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Landgericht Hanau Beschluss vom 07.01.2019 - 4b Qs 114/18 - Akteneinsicht und Rohmessdaten

LG Hanau v. 07.01.2019: Akteneinsicht und Rohmessdaten


Das Landgericht Hanau (Beschluss vom 07.01.2019 - 4b Qs 114/18) hat entschieden:

  1.  Bei dem Geschwindigkeitsmessverfahren mittels des Messgeräts M5 RAD2 handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren, bei dem im Wege antizipierten Sachverständigengutachtens grundsätzliche Zuverlässigkeit der Messung festgestellt wurde. Die Richtigkeitsvermutung kann der Betroffene eines Bußgeldverfahrens nur angreifen, wenn er konkrete Anhaltspunkte für einen Fehler im Rahmen der Messung vorträgt. Es wird ihm also eine Beibringungs- bzw. Darlegungslast auferlegt.

  2.  Diese Punkte vorzutragen, also die Ausübung rechtlichen Gehörs wird ihm jedoch unmöglich gemacht, wenn die Messdaten als die Grundlage der Messung nicht für eine sachverständige Untersuchung zur Verfügung gestellt werden. Für den Betroffenen bzw. für seinen Verteidiger ist es nur dann möglich der Darlegungslast nachzukommen und das Messergebnis in Zweifel zu ziehen, wenn er die vom jeweiligen Messgerät erzeugten Digitaldaten als Grundlage jeder Messung technisch auswerten lassen kann. Als Konsequenz hieraus und im Hinblick auf ein faires Verfahren hat die Verwaltungsbehörde daher dem Betroffenen bzw. soweit noch nicht geschehen auch das Amtsgericht Zugang zu Informationen zu gewähren, die zu seiner Verteidigung von Bedeutung sein können.


Siehe auch
Akteneinsichtsrecht in die Rohmessdaten von Messgeräten
und
Akteneinsicht und Aktenversendungspauschale<


Gründe:


Das Amtsgericht hat den Antrag des Betroffenen auf Beweismittelvervollständigung vom 05.01.2018 mit einem Schreiben vom 05.12.2018 an den Verteidiger mit folgendem Wortlaut „in pp. wird darauf hingewiesen, dass mögliche Beweisanträge im Termin zur Hauptverhandlung beschieden werden“ zurückgewiesen. Bei diesem Schreiben handelte es sich entgegen der Auffassung des Amtsgerichts nicht lediglich um eine prozessleitende Verfügung auf die Posteingänge des Verteidigers sondern inhaltlich auch um die Zurückweisung des Antrages des Betroffenen auf Überlassung der genannten Messdaten und Messunterlagen. Bestätigt wird diese Auffassung durch die Verfügung des Amtsgerichts vom 16.12.2018, womit das Gericht dem Verteidiger mitteilt, dass es nicht beabsichtige, die vom Betroffenen beantragten Unterlagen beizuziehen.

Gegen die vorgenannte Entscheidung wendet sich der Betroffene mit seiner Beschwerde vom 06.12.2018. Wegen der Einzelheiten der Beschwerdegründe wird auf Bl. 193 ff. d.A. Bezug genommen.

Das Amtsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

Die Beschwerde des Betroffenen ist zulässig.

Dass das Amtsgericht über den Antrag nicht durch Beschluss entschieden, sondern seine Ablehnung durch eine formlose Mitteilung bekanntgegeben hat, steht der Möglichkeit zur Einlegung einer Beschwerde nach § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 304 ff. StPO nicht entgegen (vgl. hierzu Gercke/Julius, StPO, 6. Aufl, Rdz.8 f)

Der Zulässigkeit der Beschwerde steht auch § 305 S. 1 StPO nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift unterliegen Entscheidungen der erkennenden Gerichte, die der Urteilsfällung vorausgehen nicht der Beschwerde.

Entsprechend dem Zweck der Bestimmung, Verfahrensverzögerungen zu verhindern, die eintreten würden, wenn Entscheidungen der erkennenden Gerichte sowohl auf eine Beschwerde als auch auf das Rechtmittel gegen das Urteil überprüft werden müssten, gilt dieser Ausschluss nur für Entscheidungen, die im inneren Zusammenhang mit der Urteilsfällung stehen, ausschließlich ihrer Vorbereitung dienen, bei der Urteilsfindung selbst der nochmaligen Prüfung des Gerichts unterliegen und keine weiteren Verfahrenswirkungen äußern (vgl. Meyer/Goßner, § 305 Rd.Ziff. 1 m.w.N.).

Anfechtbar mit der Beschwerde sind hingegen Entscheidungen, bei denen die Beschwer des Betroffenen durch Anfechtung des Urteils nicht mehr beseitigt werden kann.

Ob die Nichtherausgabe von Messdaten, Lebensakten u.ä. nach Verurteilung des Betroffenen in einem Rechtsbeschwerdeverfahren überprüft werden kann, ist derzeit in der Rechtsprechung umstritten. So hat das OLG Bamberg mit Beschluss vom 04.04.2016 (3 Ss OWi 1444/15) ausgeführt, dass Ablehnung eines Antrags der Verteidigung auf Einsichtnahme in die Messdateien der nicht gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens verstößt, wenn sich der Tatrichter auf Grund der Beweisaufnahme der Hauptverhandlung davon überzeugt hat, dass die Voraussetzung eines sogenannten standardisierten Messverfahrens im Sinne der Rechtsprechung des BGH eingehalten wurden.

Das Oberlandesgericht Frankfurt hat in seiner Entscheidung vom 26.08.2016 (Az.: 2 Ss OWi 589/16) den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde verworfen, weil eine Nachprüfung der Entscheidung weder zur Fortbildung des sachlichen Rechts noch wegen einer Verletzung des rechtlichen Gehörs geboten sei.

Zur Vermeidung eines später nicht mehr zu beseitigenden rechtswidrigen Zustandes ist dem Betroffenen daher die Überprüfung im Wege des Beschwerdeverfahrens zu ermöglichen, zumal er sich bei dem Antrag auf Herausgabe der Messdaten etc. nicht um einen - nicht der Beschwerde - zugänglichen Beweisantrag handelt, sondern um einen Antrag auf Akteneinsicht. Die Entscheidung über die Akteneinsicht steht insoweit nicht in einem inneren Zusammenhang mit dem späteren Urteil. Die Rechtsmäßigkeit wird nämlich weder bei der Urteilsfällung überprüft, noch wäre eine zuvor getroffene Entscheidung ggf. korrigierbar (vgl. LG Trier Beschluss vom 14.09.2017-1 Qs 46/17).

Bei dem Geschwindigkeitsmessverfahren mittels des Messgeräts M5 RAD2 handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren, bei dem im Wege antizipierten Sachverständigengutachtens grundsätzliche Zuverlässigkeit der Messung festgestellt wurde.

Die Richtigkeitsvermutung kann der Betroffene eines Bußgeldverfahrens nur angreifen, wenn er konkrete Anhaltspunkte für einen Fehler im Rahmen der Messung vorträgt. Es wird ihm also eine Beibringungs- bzw. Darlegungslast auferlegt. Diese Punkte vorzutragen, also die Ausübung rechtlichen Gehörs wird ihm jedoch unmöglich gemacht, wenn die Messdaten als die Grundlage der Messung nicht für eine sachverständige Untersuchung zur Verfügung gestellt werden. Für den Betroffenen bzw. für seinen Verteidiger ist es nur dann möglich der Darlegungslast nachzukommen und das Messergebnis in Zweifel zu ziehen, wenn er die vom jeweiligen Messgerät erzeugten Digitaldaten als Grundlage jeder Messung technisch auswerten lassen kann. Als Konsequenz hieraus und im Hinblick auf ein faires Verfahren hat die Verwaltungsbehörde daher dem Betroffenen bzw. soweit noch nicht geschehen auch das Amtsgericht Zugang zu Informationen zu gewähren, die zu seiner Verteidigung von Bedeutung sein können. Dies folgt aus dem Recht auf Akteneinsicht (§ 46 Abs. 1 OWiG i.V. m. § 147 StPO) in Verbindung mit dem Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 i.V. m. Art. 2 Abs. 1 GG) (vgl. zu den vorgenannten Ausführungen Beschluss des Verfassungsgerichtshofs des Saarlandes vom 27.04.2018 (Az.: LV 1/

Der Grundsatz der Verfahrensfairness und des hieraus folgenden Gebotes der Waffengleichheit erfordert mithin, dass sowohl die Verfolgungsbehörde sowie auch die Verteidigung in gleicher Weise Teilnahme-, Informations- und Äußerungsrechte wahrnehmen kann. An der dadurch garantierten „Parität des Wissen“ fehlt es jedoch, wenn die Bußgeldbehörde, nicht aber der Betroffene Zugang zu den für die Beurteilung des Messwertes relevanten Unterlagen hat (vgl. LG Trier, a.a.O.).

Vorliegend hat die Stadt ... (Schreiben vom 01.02.2018) folgende Daten mitgeteilt. Eichschein, Rohdaten des Falles sowie die Start-Ende Kalibrierfotos, Lehrgangsbescheinigungen des Messverantwortlichen sowie des Auswerters, Auswerterprotokoll, die besagte Messung wurde farblich gekennzeichnet, Beschilderungsplan der Messanlage „... Straße“, Messprotokoll, Screenshot der Signaturprüfung des Falles. Mit gleichem Schreiben wird darauf hingewiesen, dass es keine gesetzliche Vorschrift gebe, die die Erstellung einer Lebensakte vorsehe. Die Wartung des Geräts erfolge jeweils mit der Eichung. Weiterhin könne die gesamte Messreihe aus Datenschutzgründen, nur auf richterlicher Anordnung eingesehen werden.

Hierzu ist anzumerken, dass es grundsätzlich keine gesetzliche Verpflichtung gibt, eine sogenannte Lebensakte für das zum Einsatz gekommene Messgerät zu führen. Gibt es keine Lebensakte, kann sie selbstverständlich auch nicht eingesehen werden. Die Verwaltungsbehörde hat jedoch Nachweise über erfolgte Wartungen, Reparaturen und sonstige Eingriffe am Messgerät aufzubewahren. Siehe hierzu auch das Schreiben des Hessischen Ministerium des Innern und für Sport vom März 2018 (Bl. 27 d.A.). Die Verwaltungsbehörde hat daher sicherzustellen, dass Nachweise der erfolgten Wartungen, Reparaturen oder sonstige Eingriffe am Messgerät einschließlich solcher durch elektronisch vorgenommene Maßnahmen aufbewahrt werden.

Werden dem Betroffenen solche Unterlagen nicht zugänglich gemacht, hat er keine Möglichkeit, konkrete Anhaltspunkte für eine der Gültigkeit der Eichung entgegenstehende Reparatur oder einen sonstigen Eingriff in das Messgerät aufzufinden.

Der Betroffene hat vorliegend über seinen Verteidiger ausreichend detailliert und tatsachenfundiert Vortrag hierzu gehalten, warum es zur effektiven Verteidigung erforderlich ist, Einsicht in die komplette Messreihe zu nehmen und nicht lediglich nur die konkrete Falldatei. Darüber hinaus kann nicht verlangt werden, dass bereits vor Einsicht in die Messserie konkrete Mängel vorgetragen werden, da sich konkrete Fehlerquellen erst aus einem Vergleich der eigenen Falldatei mit den anderen im Messzeitraum durchgeführten Messungen ergeben können. Zudem können gegebenenfalls erst anhand der weiteren Falldaten der Messreihe Fehler aufgedeckt werden, die alle Messungen der Messserie anhaften, aber aus der konkreten Messung beim Betroffenen nicht ersichtlich sind. Ferner besteht die Möglichkeit durch Aufzeichnung mehrerer Fehlerquellen bei anderen Messungen die aus dem standardisierten Verfahren folgende Vermutungen korrekter Messungen der gesamten Messserie zu erschüttern (vgl. LG Trier a.a.O. m.w.N.).

Dem Verteidiger sind daher die digitalen Falldatensätze inklusive unverschlüsselter Rohmessdaten der Messserie auf einem von ihm bereit gestellten Speichermedium zur Verfügung zu stellen.

Datenschutzrechtliche Bedenken bestehen insoweit nicht. Zwar sind bei Zurverfügungstellung der gesamten Messreihe auch die Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer betroffen. Dieser Eingriff ist jedoch hinzunehmen. Der Anspruch auf ein faires Verfahren ist insoweit höherrangig, zumal es sich um einen relativ geringfügigen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte Dritter handelt. Mit der Zurverfügungstellung der gesamten Messserie werden zwar Foto und Kennzeichen übermittelt, nicht aber die Fahrer, oder Halteranschrift. Zudem besteht bei der Übermittlung an den Verteidiger als Organ der Rechtspflege grundsätzlich auch keine Gefahr der Weitergabe.

Darüber hinaus hat der Betroffene Anspruch auf Zurverfügungstellung der Wartungs- und Instandsetzungsnachweise des Messgeräts seit der letzten Eichung. Demgegenüber besteht kein Einsichtsrecht in Wartungs- und Instandsetzungsnachweise seit der ersten Inbetriebnahme. Die Verwaltungsbehörde ist nicht verpflichtet, sämtliche seit der ersten Inbetriebnahme angefallenen Wartung- und Instandsetzungsarbeiten durch Nachweise zu dokumentieren und zu belegen. Eine Aufbewahrungspflicht für Nachweise erfolgter Wartungen, Reparaturen und sonstiger Eingriffe am Messgerät ergibt sich, aus § 31 Abs. 3 Nr. 4 MessEG lediglich für zwischen den jeweiligen Eichungen durchgeführten Wartungen, Reparaturen und sonstigen Eingriffen. Der Betroffene hat jedoch zusätzlich Anspruch auf Übermittlung des aktuellen Eichscheins sowie der früheren Eichscheine seit der ersten Inbetriebnahme, da sich aus der Häufigkeit der Eichungen möglicherweise Rückschlüsse auf die Zuverlässigkeit des Geräts ergeben können.

Auch die Statistikdatei zur Messserie ist dem Betroffenen zur Verfügung zu stellen. Diese Dateien liefern Rückschlüsse zur Qualität der Ausrichtung des Sensors und einhergehend zur Annulierungsrate des konkreten Messeinsatzes. Gleichzeitig werden alle Messungen des Messeinsatzes in verschiedenen Geschwindigkeitsbereichen erfasst und die gültige Messung angezeigt. Der wesentliche Anteil besteht darin festzustellen, ob tatsächlich alle Messfotos zur Auswertung vorgelegen haben oder zwischenzeitlich einzelne Messfotos gelöscht wurden. Nur wenn alle Messdateien der kompletten Messserie zur Auswertung vorliegen, kann die Messbeständigkeit des Messgeräts bzw. der Messanlage und damit die Gültigkeit der Eichung nachgewiesen werden. Bereits hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass die Statistikdatei einhergehend mit der kompletten Messserie überprüft werden muss, damit eine klare Aussage zur Messbeständigkeit oder zu Defekten eines Messgeräts bzw. einer Messanlage getroffen werden kann.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO analog, § 46 Abs. 1 OWiG.

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