Erfolgsaussichten nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO bietet und hat den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung der Prozessbevollmächtigten zu Recht abgelehnt.

1. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. Juni 2017 (BGBl I S. 1822), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-​Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Verordnung vom 18. Mai 2017 (BGBl I S. 1282), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 der FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV).

Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anordnen, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisinhabers begründen.

Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er das geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV auf die Nichteignung geschlossen werden. Der Schluss auf die Nichteignung ist aber nur dann zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (BVerwG, U.v. 5.7.2001 – 3 C 13.01 – NJW 2002, 78).




2. Im vorliegenden Fall lagen hinreichende Anhaltspunkte für fahreignungsrelevante Erkrankungen vor, die die Anordnung eines weiteren Gutachtens nach § 11 Abs. 2 Satz 1 und 4 FeV rechtfertigen und durch die Gutachtensanordnung vom 10. April 2017 aufgeklärt werden sollten. Der Beklagte durfte daher nach § 11 Abs. 8 FeV auf die Nichteignung der Klägerin schließen, da diese das angeforderte Gutachten nicht vorgelegt hat und auf diese Rechtsfolge in der Gutachtensanordnung auch hingewiesen worden ist.

Gemäß Nr. 6.6 der Anlage 4 zu §§ 11, 13 und 14 FeV besteht bei Epilepsie nur ausnahmsweise Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1, wenn kein wesentliches Risiko von Anfallsrezidiven mehr besteht, z.B. bei zweijähriger Anfallsfreiheit. Nach den Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung (Begutachtungsleitlinien, Bundesanstalt für Straßenwesen, Bergisch Gladbach, gültig ab 1.5.2014, Stand 28.12.2016, Abschnitt 3.9.6) ist zu differenzieren, ob es sich um einen erstmaligen Anfall oder wiederholte Anfälle handelt. Danach können ggf. auch persistierende Anfälle vorliegen, die die Kraftfahreignung nicht einschränken, wenn die Anfälle z.B. ausschließlich an den Schlaf gebunden sind. Dem ärztlichen Gutachten des TÜV Thüringen vom 31. März 2017 ist zu entnehmen, dass Dr. med. N... im Arztbericht vom 21. November 2016 einen Zustand nach epileptischem Anfall diagnostiziert hat und sich aus dem Entlassungsbericht der R... Kreisklinik B... über einen stationären Aufenthalt vom 31. August bis 1. September 2016 die Diagnose ´Zustand nach generalisiertem tonisch-​klonischem Anfall` ergibt. Die Klägerin hat gemäß diesen Diagnosen wohl im August 2016 einen epileptischen Anfall erlitten. Es liegen damit Tatsachen vor, die Bedenken gegen die körperliche Eignung der Klägerin begründen und Anlass für die auf Nr. 6.6 der Anlage 4 zur FeV gestützte Anordnung eines ärztlichen Gutachtens sein können.


Nach Nr. 8.3 der Anlage 4 zur FeV besteht bei Alkoholabhängigkeit keine Fahreignung für Fahrzeuge der Gruppe 1 und 2. Wer alkoholabhängig ist, hat grundsätzlich nicht die erforderliche Fähigkeit, den Konsum von Alkohol und das Führen eines Kraftfahrzeugs im Straßenverkehr zu trennen. Hierfür kommt es nicht darauf an, ob der Betreffende bereits mit Alkohol im Straßenverkehr auffällig geworden ist (BVerwG, B.v. 21.10.2015 – 3 B 31.15 – DAR 2016, 216). Bei alkoholabhängigen Personen besteht krankheitsbedingt jederzeit die Gefahr eines Kontrollverlusts und der Teilnahme am Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss (BayVGH, U.v. 16.5.2017 – 11 B 16.1755 – juris Rn. 23). Im ärztlichen Gutachten des TÜV Thüringen vom 31. März 2017 wird ausgeführt, Dr. med. N... habe bei der Klägerin einen Zustand nach Entzugssyndrom mit Delir bei Alkoholgebrauch diagnostiziert und im Entlassungsbericht der Kreisklinik sei ein delirantes Entzugssyndrom bei chronischem Alkoholabusus festgestellt worden. Daraus ergibt sich ein durch Tatsachen untermauerter Verdacht auf Alkoholabhängigkeit, dem durch Anordnung eines ärztlichen Gutachtens nach § 13 Satz 1 Nr. 1 FeV nachgegangen werden muss. Auch die Frage nach möglichem Alkoholmissbrauch im medizinischen Sinne, soweit keine Alkoholabhängigkeit festgestellt wird, erscheint nicht unzulässig (vgl. BayVGH, B.v. 12.3.2014 – 11 CS 13.2562 – juris Rn. 17 f.). Nach den Begutachtungsleitlinien (a.a.O. Nr. 3.13.1) ist bei Alkoholmissbrauch Alkoholabstinenz zu fordern, wenn aufgrund der Lerngeschichte anzunehmen ist, dass sich ein konsequenter kontrollierter Umgang mit alkoholischen Getränken nicht erreichen lässt. Diese Frage ist zwar grundsätzlich nur für das Trennungsvermögen bei Alkoholmissbrauch (Fähigkeit, den übermäßigen Konsum von Alkohol und die Teilnahme mit einem Kraftfahrzeug am öffentlichen Straßenverkehr hinreichend sicher zu trennen) relevant (vgl. Nr. 8.1 der Anlage 4 zur FeV) und ggf. durch ein medizinisch-​psychologisches Gutachten abzuklären (vgl. § 13 Satz 1 Nr. 2 FeV). Im vorliegenden Fall ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Klägerin unstreitig an einer psychischen Erkrankung leidet, die behandlungsbedürftig ist und zu einer nur bedingten Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen führt. Nach dem Arztbrief der H... Fachkliniken H... vom 6. Januar 2017 war sie vom 1. September 2016 bis 4. Oktober 2016 wegen einer akuten vorübergehenden schizophreniformen psychotischen Störung sowie Verhaltensstörung durch Alkohol in stationärer Behandlung. Es liegen damit Tatsachen vor, aus denen sich die Annahme ableiten lässt, dass ein Zusammentreffen von Alkoholmissbrauch im medizinischen Sinne mit der bestehenden psychischen Erkrankung der Klägerin zur Fahrungeeignetheit führen kann. Es ist besteht daher hinreichender Anlass, auch bezogen auf medizinischen Alkoholmissbrauch ein ärztliches Gutachten anzufordern.

Soweit die Gutachtensanordnung wegen möglicher Alkoholabhängigkeit auf § 13 Satz 1 Nr. 1 FeV gestützt ist, ist kein Ermessen eröffnet. Darüber hinaus ist die Ermessensausübung nach § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV angesichts der Gefahren für die Allgemeinheit, die im Straßenverkehr durch epileptische Anfälle hervorgerufen werden können, nicht zu beanstanden.



3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Anders als das Prozesskostenhilfeverfahren erster Instanz ist das Beschwerdeverfahren in Prozesskostenhilfesachen kostenpflichtig. Eine Streitwertfestsetzung ist entbehrlich, weil für die Zurückweisung der Beschwerde nach dem hierfür maßgeblichen Kostenverzeichnis eine Festgebühr anfällt (§ 3 Abs. 2 GKG i.V.m. Anlage 1 Nr. 5502).

4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).

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