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BGH Urteil vom 07.06.1983 - VI ZR 83/81 - Wer bei abknickender Vorfahrt geradeaus fährt, ist gegenüber von rechts Kommenden bevorrechtigt

BGH v. 07.06.1983: Wer bei abknickender Vorfahrt geradeaus fährt, ist gegenüber von rechts Kommenden bevorrechtigt


Der BGH (Urteil vom 07.06.1983 - VI ZR 83/81) hat entschieden:

   Der Fahrer, der dem Verlauf einer nach links abknickenden Vorfahrtstraße nicht folgt, sondern geradeaus weiterfährt, hat in dem gesamten Kreuzungsbereich die Vorfahrt gegenüber dem von rechts kommenden Verkehr. Eine Markierung des Verlaufs des bevorrechtigten Straßenzuges auf der Kreuzung durch eine rechtsseitig verlaufende bogenförmige unterbrochene weiße Linie ändert nichts am Umfang der Vorfahrtberechtigung (Ergänzung BGH, 9. März 1971, VI ZR 137/69, BGHZ, 56, 1).



Siehe auch

Abknickende Vorfahrt

und

Stichwörter zum Thema Abbiegen


Tatbestand:


Die Klägerin nimmt die Beklagten aus einem Verkehrsunfall, der sich in K. auf der Kreuzung der Straße "A" - "An" mit der "R Straße" ereignet hat, auf Schadensersatz in Anspruch.

Die Klägerin, die mit ihrem Pkw auf der "R Straße" fuhr und ihre Fahrt nach Überqueren der Kreuzung geradeaus fortsetzen wollte, kollidierte im Kreuzungsbereich mit dem - für sie von links kommenden - bei der Drittbeklagten haftpflichtversicherten Pkw der Erstbeklagten, den der Zweitbeklagte fuhr. Der Zweitbeklagte befuhr die Straße "A" und wollte seine Fahrt nach Überqueren der Kreuzung gleichfalls geradeaus auf der Straße "An" fortsetzen. Die Straße "A" war in Fahrtrichtung des Zweitbeklagten vor der Kreuzung mit dem Zeichen 306 zu § 42 Abs. 2 StVO als Vorfahrtstraße gekennzeichnet, wobei durch ein Zusatzschild der Verlauf der Vorfahrtstraße abknickend nach links angezeigt war; außerdem war der Verlauf der abknickenden Vorfahrtstraße im Kreuzungsbereich auf der Fahrbahn durch eine rechtsseitig verlaufende bogenförmige unterbrochene weiße Linie markiert. Die "R Straße" war - aus der Fahrtrichtung der Klägerin gesehen - vor der Kreuzung mit dem Zeichen 205 zu § 41 Abs. 2 Nr.1 b StVO und einem Zusatzschild versehen, das den Verlauf der Vorfahrtstraße bekanntgab.




Die Klägerin erlitt durch den Zusammenstoß eine Quetschung der linken Thoraxseite, ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule und eine Konjunktivalblutung; eine ärztliche Behandlung fand nicht statt. Außerdem entstand an ihrem Pkw ein größerer Schaden.

Die Klägerin hat vorgetragen, sie habe vor der Kreuzung angehalten und sei erst, nachdem sie sich vergewissert habe, daß sich kein anderes Fahrzeug der Kreuzung näherte, in den Kreuzungsbereich eingefahren; in diesem Augenblick sei der Zweitbeklagte mit hoher Geschwindigkeit von links herangekommen und habe ihren Pkw außerhalb des markierten Verlaufs der Vorfahrtstraße erfaßt. Damit habe der Zweitbeklagte ihr Vorfahrtsrecht verletzt.

Die Klägerin hat Ersatz ihres im einzelnen bezifferten Sachschadens und Wertminderungsentschädigung sowie die Zahlung eines Schmerzensgeldes verlangt.

Die Beklagten haben vorgetragen, nicht die Klägerin, sondern der Zweitbeklagte sei vorfahrtberechtigt gewesen. Seine Vorfahrtberechtigung habe sich auf den gesamten Kreuzungsbereich erstreckt. Er habe, als die Vorfahrtverletzung der Klägerin für ihn erkennbar geworden sei, eine Vollbremsung eingeleitet, den Zusammenstoß aber nicht mehr verhindern können. Im übrigen sei die Kollision auf der Kreuzung und - aus seiner Sicht - vor der unterbrochenen Linie erfolgt.




Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht die Klage in Höhe von 1/5 des materiellen Schadens dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt.

Mit der (zugelassenen) Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren in vollem Umfang weiter.


Entscheidungsgründe:


I.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts waren der Zweitbeklagte vorfahrtsberechtigt und die Klägerin wartepflichtig. Das Vorfahrtrecht des Zweitbeklagten habe sich - so führt das Berufungsgericht aus - auf den gesamten Kreuzungsbereich erstreckt, der durch die Fluchtlinien der beiden einander rechtwinklig kreuzenden Fahrbahnen gebildet werde. Dieses Recht sei nicht dadurch eingeschränkt worden, daß der Verlauf der nach links abknickenden Vorfahrtstraße entlang der rechten Seite durch eine unterbrochene weiße Linie in einem Bogen markiert gewesen sei. Eine solche Verkehrsleitlinie trenne nicht den Kreuzungsbereich in einen vorfahrtsberechtigten und einen nicht vorfahrtsberechtigten Teil; vielmehr stelle sie nur einen zusätzlichen Hinweis auf den Richtungsverlauf der abknickenden Vorfahrtstraße dar. Gleichwohl habe auch der Zweitbeklagte - wenn auch in einem weitaus geringeren Maße als die Klägerin - den Unfall verschuldet. Zwar könne davon ausgegangen werden, daß er nur mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h gefahren sei und eine Vollbremsung versucht habe, als er erkannte, daß die Klägerin unter Mißachtung ihrer Wartepflicht in den Kreuzungsbereich eingefahren sei. Angesichts der unübersichtlichen Verkehrssituation im Kreuzungsbereich hätte er aber seine Fahrgeschwindigkeit schon bei Annäherung an die Kreuzung herabsetzen müssen, um notfalls vor der Klägerin anhalten zu können. Die Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge gemäß § 17 StVG führe dazu, daß der Zweitbeklagte ein Fünftel des materiellen Schadens der Klägerin zu tragen habe. Ein Schmerzensgeld könne die Klägerin dagegen nicht beanspruchen, weil sie bei dem Unfall nur geringfügige Verletzungen erlitten habe, was sich auch daraus ergebe, daß sie nicht ärztlich behandelt worden sei; im übrigen sei zu berücksichtigen, daß sie sich den Unfall ganz überwiegend selbst zuzuschreiben habe.




II.

Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision stand.

1. Die Auffassung des Berufungsgerichts, dem Zweitbeklagten habe im Kreuzungsbereich das Vorfahrtrecht zugestanden und die Klägerin sei wartepflichtig gewesen, lässt Rechtsfehler nicht erkennen.

a) Der Zweitbeklagte fuhr auf einer durch Zeichen 306 zu § 42 Abs. 2 StVO als Vorfahrtstraße gekennzeichneten Straße. Der Benutzer einer solchen Straße bleibt nach anerkannter Rechtsprechung gegenüber Verkehrsteilnehmern, die - wie die Klägerin - auf einer diese Straße kreuzenden nicht bevorrechtigten Straße fahren, im Kreuzungsbereich auch dann vorfahrtberechtigt, wenn er geradeaus in eine nichtbevorrechtigte Straße weiterfährt. Dabei wird der gesamte Kreuzungsbereich als eine Einheit angesehen; eine Aufteilung in einen bevorrechtigten und einen nichtbevorrechtigten Teil findet also nicht statt. Diese Rechtsprechung beruht auf der Erwägung, dass das Vorfahrtrecht im Hinblick auf die Sicherheit des Verkehrs klar und eindeutig sein muss und der zügige Verkehr auf den Hauptverkehrsstraßen nicht beeinträchtigt werden darf (vgl. BGHSt 12, 320, 322 f. und 20, 238, 241; Senatsurteile vom 9. März 1971 = BGHZ 56, 1 und vom 5. Februar 1974 - VI ZR 195/72 - VersR 1974, 600 - jeweils m.w.N.).

b) Der Streitfall unterscheidet sich von dem der Entscheidung vom 9.März 1971 zugrunde liegenden Fall lediglich dadurch, dass zusätzlich zu dem den Verlauf des bevorrechtigten Straßenzuges anzeigenden Schild auf der Kreuzung der Verlauf dieses Straßenzuges rechtsseitig durch eine unterbrochene Leitlinie markiert war. Dieser Umstand - der Senat konnte dies im genannten Urteil dahingestellt sein lassen - ändert am Umfang der Vorfahrtberechtigung nichts. Das ergibt sich aus der rechtlichen Bedeutung einer solchen Markierung. Sie führt nicht zu einer Einschränkung der Vorfahrtberechtigung; insbesondere lässt sich der Straßenverkehrsordnung nicht - wie die Revision meint - entnehmen, dass die Markierung den Kreuzungsbereich in einen zur abknickenden Vorfahrtstraße gehörenden und einen außerhalb dieser Markierung befindlichen Bereich aufspaltet, in dem die allgemeine Vorfahrtregel des § 8 Abs. 1 StVO gilt. Vielmehr beschränkt sich die Bedeutung der Markierung - wie das Berufungsgericht zutreffend darlegt - darauf, den Verkehrsteilnehmern zur Erleichterung der Orientierung den Verlauf des bevorrechtigten Straßenzuges anzuzeigen. Es handelt sich mithin um ein bloßes Richtzeichen, das dazu bestimmt ist, die Hinweisfunktion des Zusatzschildes zum Zeichen 306 zu unterstützen (vgl. Verwaltungsvorschrift zu den Zeichen 306 und 307, abgedruckt bei Jagusch, Straßenverkehrsrecht, 26.Aufl., 1981, § 42 StVO Rdn. 12). In diesem Sinne ist die Markierung auch bisher in Rechtsprechung und Schrifttum verstanden worden (vgl. OLG Hamburg, DAR 1968, 250; OLG Hamm, JMBl. NW 1970, 10; Jagusch, aaO, § 8 StVO Rdn. 28).




c) Der Revision kann auch nicht in ihrer Ansicht gefolgt werden, die Vorfahrtberechtigung des Zweitbeklagten im Kreuzungsbereich werde dadurch eingeschränkt, dass sich auf der Fahrbahn der Klägerin unter dem Zeichen 205 zu § 41 Abs. 2 StVO ein Zusatzschild befand, das den Verlauf des bevorrechtigten Straßenzuges anzeigte. Hierbei handelt es sich um eine auf die Beschilderung der Vorfahrtstraße abgestimmte Beschilderung der nicht bevorrechtigten Straße, die keine Änderung der Vorfahrtberechtigung des die Vorfahrtstraße benutzenden Verkehrsteilnehmers bedeutet; sie stellt vielmehr lediglich die Vorfahrtberechtigung auch für diejenigen Verkehrsteilnehmer klar, die die nichtbevorrechtigte Straße benutzen.

d) Schließlich kann die Revision auch nicht mit Erfolg geltend machen, das Berufungsgericht habe § 139 ZPO verletzt, weil es seine vom Vortrag der Klägerin abweichende Auffassung vom Umfang der Vorfahrtberechtigung nicht offenbart und damit der Klägerin die Möglichkeit genommen habe, durch ein verkehrspsychologisches Sachverständigengutachten klären zu lassen, dass der durchschnittliche Kraftfahrer die Beschilderung im Sinne des Vortrags der Klägerin versteht. Der Senat hat diese Rüge geprüft, jedoch nicht für durchgreifend erachtet (§ 565 a ZPO).

2. Der Revision ist der Erfolg auch zu versagen, soweit sie sich gegen die Schadensverteilung ... richtet.



a) Ohne Erfolg macht die Revision geltend, das Berufungsgericht habe bei der Schadensverteilung nicht berücksichtigt, dass der Zweitbeklagte die Vorfahrt erzwungen habe. Der festgestellte Sachverhalt gibt keine Anhaltspunkte für die Annahme, der Zweitbeklagte habe seine erkennbar bestrittene Vorfahrt erzwungen. Vielmehr ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass er eine Vollbremsung versucht hat, nachdem er erkannt hatte, dass die Klägerin unter Missachtung ihrer Wartepflicht in den Kreuzungsbereich einfuhr. Die Revision hat nicht geltend gemacht, dass das Berufungsgericht insoweit Verfahrensvorschriften verletzt habe.

b) Auch die Ausführungen, mit denen das Berufungsgericht den Schmerzensgeldanspruch der Klägerin verneint hat, lassen Rechtsfehler nicht erkennen. Ohne Verfahrensfehler hat das Berufungsgericht festgestellt, daß die Klägerin bei dem Verkehrsunfall nur leichte Verletzungen erlitten hat. Bei dieser Sachlage bestehen keine rechtlichen Bedenken dagegen, daß das Berufungsgericht mit Blick auf das weit überwiegende Eigenverschulden der Klägerin einen Schmerzensgeldanspruch versagt hat.

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