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Landgericht Freiburg Urteil vom 07.01.2019 - 11 O 84/18 - Abgasskandal und Anfechtung wegen arglistiger Täuschung

LG Freiburg v. 07.01.2019: Anfechtung wegen arglistiger Täuschung bei einem vom Abgasskandal betroffenen Fahrzeug


Das Landgericht Freiburg (Urteil vom 07.01.2019 - 11 O 84/18) hat entschieden:

   Wenn § 123 Abs. 1 Alt. 1 für die Täuschung „Arglist“ verlangt, so meint dies vorsätzliches Handeln. Das Inverkehrbringen des Fahrzeug mit dem in unzulässiger Weise gesteuerten Motor geschah vorsätzlich, weil die zu beanstandende Motorsoftware eigens zum Zwecke der Verschleierung tatsächlich höherer Abgaswerte entwickelt bzw. angeschafft worden ist. Dass Umweltschutzgesichtspunkte sowie schützenswerte Käuferinteressen verletzt würden und den Käufern solcher Fahrzeuge im Falle der Aufdeckung der Abgasmanipulation einschneidende Konsequenzen bis hin zur Stilllegung ihrer Fahrzeuge drohen könnten, wurde erkannt und zumindest billigend in Kauf genommen.


Siehe auch
Rechtsprechung zum Themenkomplex „Schummelsoftware“
und
Stichwörter zum Thema Autokaufrecht


Tatbestand:


Die Klägerin begehrt Schadensersatz im Zusammenhang mit dem Erwerb eines Neufahrzeugs.

Die Klägerin erwarb von der Beklagten nach verbindlicher Bestellung vom 15.12.2015 (Anlage K1) das Fahrzeug VW Touareg V6 TDI mit der Fahrzeugidentifikationsnummer ... zum Kaufpreis von 61.807,20 €. Vor Erwerb des Fahrzeugs erhielt die Klägerin keinen Hinweis von der Beklagten, dass das Fahrzeug von der sogenannten Diesel-​Affäre betroffen sei.

Am 12.3.2018 ging der Klägerin ein auf „Februar 2018“ datiertes Rückrufschreiben der Beklagten zu (Rückrufaktion 23Y3“, vorgelegt als Anlage K4). Darin äußert sich die Beklagte unter anderem wie folgt:

   „In einem begrenzten Fertigungszeitraum sind Dieselmotoren mit einer Motorsteuergeräte-​Software verbaut worden, durch welche die Stickoxidwerte (NOx) im Vergleich zwischen Prüfstandlauf (NEFZ) und realem Fahrbetrieb verschlechtert werden. Aus diesem Grund ist eine Umprogrammierung des Motorsteuergerätes erforderlich.“

Der Klägerin wurde außerdem mitgeteilt, dass die zur Umprogrammierung erforderliche Software nun auch für ihr Fahrzeug zur Verfügung stehe und sie wurde aufgefordert, sich mit einem autorisierten Partner der Beklagten in Verbindung zu setzen, um das Update durchführen zu lassen.




Mittlerweile gerichtsbekannt musste die die Beklagte gemäß Art. 4 Abs. 1 VO (EG) 715/2007 nachweisen, dass die von ihr hergestellten Neufahrzeuge über eine Typgenehmigung gemäß der Verordnung verfügen. Eine solche Typgenehmigung setzt voraus, dass die in der Verordnung vorgesehenen Abgasgrenzwerte eingehalten werden. Die Werte werden gemäß der zugehörigen Durchführungsverordnung unter Laborbedingungen in dem sogenannten „Neuen Europäischen Fahrzyklus“ (NEFZ) ermittelt. In verschiedenen Diesel-​Fahrzeugen des ... Konzerns war eine Software zur Steuerung des Motors installiert, die erkennt, ob sich das Fahrzeug im Testlauf unter Laborbedingungen oder im normalen Straßenverkehr befindet. Während im Testlauf unter Laborbedingungen die Motorsteuerung dergestalt erfolgt, dass mittels einer Abgasrückführung die Abgase zusätzlich gereinigt und im Ergebnis die Emissionsgrenzwerte entsprechend der genannten Verordnung eingehalten werden (Abgasrückführungsmodus 1), ist im Betriebsmodus des normalen Straßenverkehrs der Abgasrückführungsmodus 0 aktiv, in dem keine bzw. eine deutlich geringere Abgasrückführung und damit Abgasreinigung stattfindet. Nach Bekanntwerden des Einsatzes dieses in der Öffentlichkeit als Manipulationssoftware bezeichneten Motorsteuerungsprogrammes in verschiedenen Diesel-​Fahrzeugen des ... Konzerns („Abgasskandal“) im September 2015 legte das Kraftfahrt-​Bundesamt (KBA) dem Herstellerkonzern auf, diese unzulässige Abschalteinrichtung aus allen Fahrzeugen zu entfernen. Dabei handelte es sich zunächst um eine bestimmte Software, die in den von der Beklagten hergestellten Motoren EA 189 verbaut worden war. In der Folgezeit wurde weitere in den von der Beklagten hergestellten Fahrzeugen verbaute Software überprüft und das KFB ordnete den Rückruf weiterer Fahrzeugmodelle der Beklagten aber auch anderer Hersteller wegen unzulässiger Abschaltvorrichtungen an. Im streitgegenständlichen Fahrzeug, das von der Beklagten hergestellt wurde, ist ein nicht von der Beklagten selbst hergestellter Motor verbaut, es handelt sich auch nicht um einen Motor EA 189.

Nach Feststellung der unzulässigen Software prüfte das KBA jeweils einen vorgelegten Maßnahmenplan und gab, zeitlich gestaffelt, die auf den jeweiligen Fahrzeugtyp abgestimmte Software-​Updates frei. Unstreitig wurde auch für das streitgegenständliche Fahrzeug ein Software-​Update freigegeben. Auch ohne das Software-​Update war der streitgegenständliche Wagen fahrbereit und verkehrssicher. Auch wurde die EG-​Typengenehmigung Fahrzeugen nicht entzogen, wenn das Update nicht aufgespielt wurde, wenngleich das KBA das Aufspielen der jeweiligen Software als verpflichtend ansieht. Bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug wurde die entsprechende Software mittlerweile aufgespielt.

Mit anwaltlichem Schreiben vom 19.3.2018 (Anlage K5) erklärte die Klägerin die Anfechtung des Kaufvertrags wegen arglistiger Täuschung, forderte mit Frist bis zum 2.4.2018 die Rückzahlung des Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung und bot die Übergabe des Fahrzeugs Zug um Zug an. Die Beklagte lehnte die Rücknahme des Fahrzeugs ab.

Bei Schluss der mündlichen Verhandlung betrug der Kilometerstand des streitgegenständlichen Fahrzeugs 67.639 km.

Die Beklagte zog aus dem am 15.3.2016 erhaltenen Kaufpreis Nutzungen in Höhe ihrer Eigenkapitalrendite in Höhe von 10,8 % vor Steuern für das Geschäftsjahr 2016, insgesamt bis Klageerhebung 13.648,49 €.

Die Klägerin trägt vor, aus dem Rückrufschreiben der Beklagten ergebe sich, dass ihr Fahrzeug vom sogenannten „Diesel-​Skandal“ betroffen und darin eine unzulässige Motorsteuergeräte-​Software verbaut sei. Sie sei beim Kauf irrtümlich davon ausgegangen, dass seit Bekanntwerden der sogenannten „Schummel-​Software“ nur noch Fahrzeuge ohne unzulässige Motorsteuergeräte-​Software ausgeliefert würden. Die Klägerin behauptet außerdem, dass sie den Kaufvertrag nicht abgeschlossen hätte, wenn die die Beklagte pflichtgemäß offengelegt hätte, dass das Fahrzeug von dem Skandal betroffen sei. Die Klägerin ist zudem der Auffassung, dass ihr die Nachbesserung durch ein Software-​Update unzumutbar sei. Dies folge schon daraus, dass die Beklagte arglistig gehandelt habe.




Die Klägerin beantragt:

  1.  Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 38.877,47 € nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus einem Betrag in Höhe von 45.457,20 seit dem 3.4.2018 bis Rechtshängigkeit und aus 38.877,47 € seit Rechtshängigkeit zu zahlen, Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs VW Touareg V6 TDI, mit der Fahrzeugidentifikationsnummer ... .

  2.  Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 13.648,49 € zu zahlen.

  3.  Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 1.822,96 € freizustellen.

  4.  Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des Fahrzeugs VW Touareg V6 TDI, mit der Fahrzeugidentifikationsnummer ... seit dem 3.4.2018 im Verzug ist.

Die Beklagte beantragt,

   die Klage abzuweisen.

Die Beklagte trägt vor, das Fahrzeug sei schon nicht mit einem Mangel behaftet, jedenfalls sei ein etwaiger Mangel unerheblich. Das Fahrzeug sei technisch sicher und uneingeschränkt gebrauchstauglich. Zudem handele es sich bei dem in dem Fahrzeug verbauten Motor nicht um den Motor EA 189, dessen Motorsteuergeräte-​Software Auslöser des sogenannten Abgasskandals gewesen sei. Bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug sei eine Aktualisierung in Bezug auf den selektiven katalytischen Katalysator (SCR) erforderlich, der mit AdBlue, einer künstlichen Harnstofflösung betrieben werde. Betroffen sei zum einen der Warmlaufmodus des SCR, zum anderen die Dosierstrategie nach Erreichen von 2.400 km AdBlue Restreichweite. Mit dem Regelbetrieb des Fahrzeugs habe der Warmlaufmodus nichts zu tun, es handele sich insbesondere nicht um einen alternativen Betriebsmodus für den Motor im Prüfstandbetrieb. Obwohl kein Mangel vorgelegen habe, sei das Fahrzeug auf Kosten der Beklagten entsprechend dem seitens der Beklagten mit dem Kraftfahrt-​Bundesamt abgestimmten Zeit- und Maßnahmenplan technisch überarbeitet worden. Das Update habe auch keine negativen Auswirkungen auf die Leistung, den Verbrauch und den Verschleiß des Fahrzeugs. Ein merkantiler Minderwert der von der behaupteten Softwaremanipulation betroffenen Fahrzeuge bestehe nicht. Auch das Kraftfahrtbundesamt habe bestätigt, dass das Softwareupdate keine negativen Auswirkungen auf das Fahrzeug habe.

Da kein Mangel vorgelegen habe, habe die Beklagte die Klägerin nicht getäuscht. Eine solche Täuschung habe die Klägerin schon nicht schlüssig vorgetragen. Eine solche könne jedenfalls nicht darin liegen, dass die Beklagte über die wirksame Typengenehmigung getäuscht habe, denn diese sei erteilt und bis heute nicht widerrufen worden. Die Klägerin könne sich auch nicht darauf berufen, dass der Stickstoffausstoß im realen Fahrbetrieb erheblich oberhalb der gesetzlichen Vorgabe läge, da es zur Erlangung der Typengenehmigung allein auf den Schadstoffausstoß im Prüfbetrieb ankomme. Mangels Täuschung sei es bei der Klägerin auch nicht zu einem Irrtum gekommen. Jedenfalls beruhe die Kaufentscheidung der Klägerin nicht auf einem etwaigen Irrtum, da die Klägerin schon nicht substantiiert dargelegt habe, dass der Schadstoffausstoß für ihre Kaufentscheidung eine entscheidende Rolle gespielt habe.

Ein Rücktritt der Klägerin sei zudem nach § 377 HGB ausgeschlossen. Auch könne sich die Klägerin nach Durchführung des Software-​Updates nach § 242 BGB nicht mehr auf den erklärten Rücktritt berufen. Die Klägerin hätte zudem eine Frist zur Mangelbeseitigung setzen müssen.

Wegen des Parteivortrags im Einzelnen wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen.





Entscheidungsgründe:


A.

Die Klage ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

I.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch gemäß § 812 Abs. 1 S. 1 BGB auf Rückzahlung des Kaufpreises unter Anrechnung der gezogenen Nutzungen Zug um Zug gegen die Rückgabe des Fahrzeugs sowie auf die Verzinsung dieses Betrages wie beantragt.

1. Die Klägerin hat unstreitig den Kaufpreis in Höhe von 61.807,20 € an die Beklagte geleistet.

2. Die Zahlung des Kaufpreises erfolgte ohne Rechtsgrund, da die Klägerin ihre auf Abschluss des Kaufvertrags gerichtete Willenserklärung wirksam angefochten hat, so dass diese von Anfang an als nichtig anzusehen ist, § 142 Abs. 1 BGB.

a) Die Klägerin hat mit anwaltlichem Schreiben vom 19.3.2018 die Anfechtung erklären lassen.

b) Es liegt auch ein Anfechtungsgrund im Sinne des § 123 BGB vor, weil die Klägerin durch arglistige Täuschung zur Abgabe ihrer auf den Vertragsschluss gerichteten Willenserklärung bestimmt wurde.

aa) Die Klägerin wurde unstreitig nicht darüber aufgeklärt, dass in dem streitgegenständlichen Fahrzeug eine Motorsoftware eingebaut ist, über die die Beklagte selbst in ihrem Schreiben vom Februar 2018 (Anlage K4) die Aussage trifft, dass hierdurch die Stickoxidwerte im Vergleich zwischen Prüfstandlauf (NEFZ) und realem Fahrbetrieb verschlechtert werden, die vom Kraftfahrzeugbundesamt als unzulässig eingestuft wurde und aufgrund derer das Fahrzeug zurückgerufen wurde.

bb) Bezüglich dieser Tatsache bestand jedoch auf Seiten der Beklagten eine Pflicht zur Aufklärung.

Die Software wurde vom Kraftfahrtbundesamt als unzulässig eingestuft, bei Nichtdurchführung des Softwareupdates ist letztlich die Zulassung des Fahrzeugs gefährdet. Hierbei spielt es keine Rolle, dass die Typengenehmigung für das streitgegenständliche Fahrzeug tatsächlich (bislang) nicht widerrufen wurde und das Kraftfahrtbundesamt sich für die Anordnung eines Rückrufes und die Freigabe technischer Nachrüstungen entschied. Die Ungewissheit über das spätere Vorgehen der Behörden kann nicht dazu führen, dass die Beklagte als Herstellerin des streitgegenständlichen Fahrzeugs von ihrer Pflicht befreit wird, über den Einbau einer die Zulassung gefährdenden Software aufzuklären. Ein Fahrzeug mit gefährdeter Zulassung ist mit einem wertmindernden Makel behaftet, unabhängig davon, ob die Zulassung tatsächlich widerrufen wird oder nicht; dies gilt umso mehr, als das Verhalten der Beklagten in der Presse lange und immer wieder Thema war und ist und deshalb von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird (s. LG Frankfurt am Main, Urteil v. 20.10.2017, Az. 2-​25 O 547/16 mit weiteren Nachweisen). Das Gericht verkennt dabei nicht, dass den Verkäufer aufgrund seines Interessenkonfliktes mit dem Käufer grundsätzlich keine umfassende Aufklärungspflicht über alle wertbildenden Eigenschaften der Kaufsache trifft. Eine Aufklärungspflicht besteht jedoch hinsichtlich solcher Umstände, die den Vertragszweck des anderen vereiteln können und daher für den Entschluss eines verständigen Käufers von wesentlicher Bedeutung sind, sofern eine Mitteilung nach der Verkehrsauffassung erwartet werden kann (BGH, Urteil vom 15.7.2011, Az. V ZR 171/10, NJW 2011, 3640 - Rn. 7). So liegt der Fall jedoch hier. Der drohende Widerruf der für das streitgegenständliche Fahrzeug geltenden Typengenehmigung hätte den Vertragszweck der Klägerin - nämlich ein für die Teilnahme am Straßenverkehr zugelassenes Fahrzeug zu erwerben - vereitelt. Es handelt sich bei der Zulassung zum Straßenverkehr um einen Umstand von zentraler Bedeutung für den Käufer. Auch nach der Verkehrsauffassung war eine Aufklärung über die diesbezügliche Gefährdung daher zu erwarten.

cc) Die Beklagte hat ihre Aufklärungspflicht arglistig verletzt.

(1) Es ist davon auszugehen, dass der Vorstand der Beklagten zum Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrages Kenntnis von dem Einbau der streitgegenständlichen Software hatte.

Die Klägerin trägt dies hinreichend substantiiert vor, wobei sie darauf verweist, dass der Abgasskandal bereits im September 2015, also etwa zwei Monate vor der verbindlichen Bestellung des streitgegenständlichen Fahrzeugs durch die Klägerin, öffentlich wurde. Die Klägerin hat keinen Einblick in die innerbetrieblichen Abläufe der Beklagten und kann deswegen nicht im Einzelnen vortragen, wer nach Bekanntwerden des Skandals wann und worüber genau informiert wurde und wann welchen Stellen bekannt war, in welchen Fahrzeugmodellen welche unzulässige Software serienmäßig eingesetzt wurde. Der Klägervortrag ist nicht ohne greifbare Anhaltspunkte ins Blaue hinein erfolgt. Denn es ist naheliegend ist, dass jedenfalls nach Bekanntwerden des Abgasskandals in der Öffentlichkeit der Vorstand über das weitere Vorgehen in dieser Sache und insbesondere über die in den von der Beklagten verbauten Motoren verwendete Software informiert war, unabhängig davon, ob diese Motoren von der Beklagten selbst hergestellt waren oder nicht.

Die Beklagte ist dieser klägerischen Behauptung nicht in der gebotenen Weise entgegengetreten. Sie konnte sich nicht mit einfachem Bestreiten begnügen, sondern war gehalten, sich im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast im Einzelnen zu der klägerischen Behauptung zu erklären. Obwohl die Beklagte durch Verfügung vom 17.10.2018 auf ihre sekundäre Darlegungslast hingewiesen wurde, ist sie ihrer Obliegenheit zu vollständigem Vorbringen zu der Frage, wer wann über das Ausmaß des Skandals unterrichtet war und aus welchen Gründen er vorher keine Kenntnis davon erlangt hat, nicht nachgekommen. Insbesondere wurde nicht dargelegt, aus welchem Grund der Vorstand der Beklagten noch zwei Monate nach Bekanntwerden des Skandals in der Öffentlichkeit nicht darüber informiert gewesen sein sollte, in welchen - eigenen oder fremden - von der Beklagten verbauten Motoren unzulässige Abschalteinrichtungen vorhanden waren. Auch konnte die Beklagte nicht nachvollziehbar darlegen, weshalb es sich bei der streitgegenständlichen Software um eine zulässige Software gehandelt haben soll - hier bleibt insbesondere offen, weshalb dann ein Rückruf erfolgte und weshalb bei diesem Rückruf darauf hingewiesen.

Die Prüfung und Beurteilung der naheliegenden Tatsachenbehauptung der Klägerin ist dem Gericht infolge der unzureichenden Mitwirkung der Beklagten nicht möglich. Zur Wahrung der prozessualen Waffengleichheit sieht das Gericht deshalb keine andere Möglichkeit, als den klägerischen Vortrag zur Vorstandsverantwortung als zugestanden zu behandeln (§ 138 Abs. 3 ZPO).

Die Beklagte hat außerdem jedenfalls unter dem Gesichtspunkt des Organisationsverschuldens für die Verletzung der Aufklärungspflicht einzustehen. Jede juristische Person ist verpflichtet, ihren gesamten Geschäftsbereich so zu organisieren, dass sämtliche wesentlichen Entscheidungen durch ein Organ oder einen Repräsentanten im Sinne des § 31 BGB verantwortet werden. Eine juristische Person, die solchen organisatorischen Anforderungen nicht genügt, muss sich, wenn ein bloßer Verrichtungsgehilfe die Pflichtverletzung vornimmt, der eine Zurechnung gemäß § 31 BGB (analog) eigentlich nicht auslöst, so behandeln lassen, als sei der Verrichtungsgehilfe ihr verfassungsmäßig berufener Vertreter, sofern die Schädigung im Rahmen einer Tätigkeit vorgefallen ist, die im Rahmen der Gesamttätigkeit der juristischen Person besondere rechtliche, wirtschaftliche oder sonstige Bedeutung hat.

Die Entscheidung, Motoren mit einer den geltenden Abgasnormen zuwiderlaufende Motorsteuerung bei einem Fahrzeug einzusetzen, das weltweit vertrieben wird, ist zweifellos auch bei einem Weltkonzern wie der Beklagten als weitreichend in diesem Sinne anzusehen. Im Falle der Aufdeckung des verheimlichten Umstands drohten ersichtlich weitreichende Konsequenzen für die Gebrauchstauglichkeit dieser Fahrzeuge, für Gewinnerwartung und Leumund des Unternehmens und für dessen Entscheidungsträger bis hin zu strafrechtlicher Verantwortung.




(2) Wenn § 123 Abs. 1 Alt. 1 für die Täuschung „Arglist“ verlangt, so meint dies vorsätzliches Handeln (Beck´scher Online Großkommentar zum BGB/Rehberg, Stand 1.10.2018, § 123 Rn. 18). Das Inverkehrbringen des Fahrzeug mit dem in unzulässiger Weise gesteuerten Motor geschah selbstverständlich vorsätzlich, weil die zu beanstandende Motorsoftware eigens zum Zwecke der Verschleierung tatsächlich höherer Abgaswerte entwickelt bzw. angeschafft worden ist. Dass Umweltschutzgesichtspunkte sowie schützenswerte Käuferinteressen verletzt würden und den Käufern solcher Fahrzeuge im Falle der Aufdeckung der Abgasmanipulation einschneidende Konsequenzen bis hin zur Stilllegung ihrer Fahrzeuge drohen könnten, wurde erkannt und zumindest billigend in Kauf genommen.

dd) Es wird vermutet, dass der Kläger bei aufklärungsrichtigem Verhalten von dem Kauf Abstand genommen hätte, dass also die Verletzung der Aufklärungspflicht ursächlich für die Abgabe der auf Abschluss des Kaufvertrags gerichteten Willenserklärung der Klägerin war. Die Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens gründet auf dem Gedanken, dass sich der Aufklärungsberechtigte im Zweifel zu seinem eigenen Vorteil an einer Information orientiert, wenn er dadurch einen Schaden vermeiden kann. Zumindest bei einer - wie vorliegend wichtigen Information, nämlich der Gefährdung der Zulassung des Fahrzeugs - ist anzunehmen, dass die Klägerin zur Vermeidung eines ihr drohenden Schadens davon abgesehen hätte, das streitgegenständliche Fahrzeug zu kaufen. Die Beklagte hat diese Vermutung nicht widerlegt.

c) Die Klägerin verlor ihr Anfechtungsrecht auch nicht deshalb, weil sie den Mangel nicht rechtzeitig gemäß § 377 Abs. 3 HGB rügte. Dies ergibt sich schon daraus, dass der Verkäufer sich gemäß § 377 Abs. 5 HGB im Fall der Arglist nicht auf die Rügepflicht berufen kann.

3. Die Klägerin kann gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB Herausgabe des Erlangten, mithin Rückzahlung des von ihr geleisteten Kaufpreises verlangen. Bei der Rückabwicklung ist nach der verfahrensrechtlichen Saldotheorie die Gegenleistung zu berücksichtigen, sodass der Kaufpreis Zug um Zug gegen Rückübereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs zu erfolgen hat. Auch hat sich der Kläger in Höhe von ... € gem. § 818 Abs. 1, 2 BGB Nutzungsvorteile anrechnen zu lassen (zur Verrechnung gleichartiger Ansprüche s. Sprau, in: Palandt, BGB, 76. Aufl. 2017, § 818 Rn. 50).

Das Gericht hat die Gesamtfahrleistung des Fahrzeugs analog § 287 ZPO zu schätzen. Zu berücksichtigen ist, dass die Fahrleistung, die ein Fahrzeug in seiner Lebensdauer zurücklegen kann, von verschiedenen Faktoren abhängig ist, insbesondere nicht nur von der Lebensdauer des Motors, sondern auch der anderen Bauteile. Die Lebensdauer des Motors ist unter anderem von Größe und Leistung des Motors und insbesondere auch vom Nutzungsverhalten abhängig. Für Dieselfahrzeuge dieser Preisklasse und Qualität wird die durchschnittliche Laufleistung bislang überwiegend auf 250.000 km geschätzt (ebenso zuletzt OLG Karlsruhe, Pressemitteilung vom 30.05.2018 zu den dort anhängigen Berufungen in „Dieselverfahren“), gelegentlich auch bis zu 300.000 km. Das Gericht schätzt mit der bislang überwiegenden Rechtsprechung die durchschnittliche zu erwartende Gesamtlaufleistung auf 250.000 km.

Auf dieser Basis ergibt sich eine Nutzungsentschädigung von 16.722,31 €: Die Restlaufleistung bei Erwerb des Neufahrzeugs betrug 250.000 km. Die Klägerin hat in ihrer Besitzzeit 67.639 km zurückgelegt. Es ergibt sich folgende Berechnung:

61.807,20 € x 67.639 km / 250.000 km
Kaufpreis mal gefahrene Kilometer geteilt durch Restlaufleistung im Kaufzeitpunkt.


Der geringere von der Klägerin beantragte Zahlbetrag in Höhe von 38.877,47 €, der eine Nutzungsentschädigung in Höhe von 22.929,73 annimmt, ist daher begründet und von der Beklagten Zug um Zug gegen Herausgabe und Übereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs zu zahlen.

Die Beklagte befindet sich aufgrund der Fristsetzung im Schreiben der Klägervertreter vom 19.3.2018 (Anlage K5) seit dem 3.4.2018 in Verzug und hat deshalb Zinsen auf die Forderung zu leisten, §§ 280 Abs. 1, 286, 288 BGB.

II.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte gemäß § 818 Abs. 1 BGB einen Anspruch auf Herausgabe der unstreitig in Höhe von 13.648,49 € gezogenen Nutzungen. Wie bereits unter Punkt I dargelegt, hat die Klägerin den Kaufvertrag wirksam angefochten, so dass der Rechtsgrund für den Austausch der Leistungen mit Wirkung ex tunc entfallen ist und die Beklagte zudem gemäß § 818 Abs. 1 BGB zur Herausgabe der gezogenen Nutzungen verpflichtet ist.

III.

Soweit die Klägerin darüber hinaus die Zahlung bzw. die Freistellung von den Rechtsanwaltskosten für die vorgerichtliche Rechtsverfolgung gegenüber der Beklagten begehrt, war die Klage abzuweisen.

Die Ersatzpflicht von Rechtsanwaltskosten, etwa im Rahmen eines Schadensersatzanspruchs, setzt voraus, dass die Inanspruchnahme eines Rechtsanwalts erforderlich und zweckmäßig war (vgl. Grüneberg, in: Palandt, BGB, 77. Auflage 2018, § 249 Rn. 57).



Vorliegend musste den Vertretern der Klägerin bereits im Zeitpunkt der Beauftragung bekannt sein, dass die Beklagte nicht leistungswillig bzw. vorgerichtlich nicht zu einer gütlichen Lösung bereit war. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung im Juni 2018 waren bereits tausende Verfahren gegen die Beklagte angestrengt worden und die Haltung der Beklagten, auf die vorgerichtliche Geltendmachung von Forderungen durchweg ablehnend zu reagieren, war allgemein bekannt - zumindest hätten sich die Vertreter der Klägerin hierüber ohne weiteres informieren können und müssen. Wenn aber der Schuldner erkennbar leistungsunfähig oder -unwillig ist, gibt es keinen vernünftigen Grund, Rechtsanwälte mit der vorgerichtlichen Geltendmachung der Forderung zu betrauen, weil es erkennbar nur um die Erlangung eines Vollstreckungstitels gehen kann (vgl. ebenso zur Beauftragung eines Inkassobüros bei Zahlungsunwilligkeit oder -unfähigkeit des Schuldners: OLG Karlsruhe, Urteil vom 11.06.1986, Az. 6 U 234/85, zitiert nach juris; Grüneberg, in: Palandt, BGB, 77. Auflage 2018, § 286 Rn. 46) und durch die vorgerichtliche Tätigkeit offensichtlich unnötige weitere Kosten verursacht werden.

Mithin war die Klage abzuweisen, soweit die Klägerin die Freistellung von vorgerichtlichen Kosten beantragt.

IV.

Durch das Schreiben vom 19.3.2018, das als wörtliches Angebot im Sinne des § 295 Satz 1 BGB anzusehen ist, ist die zur Abholung des Fahrzeugs verpflichtete Beklagte in Annahmeverzug geraten. Das Feststellungsinteresse ist bereits durch die Vollstreckungserleichterung des § 756 ZPO begründet.


B.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 ZPO.

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